Der Komplexität gerecht werden
Repliken auf das Dossier 96
Im Februar erschien das Dossier »Quo vadis, Friedensforschung?« als Beilage zu W&F 1/2023. Das Dossier stieß auf viel Interesse, aber auch auf Widerstand. Vor allem der Beitrag von Werner Ruf (S. 3-6) hat zu Irritationen geführt. Mehrere Forscher*innen traten an W&F mit Kritik heran – einige formulierten einen direkten Widerspruch. Die Redaktion von W&F begrüßt die Debattenfreudigkeit der Leser*innen und möchte dazu ermuntern, auch in Zukunft direkte Antworten und Debattenbeiträge einzureichen. In dieser Ausgabe kommen nun Thomas Held und Ulrich Schneckener sowie Christoph Weller mit ihrer Kritik zu Wort.
Ein Zerrbild der DSF
von Thomas Held und Ulrich Schneckener
Der Beitrag von Werner Ruf »Die Friedensforschung und der Markt« enthält auf Seite 5 einen Abschnitt, der sich mit der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF) als Einrichtung der Forschungsförderung befasst. Hierin stellt der Autor eine Reihe von nicht sachgemäßen Behauptungen über die Stiftung auf, die in dieser Replik klargestellt werden.
Werner Ruf leitet den Abschnitt mit der Feststellung ein, dass die DSF „beim Bundesministerium für Bildung und Forschung angesiedelt“ sei. Er unterstellt damit eine unmittelbare Abhängigkeit der Stiftung vom Ministerium. Richtig ist, dass der Bund die DSF im Oktober 2000 als Stiftung bürgerlichen Rechts gründete. Das Stiftungskapital wurde über den Haushalt des BMBF eingezahlt. Die Rechtsform sichert der Stiftung einen unabhängigen Status, d. h. sie trifft ihre Entscheidungen unter Wahrung der wissenschaftlichen Autonomie. Dass die Stifterin im Aufsichtsgremium, dem Stiftungsrat, vertreten ist, steht dazu nicht im Widerspruch.
Darüber hinaus suggeriert Werner Ruf, dass der Vorstand der DSF als eine Art Exekutivorgan des Stiftungsrats agiert („Er führt die Geschäfte der Stiftung gemäß den Beschlüssen des Stiftungsrats“ (…)). Er verkennt damit grundlegend die satzungsgemäße Kompetenzverteilung zwischen den beiden Stiftungsorganen. Hiernach führt der Vorstand die operativen Geschäfte der Stiftung eigenverantwortlich, darunter fallen auch sämtliche Entscheidungen zur Forschungsförderung. Da der Vorstand sich nahezu ausschließlich aus Wissenschaftler:innen zusammensetzt – Ausnahme ist ein Vertreter/eine Vertreterin aus einem wissenschaftsnahen Praxisfeld – , wird die wissenschaftliche Autonomie der Stiftung besonders deutlich unterstrichen. Der Stiftungsrat hingegen, der mehrheitlich mit Vertreter:innen der Stifterin, d.h. aus Bundesregierung und Parlament besetzt ist, bildet das Aufsichtsorgan, das die finanziellen und strukturellen Rahmenbedingungen der Stiftungsarbeit festlegt.1 Der Wissenschaftsrat hat in seiner Evaluation vom Juli 2019 den autonomen Status der DSF als Einrichtung der Forschungsförderung als hohes Gut gewürdigt, weshalb die Stiftung dauerhaft auf eine solide finanzielle Basis gestellt werden müsse (vgl. Wissenschaftsrat 2019, III.5.b, S. 41f.).
Völlige Unkenntnis der Förderpraxis der DSF zeigt sich in der – nicht näher belegten – Behauptung Werner Rufs, dass die geförderten Projekte „in der große(n) Mehrzahl mehr oder weniger direkt an den praktisch-politischen Prioritäten der Bundesrepublik orientiert“ seien. Als weiteres Beispiel hierfür wird die neue thematische Förderlinie der DSF »Russlands Krieg gegen die Ukraine« angeführt. Der Vorwurf gipfelt in der in mehrfacher Hinsicht abwegigen These, dass „(d)ie Struktur der DSF, Zusammensetzung ihrer Entscheidungsgremien, aber auch das Vorwissen der Antragsteller*innen um die Strukturen […] diese Schlagseite“ erklärten. Der Staat, so schlussfolgert Werner Ruf habe sich damit „ganz klar eine Steuerungsfunktion bei der Auswahl der Projekte gesichert“. Diese Behauptung ist jedoch fern jeglicher Realität: Im Unterschied zu vielen anderen Einrichtungen der Forschungsförderung macht die DSF in zwei der drei Förderbereiche ein Förderangebot, das durch thematische Offenheit gekennzeichnet ist. Anträge auf Projektförderung können zu allen Themenstellungen eingereicht werden, die eine Relevanz für das Forschungsfeld der Friedens- und Konfliktforschung nachweisen. Voraussetzung der Förderung ist eine angemessene Erfüllung der qualitativen wissenschaftlichen Förderkriterien der Stiftung. Das aufwändige Peer-Review-Verfahren bewertete der Wissenschaftsrat als von hoher Qualität (Wissenschaftsrat 2019, V.2, S. 66). Diese Förderpraxis entspricht in keiner Weise dem von Werner Ruf gezeichneten Zerrbild.
Des Weiteren bietet die DSF seit 2017 in Ergänzung zur offenen Förderung eine thematische Förderlinie mit wechselnden Themenschwerpunkten an. Ganz im Sinne des Selbstverständnisses der Stiftung als Impulsgeberin für die Friedens- und Konfliktforschung2 geht es bei diesem Angebot um eine Weiterentwicklung des Forschungsfeldes, insbesondere zur Erschließung neuer Themen, zur Stärkung interdisziplinärer Forschung und zur Zusammenarbeit mit angrenzenden Forschungsfeldern. Dass hierfür Themenfelder ausgewählt werden, die unmittelbare politische und gesellschaftliche Herausforderungen aufgreifen (neue Technologien, Digitalisierung, völkerrechtswidriger Angriffskrieg Russlands), zielt genau auf ein kritisch-reflexives Wissenschaftsverständnis, wie es von Werner Ruf gefordert wird. Die temporäre Förderung dieser Ausschreibungen durch eine Zuwendung des BMBF erfolgte in Reaktion auf die Empfehlung des Wissenschaftsrates, das strategisch wichtige Förderinstrument zu verstetigen. Dies erlaubt in keiner Weise den Umkehrschluss einer direkten oder indirekten staatlichen Steuerung der Fördermaßnahme. Die Auswahl der Schwerpunkte erfolgt in einem autonomen wissenschaftlichen Verfahren und unter Berücksichtigung der Potenziale für die Weiterentwicklung des Forschungsfeldes.
Und zur Friedensforschung gehört zu guter Letzt auch eine Dialogbereitschaft der Wissenschaft mit der Politik und zivilgesellschaftlichen Akteuren, wie sie die DSF, unter anderem durch die Förderung des Friedensgutachtens, unterstützt.
Anmerkungen
1) Die Satzung der DSF bestimmt, dass der Vorsitz bzw. stellvertretende Vorsitz des Stiftungsrates wechselseitig mit einer/einem Vertreter:in aus der Politik oder der Wissenschaft besetzt werden kann (§10(6)). Einen Automatismus, dass der/die Vertreter:in des BMBF den Vorsitz übernimmt, gibt es nicht.
2) Siehe hierzu die Ausführungen im Förderkonzept der Stiftung bundesstiftung-friedensforschung.de/foerderkonzept/
Literatur
Wissenschaftsrat (2019): Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung. Drs. 7827-19, 12.7.2019. URL: wissenschaftsrat.de/download/2019/7827-19.pdf
Dr. Thomas Held ist Geschäftsführer der DSF.
Prof. Dr. Ulrich Schneckener ist Vorsitzender des Vorstands der Stiftung.
„Wo laufen sie denn?“
Widerspruch zu »Die Friedensforschung und der Markt« von Werner Ruf1
von Christoph Weller
Mit dem Loriot-Zitat im Titel dieses Textes soll zunächst die Themenstellung des gesamten Dossier 96 von Wissenschaft und Frieden kritisch kommentiert werden, ehe ich meine Widersprüche zum Beitrag »Die Friedensforschung und der Markt« darlege. Die Formel »Quo vadis?« fragt ja nicht neugierig-interessiert nach dem Weg oder danach, wohin jemand laufen möchte, und macht dann informierte oder interessante Vorschläge. Wer »Quo vadis?« fragt, lädt mit einer rhetorischen Frage dazu ein, bekenntnishafte Statements über den einen, richtigen Weg abzuliefern, der zum Sieg führen soll. Bei Pferderennen (vgl. Loriot 1972) scheint es den zu geben, aber nur für Pferde und gegebenenfalls für Spekulant*innen. Eine Wissenschaft dagegen sollte lieber nicht auf eine eingezäunte Kreisbahn geschickt und zu Prognosen über die Siegerin verführt oder nach Bekenntnissen gefragt werden. Insofern ist meines Erachtens bereits die Frage, die Werner Ruf in seinem Text zu beantworten hatte oder beantworten wollte, falsch gestellt, vollends, wenn es offensichtlich nicht um eine Wegbeschreibung für eine kleine Gruppe (von Pferden), sondern um Anregungen für einen deutlich umfangreicheren, vielfältigeren Kollektivakteur (Friedensforschung) zu gehen scheint.
Dass sich trotz falscher Fragestellung substanzielle Anregungen für die aktuellen Herausforderungen der Friedensforschung im Sinne eines „komplexitätsorientierten Multiperspektivismus“ (Jaberg 2023, S. 9) geben lassen, zeigen etwa die Texte von Mechthild Exo (2023), Jürgen Scheffran (2023) und Sabine Jaberg (2023) im selben Dossier. Dagegen wirkt der Text »Die Friedensforschung und der Markt« von Werner Ruf (2023) primär rückwärtsgewandt, eindimensional und simplifizierend. Das ist deshalb besonders ärgerlich, weil dieser Text nicht nur fast am Anfang dieses Dossiers steht, sondern ein hoch relevantes Thema fokussiert, den Einfluss von Marktstrukturen und -prozessen auf die Wissenschaft und das daraus speziell für die Friedensforschung resultierende Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik. Dieses aber ist nicht, wie Rufs Text vermitteln möchte, auf einen simplifizierenden Gegensatz von emanzipatorischem Anspruch einerseits und Entpolitisierung aufgrund staatlicher Forschungsfinanzierung andererseits reduzierbar (vgl. Weller 2023). Die Dilemmata einer politischen Wissenschaft, etwa bezüglich der von ihr verwendeten Begriffe, der Legitimationsmodi von Wissenschaft oder der Erwartungen an eine praxisorientierte Friedensforschung lassen sich durch einfache Schwarz-Weiß-Bilder nicht auflösen.
Kritische Friedensforschung als Projekt
Auch der Verweis auf die Geschichte der Friedensforschung in der BRD erfordert meines Erachtens eine differenziertere Darstellung: Die AFK „hat sich“ nicht gegründet, um „Friedensforschung als eigenständige wissenschaftliche Disziplin“ zu etablieren, wie in Rufs Text (2023, S. 3) formuliert wird. Geht man von den historischen Dokumenten und Beschreibungen von einzelnen Beteiligten aus, hat 1968 ein sehr heterogener Kreis vornehmlich junger Wissenschaftler*innen das Mittel der Vereinsgründung gewählt, um einen kontinuierlichen Austausch über Friedensforschung zu ermöglichen und kollektiv handlungsfähig zu werden (vgl. u.a. Reusch 1986, S. 26; Hauswedell 1997, S. 53f.; Wasmuht 1998, S. 153-158). Und da ein Verein seine Mitglieder maximal zum Zahlen ihrer Mitgliedsbeiträge verpflichten kann, muss es zumindest als eigenartige Lesart der Geschichte dieses Vereins gelten, wenn in Rufs Text behauptet wird, die AFK sei „in ihren Anfängen mehrheitlich dem Projekt einer ‚Kritischen Friedensforschung‘ verpflichtet“ gewesen. Das hätten zweifellos einige gerne so gehabt, andere Vereinsmitglieder aber nicht, und die zitierte »Wannsee-Erklärung« wurde gerade nicht bei einer AFK-Mitgliederversammlung mehrheitlich beschlossen, sondern bei der Tagung »Zum Stand kritischer Friedensforschung« 1971 in Berlin-Wannsee. Gleichzeitig sollte meines Erachtens der Anspruch der damaligen kritischen Friedensforscher*innen nicht derart desavouiert werden, wenn zur Erläuterung ihres Friedensbegriffs alleine darauf verwiesen wird, er gehe über „Fragen der zwischenstaatlichen Verhältnisse hinaus“ (Ruf 2023, S. 3) und der Friedensbegriff Kritischer Friedensforschung habe „den konservativen Kritiker*innen die von ihnen gern bemühten Argumente [geliefert], hier handle es sich nicht um Friedensforschung, sondern um ideologisch motivierten Willen zur Subversion“ (ebd.). Die Wirkungen der wissenschaftlichen Begriffsdebatten gingen weit darüber hinaus (vgl. etwa Senghaas 2004, Weller 2020, Nielebock 2022).
Zurecht erinnert Werner Ruf an die gesellschaftskritischen Ansätze der frühen Friedensforschung, die sich zweifellos auch als Kapitalismuskritik verstanden, doch welcher Markt („Die Friedensforschung und der Markt“) wurde damit eigentlich bedient? In den 1980er Jahren war das – auch das erwähnt Rufs Text kurz – zweifellos die Friedensbewegung, die für ihren Erfolg auf alternative Expertise zum sicherheitspolitischen Diskurs seitens der bundesrepublikanischen Regierungen unter Helmut Schmidt und Helmut Kohl angewiesen war. Doch 1990 hatte sich das weitgehend erledigt und fortan war die Expertise der Friedensforschung an ganz unterschiedlichen Stellen politischer und wissenschaftlicher Debatten und Prozesse gefragt, nicht nur, aber auch bei den »Herrschenden«. Und für diese vielfältigen Entwicklungen der letzten dreißig Jahre bietet Rufs Text den Leser*innen dann tatsächlich ein einziges Narrativ – „‚Der Markt‘ […] bestimmt Art und Inhalt der wissenschaftlichen Produktion“ der Friedensforschung (Ruf 2023, S. 4) – für ein methodologisch, disziplinär, theoretisch, politisch und methodisch höchst heterogenes und sich zugleich über Zeit erheblich veränderndes Forschungsfeld (vgl. Weller 2023) an. Dieses eindimensionale Erklärungsmuster wäre noch nicht mal tragfähig, würde man einer Lesart des Rufschen Texts folgen, die Bezeichnung »Friedensforschung« dürfte nur für gesellschafts- und staatskritische Analysen struktureller Konfliktursachen und deren politische Bekämpfung „als Parteigängerin der Unterdrückten“ (Ruf 2023, S. 4) in Anspruch genommen werden.
Chancen, Risiken und Mühen der Theorie
Es ist in meinem Verständnis durchaus produktiv und anregend, eine alternative Theorie auf einen empirischen Gegenstand anzuwenden, um neue und ein vorherrschendes Bild ergänzende und vielleicht auch irritierende Einsichten zu gewinnen. Aber es entspricht dann auch wissenschaftlicher Redlichkeit, diesen Modus der Theorieverwendung offenzulegen und diese ergänzenden Einsichten nicht für die ganze Geschichte auszugeben. Wissenschaftliche Forschung daraufhin zu befragen, inwieweit ihre Finanzierung und deren Zustandekommen Einflüsse hat auf die bearbeiteten Fragestellungen, die gewählten theoretischen und methodischen Ansätze, die publizierten Ergebnisse etc., ist eine wichtige selbstkritische Perspektive, nicht nur für die Friedens- und Konfliktforschung. Aber von wissenschaftlicher Selbstkritik muss mehr erwartet werden als eine plakative Dichotomisierung und die bewertende Unterscheidung von Weiß und Schwarz, etwa von „kritisch hinterfragend“ vs. „systemkonform optimierend“ (Ruf 2023, S. 6). Aus meiner Sicht ist sogar die Erwartung berechtigt, dass sich die Friedens- und Konfliktforschung durch eine besondere Sensibilität für die Gefahren von Schwarz-Weiß-Bildern auszeichnet (vgl. Weller 2017, 2022). Dieses lässt der Text von Werner Ruf schmerzlich vermissen, und durch willkürlich gewählte Zitate (Ruf 2023, S. 4), welche das Vorurteilsmuster bestätigen sollen, wird’s nicht besser.
Der Rufschen Auffassung, dass es zu den Ansprüchen der Friedensforschung gehören könnte, „eine gesellschaftskritische Analyse der strukturellen Konfliktursachen und ihrer Bekämpfung“ (ebd.) zu liefern, muss man nicht widersprechen, um gegen seine Argumentation kritisch einzuwenden, dass es schlichtweg ungenügend ist, von anderen gesellschaftskritische Analysen einzufordern, ohne sie selbst auch nur ansatzweise zu liefern. Harald Müllers Kritik der Bundesregierung 2011 als „puren Bellizismus“ (ebd.) abzukanzeln, ist platte politische Polemik, aber keine Friedensforschung, und noch weniger auch nur im Ansatz eine Analyse struktureller Konfliktursachen.
Zudem darf von einem Text, der eine kritische Markt-Analyse verspricht, dann auch erwartet werden, dass diese Untersuchung wenigstens gesellschaftskritisch-differenziert vorzugehen versucht. Den Staat im Kontext einer kapitalistisch geprägten Mediendemokratie zu einem uniformen Akteur mit erkennbar einheitlichen Intentionen zu stilisieren, hat mit „Ansätze[n] der politischen Ökonomie“ ganz wenig zu tun. Wer schreibt, dass „die Initiierung von Forschungsvorhaben, die Vergabe von Projekten oder auch die Bewilligung von Studiengängen […] fest in staatlicher Hand“ (ebd., S. 5) seien, will suggerieren, dass mit der Bereitstellung von Steuermitteln für die Friedens- und Konfliktforschung (z.B. auch an Universitäten) unmittelbar Einfluss auf die Inhalte und Ergebnisse von Forschung und Lehre sowie die Erkenntnisinteressen der Forschenden genommen würde. Das ist Quatsch, und wer die ressourcenintensiven Beratungs- und Begutachtungsverfahren für Förderprogramme, Forschungsprojekte, Beratungsmandate, Publikationen, Stipendien, Studiengangsinhalte etc. kennt und zur Erbringung dieser unverzichtbaren Kollektivgüter eines Forschungsfeldes beiträgt, muss sich doch über das pauschale Urteil, diese Wissenschaft sei über ihren Finanzierungsmodus „in den Dienst der Herrschenden“ (ebd., S. 4) gestellt, sehr wundern.
Ideologieverdacht?
Doch diese Message des Rufschen Textes ist das eigentliche Ärgernis. Mit seinen pauschalen und vielfach falschen Behauptungen über Berufungsverfahren für Professuren, die Finanzierung von Instituten, die Zielsetzungen von Drittmittelprojekten, die Vielfalt von Förderprogrammen, die Erfolgskriterien von Forschungsprojekten, die Politisierung von Studierenden, die Beziehungen zur Friedensbewegung und irgendwelche hierarchisch durchgesetzten inhaltlichen Vorgaben für Forschung, Lehre und Wissenstransfer presst der Autor die lebendige Vielfalt eines heterogenen und mit vielfältigen Konfliktlinien durchzogenen Forschungsfeldes in das dichotome Muster seiner Vorannahmen bzw. Vorurteile. Die daraus resultierende Darstellung steht wohl unter größerem Ideologieverdacht als der von Werner Ruf beobachtete „Verzicht auf die wahrscheinlich fruchtbareren Ansätze der politischen Ökonomie“ (ebd., S. 5). Man hätte sich gewünscht, der Autor wäre bei seiner Betrachtung der aktuellen Friedensforschung den eigenen kritischen Ansprüchen wenigstens im Ansatz gefolgt.
Wollte man den Einfluss von Marktstrukturen und -prozessen auf die Friedens- und Konfliktforschung und die damit verbundenen Konflikte um ihre Finanzierung wirklich verstehen, anstatt mit einem pauschalen Rundumschlag den Vorwurf in die Welt zu posaunen, „die herrschende Friedensforschung [agiere] systemkonform optimierend“ (ebd., S. 5f.) und habe sich in einen Teufelskreis begeben, „der nicht nur die Wissenschaft in den Dienst der Herrschenden stellt, sondern auch das Bewusstsein der beteiligten Wissenschaftler*innen prägt“ (ebd., S. 4), hätte man durchaus hilfreiche Anleihen am Rufschen Ansatz nehmen können:
„Um Konflikte zu verstehen und deshalb umfassende und grundlegende Lösungen entwickeln zu können, müssen die Gesamtheit der vorausgegangenen sozio-ökonomischen Prozesse erfasst und die Interessen der direkt und indirekt beteiligten Parteien erkannt und gewichtet werden“ (ebd., S. 5). Mit Umsetzung dieser Herangehensweise hätte der Autor vielleicht auch eine Lösung für die ungesicherte Weiterfinanzierung der AFK-Geschäftsstelle entwickeln können, wäre aber zumindest in intensiven Kontakt mit der aktuellen Friedens- und Konfliktforschung gekommen.
Wer sich auf der Rennbahn nicht auskennt und wissen möchte, wohin sie laufen (»quo vadis?«), kann ja mal jemanden fragen, der sich als Experte geriert, oder ein etabliertes „Analyseinstrument“ nutzen (vgl. Loriot 1972). Damit ist man noch nicht davor gefeit, das Analyseinstrument (Opernglas bzw. Theorieansatz) möglicherweise falsch herum zu benutzen oder in die falsche Richtung „zu glotzen“ (ebd.), aber man sieht wenigstens nicht nur das, was entsprechend der gewählten Theorie der Fall sein müsste („ach ist der Rasen schön grün!“; ebd.), sondern gewinnt Kontakt zu der Wirklichkeit, über die man einen Text schreiben möchte – vorausgesetzt, dass dieser Text mehr sein soll als ein bekenntnishaftes Statement über den einen richtigen Weg zum Sieg. Darauf aber lässt sich in der Wissenschaft ohne Weiteres verzichten.
Anmerkung
1) Für ihre hilfreichen Anmerkungen zu einer ersten Fassung dieses Textes danke ich Michaela Zöhrer, Nicki Weber, Christina Pauls und Kenneth Dakat.
Literatur
Exo, M. (2023): Impulse für ein Neudenken von Frieden. Jenseits von Liberalismus, Staat und Status Quo. In: W&F – Dossier 96, S. 17-20.
Hauswedell, C. (1997): Friedenswissenschaften im Kalten Krieg. Friedensforschung und friedenswissenschaftliche Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren. Baden-Baden: Nomos.
Jaberg, S. (2023): Friedensforschung vom Frieden her denken – auch in Kriegszeiten. In: W&F – Dossier 96, S. 6-9.
Loriot (1972): Auf der Rennbahn, Video. URL: youtube.com/watch?v=RqtJSPcqHn8
Nielebock, Th. (2022): Wissen, wovon wir reden – zum Begriff des Friedens. In: Gulowski, R.; Zöhrer, M. (Hrsg.): Forschungen für Frieden. Perspektiven sozialwissenschaftlicher Konfliktforschung. Baden-Baden: Nomos, S. 25-39.
Reusch, J. (1986): Friedensforschung in der Bundesrepublik. Entwicklung, Positionen, Perspektiven (Informationsbericht Nr. 40). Frankfurt a.M.: Institut für Marxistische Studien und Forschungen.
Ruf, W. (2023): Die Friedensforschung und der Markt. In: W&F – Dossier 96, S. 3-6.
Scheffran, J. (2023): Vom andauernden Krieg zum nachhaltigen Frieden. In: W&F – Dossier 96, S. 21-24.
Senghaas, D. (2004): Zum irdischen Frieden: Erkenntnisse und Vermutungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Wasmuht, U. C. (1998): Geschichte der deutschen Friedensforschung. Entwicklung – Selbstverständnis – Politischer Kontext. Münster: agenda Verlag.
Weller, Ch. (2017): Friedensforschung als reflexive Wissenschaft: Lothar Brock zum Geburtstag. In: Sicherheit und Frieden (S+F) 35(4), S. 174-178.
Weller, Ch. (2020): Frieden ist keine Lösung: ein bescheidener Friedensbegriff für eine praxisorientierte Konfliktforschung. In: W&F 2/2020, S. 15-18.
Weller, Ch (2022): Hindernisse der Verständigung – Schwarz-Weiß-Bilder des Kriegs in der Ukraine. In: Werkner, I.-J.; Mayer, L.; Krüger, M. (Hrsg.): Wege aus dem Krieg in der Ukraine: Szenarien – Chancen – Risiken. Heidelberg: heiBOOKS, S. 103-115.
Weller, Ch. (2023): A reconstruction of the development of German peace and conflict studies from a social science perspective. Paper für die »European Social Science History Conference 2023«, Session »Historical Peace Research as Social Science History: Theories and Categories, Peace Movements and International Diplomacy«, in Göteborg, Schweden, 12.-15. April 2023.
Christoph Weller ist seit über 30 Jahren in der Friedensforschung tätig, seit 2008 als Hochschullehrer an der Universität Augsburg. Er forscht auch zur Entwicklung der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland und hat u.a. bei Werner Ruf studiert.