W&F 2011/4

Der Kampf um soziale Rechte und Demokratie

von Fabian Virchow

Ob »thawra« (Revolution), »intifada« (Aufstand), »nahda« (Renaissance) oder »sahwa« (Erwachen) – kein einzelner Begriff, der in den vergangenen Monaten im Zusammenhang mit den von Tunesien ausgehenden Massenprotesten verwendet wurde, vermag die disparate und komplexe Entwicklung der Ereignisse im Bogen zwischen Marokko und Bahrain, zwischen Syrien und dem Jemen zu beschreiben. Eine Dimension eint jedoch die Protestierenden und Aufständischen: die Forderung nach Demokratie und einem Ende von Korruption und brutaler Behandlung durch die arabischen Autokraten. Für diese Ziele setzen viele noch immer ihr Leben aufs Spiel – und das will so gar nicht zu der »im Westen« lange gepflegten Legende passen, dass es in den arabischen Ländern kein Interesse an demokratischen Verhältnissen gäbe.

Die jeweilige Situation in den arabischen Gesellschaften ist hinsichtlich der Ausgangsbedingungen, der Erfahrungen von Kämpfen um soziale und demokratische Rechte und der den Herrschenden aus der Bevölkerung entgegengebrachten Legitimität ebenso verschieden wie die Reaktionen der Regime, die mal im Rückzug der führenden Akteure bestand (Tunesien, Ägypten), sich in gewaltsamer Unterdrückung ausdrückte bzw. ausdrückt (Syrien, Libyen, Bahrain) oder in begrenzter institutioneller Transformation erschöpft (Jordanien, Marokko, Oman).

Die Proteste wurden von Millionen Araber_innen getragen, die sich um ihre Menschenrechte und ihre Rechte als Staatsbürger_innen betrogen sehen. Entsprechende Hoffnungen werden rasch verfliegen, wenn nicht die weit verbreitete Armut und Arbeitslosigkeit abgebaut werden kann und damit auch eine soziale Perspektive eröffnet wird. Hier werden in Zukunft Gruppen aus der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung, die in den vergangenen zwanzig Jahren vom Westen weitgehend unbeachtet gekämpft hatten, eine wichtige Rolle einnehmen.

In Ägypten zeigt sich inzwischen der Versuch des aus Saudi-Arabien unterstützten Militärs, die Unzufriedenen von weiteren Protesten abzuhalten. Die Denunziation kritischer Journalist_innen und Aktivist_innen durch militärtreue Medien und ihre Verfolgung durch die Militärgerichtsbarkeit, der Einsatz von Provokateuren bei Demonstrationen, die Einschränkung des Streikrechts und das offensive Auftreten der Salafisten sind einige Entwicklungen, die das Klima vor den Wahlen prägen. Bei letzteren geht es nicht nur um Parlamentssitze; die Wahlsieger werden maßgeblichen Einfluss auf die Ausgestaltung der zukünftigen ägyptischen Verfassung haben und so manche Spielräume für politisches und gewerkschaftliches Handeln bestimmen.

Eine Herausforderung besteht zudem in der Möglichkeit der Integration islamistischer Akteure in den demokratischen Prozess. Diese streben nach anfänglicher Zurückhaltung danach, in der Öffentlichkeit Präsenz zu zeigen, auch wenn sie – wie die Muslimbrüder in Ägypten – mit internen Konflikten zu kämpfen haben. Ob sich, wie der syrische Philosoph Sadiq al Azm mutmaßt, der „geschäftsfähige Islam“ durchsetzen wird, der zwar Lippenbekenntnisse zur Scharia abgäbe, aber kein Interesse daran habe, das Kriegsrecht des Militärs durch das der Islamisten zu ersetzen, wird abzuwarten sein. Beobachter_innen aus dem Westen sind in jedem Fall gut beraten, im Blick zu behalten, dass es im Islam so viele unterschiedliche Strömungen wie im Christentum oder im Judentum gibt.

Der Fortgang der »Arabellion« im Sinne der Stabilisierung oder gar Ausweitung demokratischer Spielräume und der Verbesserung der sozialen Situation der Bevölkerungsmehrheit ist keineswegs gesichert. Starke Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen werden benötigt, um entsprechende Interessen artikulieren und vertreten zu können. Erfreulicherweise können sie sich am Ende dieses ereignisreichen Jahres auf die Erfahrung kollektiver Handlungsmächtigkeit, die sich bereits heute tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat, beziehen.

Ihr Fabian Virchow

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2011/4 »Arabellion«, Seite 2