Der Krieg ist ein »Kulturprodukt«
Erklärung von Sevilla zur Gewaltfrage
von Friedens- und KonfliktforscherInnen
Immer wieder erscheinen in deutschen Magazinen Beiträge, in denen die Spekulationen von Philosophen und von Begründern moderner wissenschaftlicher Disziplinen zum Ursprung der menschlichen Aggressivität und Gewalttätigkeit aufgewärmt werden – als wäre diesbezüglich in den involvierten Disziplinen bisher keinerlei Fortschritt zu verzeichnen. So entsteht bestenfalls der Eindruck eines Unentschieden zwischen »Pesssimisten« und »Optimisten«, zwischen »Anlage-« und »Umwelttheoretikern«, oder wie immer man die grundlegenden Ansätze kennzeichnen mag; wahrscheinlich aber liefert man damit autoritären Ordnungsvorstellungen und -bestrebungen eine quasi-biologische Rechtfertigung. Vor diesem Hintergrund erscheint es angezeigt, die am 16. Mai 1986 von einer internationalen Kommission von zwanzig Wissenschaftlern im Rahmen eines Kolloquiums an der Universität von Sevilla als Beitrag zum Internationalen Jahr des Friedens 1986 erarbeitete Erklärung zur Gewaltfrage in Erinnerung zu bringen. Diese »Erklärung von Sevilla« richtet sich ausdrücklich gegen den weitverbreiteten Glauben, der Mensch sei infolge angeborener biologischer Faktoren zu Gewalt und Krieg prädisponiert. Sie wurde im November 1989 von der 25. Konferenz der UNESCO zwecks weltweiter Verbreitung und als Grundlage eigener Expertentagungen übernommen. Durch Dokumentation dieser wichtigen Erklärung in dem vorliegenden Heft von W&F wollen wir zu ihrer Verbreitung beitragen. Die Übersetzung besorgte A. Fuchs auf der Grundlage des als Anhang zu dem von Silverberg & Gray (1992) herausgegebenen Sammelband abgedruckten englischen Textes1 und unter Berücksichtigung der von der deutschen UNESCO-Kommission freundlicherweise zur Verfügung gestellten Übersetzung.2 Die Zwischenüberschriften und die Numerierung der Hauptthesen i.V.m. der Phrase »Aus der Sicht der . . .« wurden redaktionell eingefügt.
In der Überzeugung, daß es unsere Pflicht ist, uns aus der Sicht unserer unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit der gefährlichsten und zerstörerischsten Aktivität des Menschen zu befassen, mit Krieg und Gewalt; im Bewußtsein, daß die Wissenschaft ein Produkt der menschlichen Kultur darstellt und deswegen weder letztgültige noch umfassende Wahrheiten zu bieten hat; und in dankbarer Anerkennung der Unterstützung seitens der Stadt Sevilla und der spanischen UNESCO-Kommission, haben wir, die unterzeichneten Wissenschaftler aus aller Welt, die sich aus der Perspektive ihre jeweiligen Disziplin mit dem Thema Krieg und Gewalt befassen, die nachstehende »Erklärung zur Gewaltfrage« formuliert.
Darin stellen wir einige vermeintliche Ergebnisse biologischer Forschung in Frage, die dazu verwendet werden – zum Teil aus unseren eigenen Reihen –, Krieg und Gewalt zu rechtfertigen. Diese vermeintlichen Forschungsergebnisse haben zu einer pessimistischen Grundstimmung in der öffentlichen Meinung beigesteuert. Daher glauben wir, daß eine öffentliche und gut begründete Zurückweisung der Fehlinterpretation wissenschaftlicher Befunde einen wirksamen Beitrag zum Internationalen Jahr des Friedens 1986 und zu künftigen Friedensbemühungen leisten kann.
Der Mißbrauch wissenschaftlicher Theorien und Befunde zur Rechtfertigung von Gewalt und Krieg ist nicht neu, sondern begleitet die gesamte Geschichte der modernen Wissenschaften. So wurde beispielsweise die Evolutionstheorie dazu benutzt, nicht nur den Krieg zu rechtfertigen, sondern auch Völkermord, Kolonialismus und die Unterdrückung der Schwächeren.
Wir legen unsere Position in fünf Thesen dar. Wir sind uns dessen bewußt, daß noch weit mehr zu Gewalt und Krieg vom Standpunkt unserer Disziplinen zu sagen wäre; wir beschränken uns hier jedoch auf diese Kernaussagen als besonders wichtigen ersten Schritt.
1. Ethologie
Aus der Sicht der Ethologie (Verhaltensforschung) ist die Behauptung wissenschaftlich unhaltbar, der Mensch habe von seinen tierischen Vorfahren eine Tendenz Krieg zu führen geerbt. Zwar ist Kämpfen nahezu im gesamten Tierreich verbreitet; doch nur über wenige Fälle destruktiver, innerartlicher Kämpfe zwischen organisierten Gruppen in ihrer natürlichen Umwelt lebender Arten findet man Berichte, und in keinem Fall haben wir es mit Waffengebrauch zu tun. Das raubtiertypische Sich-Ernähren von anderen Arten hat nichts zu tun mit innerartlicher Gewalt. Kriegführen ist ein spezifisch menschliches Phänomen und kommt bei anderen Lebewesen nicht vor.
Die Tatsache, daß sich die Kriegführung im Laufe der Geschichte radikal verändert hat, zeigt, daß sie ein Produkt der kulturellen Entwicklung ist. Biologisch ist Krieg vor allem in unserem Sprachvermögen verankert; Sprache macht es möglich, soziale Gruppen zu koordinieren, Technologien weiterzugeben und Werkzeuge zu verwenden. Aus biologischer Sicht ist Krieg möglich, aber nicht unvermeidbar wie auch die Unterschiede in der Art und der Häufigkeit des Kriegführens in verschiedenen Epochen und Regionen zeigen. Es gibt sowohl Kulturen, in denen über Jahrhunderte kein Krieg geführt wurde, als auch Kulturen, die zu bestimmten Zeiten regelmäßig Krieg geführt haben, zu anderen wiederum nicht.
2. Biogenetik
Aus der Sicht der Biogenetik ist die Behauptung wissenschaftlich unhaltbar, Kriegführen oder andere gewaltförmige Verhaltensweisen des Menschen seien genetisch vorprogrammiert. Gene spielen auf allen Funktionsebenen unseres Nervensystems eine Rolle; sie stellen aber ein Entwicklungspotential dar, das nur in Verbindung mit der ökologischen und sozialen Umwelt aktualisiert werden kann. Individuen variieren zwar anlagebedingt bezüglich ihrer Beeinflußbarkeit durch Erfahrung; letztlich jedoch bestimmt die Wechselwirkung zwischen ihrer genetischen Ausstattung und den Umständen, unter denen sie aufwachsen, ihre Persönlichkeit. Von seltenen krankhaften Fällen abgesehen, prädisponieren die Gene kein Idividuum zur zwanghaften Ausübung von Gewalt; das gleiche gilt für das Gegenteil. Die Gene sind an der Entwicklung unserer Verhaltensmöglichkeiten mit beteiligt, bestimmen das Ergebnis aber nicht allein.
3. Evolutionsforschung
Aus der Sicht der Evolutionsforschung ist die Behauptung wissenschaftlich unhaltbar, im Laufe der menschlichen Evolution habe sich durch Selektion die Tendenz zu aggressivem Verhalten stärker durchgesetzt als andere Verhaltenstendenzen. Bei allen hinreichend gut erforschten Arten wird der Status innerhalb einer Gruppe durch die Fähigkeit zur Kooperation und zur Ausübung sozialer Funktionen, die für die Struktur dieser Gruppe von Bedeutung sind, erworben. »Dominanz« beinhaltet Anschluß an andere und soziale Bindungen. Obwohl aggressives Verhalten eine Rolle spielt, sind der Besitz und die Anwendung überlegener physischer Kraft nicht entscheidend. Wo bei Tieren die Selektion aggressiven Verhaltens künstlich gefördert wurde, führte das schnell zur Entwicklung hyper-aggressiver Individuen. Das bedeutet, daß der Selektionsmechanismus unter natürlichen Bedingungen die Aggression nicht besonders begünstigte. Wenn man experimentell entwickelte hyperaggressive Individuen in eine soziale Gruppe einführt, zerstören sie entweder deren Struktur, oder sie werden verjagt. Gewalt ist weder Teil unseres evolutionären Erbes noch in unseren Genen festgelegt.
4. Neurophysiologie
Aus der Sicht der Neurophysiologie ist die Behauptung wissenschaftliche unhaltbar, die Menschen besäßen ein »gewalttätiges Gehirn«. Zwar ist unser neuraler Apparat mit allen Voraussetzungen gewaltförmigen Verhaltens ausgestattet, aber er wird weder durch innere noch durch äußere Reize automatisch dazu aktiviert. Ähnlich wie bei den höheren Primaten und anders als bei den anderen Lebewesen filtern unsere höheren Gehirnprozesse entsprechende Reize, bevor wir auf sie reagieren. Wie wir reagieren, hängt davon ab, wie wir konditioniert und sozialisiert wurden. Nichts von unserer neurophysiologischen Ausstattung zwingt uns zu gewalttätigen Reaktionen.
5. Psychologie
Aus der Sicht der Psychologie ist die Behauptung wissenschaftlich unhaltbar, Krieg werde verursacht durch einen »Instinkt« oder »Trieb« oder irgendein anderes einzelnes Motiv. Die Geschichte der modernen Kriegsführung ist eine Geschichte der Entwicklung vom Übergewicht emotionaler und motivationaler Faktoren, die manche »Instinkte« oder »Triebe« nennen, zum Übergewicht kognitiver Faktoren. Krieg beinhaltet heute die institutionalisierte Nutzung von Persönlichkeitseigenschaften wie Gehorsamsbereitschaft, Suggestibilität oder auch Idealismus; soziale Fertigkeiten wie Kommunikation und Sprache; kognitive Prozesse wie Kosten-Nutzen-Kalkulation, Planung und Informationsverarbeitung. Die Technologie der modernen Kriegsführung verstärkt in besonderer Weise gewaltaffine Persönlichkeitszüge, und zwar sowohl bei der Ausbildung des Kampfpersonals wie bei der Mobilisierung von Unterstützung für den Krieg seitens der Gesamtbevölkerung. Infolgedessen werden solche Züge oft fälschlicherweise als Ursachen statt als Folgen des ganzen Prozesses angesehen.
Schlußfolgerung
Aus all dem schließen wir: Biologisch ges<-2>ehen ist die Menschheit nicht zum Krieg verdammt; sie kann sich aus der Knechtschaft eines auf biologische Argumente gestützten Pessimismus befreien und sich zu Selbstvertrauen und Zuversicht ermächtigen, um die in diesem Internationalen Friedensjahr und in den kommenden Jahren fälligen Veränderungen in Angriff zu nehmen. Zwar müssen diese Umgestaltungsaufgaben primär von Institutionen und von größeren sozialen Einheiten bewältigt werden, ihre Bewältigung hängt aber auch vom Bewußtsein des einzelnen ab, das entscheidend von einer pessimistischen oder einer optim<0>istischen Perspektive geprägt ist.
Wie Kriege in den Köpfen der Menschen entstehen, so entsteht auch der Friede in unseren Köpfen. Ein und dieselbe Spezies, die den Krieg erfunden hat, kann auch den Frieden erfinden. Jeder von uns ist dafür verantwortlich.
Sevilla, 16. Mai 1986
Erstunterzeichner
David Adams, Psychologie, USA – S.A. Barnett, Ethologie, Australien – N.P. Bechtereva, Neurophysiologie, UdSSR – Bonnie Frank Carter, Psychologie, USA – José M. Rodríguez Delgado, Neurophysiologie, Spanien – José Luis Díaz, Ethologie, Mexiko – Andrzej Eliasz, Differentielle Psychologie, Polen – Santiago Genovés, Biologische Anthropologie, Mexico – Benson E. Ginsburg, Verhaltensgenetik, USA – Jo Groebel, Sozialpsychologie, BRD – Samir-Kuma Ghosh, Soziologie, Indien – Robert Hinde, Verhaltensforschung, England – Richard E. Leaky, Physikalische Anthropologie, Kenia – Taha M. Malasi, Psychiatrie, Kuwait – J. Martin Ramírez, Psychobiologie, Spanien – Frederico Mayor Zaragoza, Biochemie, Spanien – Diana L. Mendoza, Ethologie, Spanien – Ashis Nandy, Politische Psychologie, Indien – John Paul Scott, Verhaltensforschung, USA – Riitta Wahlström, Psychologie, Finnland.
Anmerkungen
1 Silverberg, J. & Gray, J.P. (Eds.) (1992): Aggression and peacefulness in humans and other primates (pp. 295-297), Oxford, Oxford University Press. Zurück
2 Von einer unbesehenen Übernahme dieser deutschen Version wurde abgesehen, weil sie den Sinn des Originaltextes vielfach nur ungenau wiedergibt oder entstellt und ihn an einer zentralen Stelle sogar in sein Gegenteil verkehrt. Zurück