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W&F 1989/4

Der Niedergang des »bipolaren Systems« oder: Ein zweiter Blick auf die Geschichte des Kalten Krieges (Teil I)

von Gian Giacomo Migone

Die Geschichtsbücher haben uns gelehrt, die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion seit dem Zweiten Weltkrieg als eine Abfolge von Konflikten zu verstehen.

Natürlich bestreitet niemand, daß es Zeiten der Entspannung gegeben hat, obgleich sowohl die orthodoxe als auch die revisionistische Geschichtsschreibung es für selbstverständlich nehmen, daß Spannung und Konflikte die vorherrschenden Züge dieser Beziehung waren. Abmachungen und Dialoge werden als episodenhaft betrachtet und mit Umsicht untersucht, wenn nicht mit Skepsis. Es ist kein Zufall, daß kein Historiker den Begriff »Kalter Krieg« als globale Beschreibung der letzten vierzig Jahre internationaler Beziehungen ernsthaft in Frage gestellt hat, obwohl immer wieder mal jemand sein Ende verkündet. Einer der ersten Architekten der orthodoxen Schule, Adam Ulam, hat ganz zutreffend bemerkt, daß die revisionistischen Historiker nie das Szenarium des Kalten Krieges revidiert, sondern nur die Rollen der Protagonisten ausgetauscht haben. Die Guten sind zu Bösen geworden und umgekehrt.1 Noch nicht einmal die sogenannten Post-Revisionisten haben die grundsätzlich antagonistische Natur der Beziehung(en) in Frage gestellt, sondern einfach ergänzt, was sie für eine ausgeglichenere Zuweisung der Verantwortlichkeiten für die Ursprünge und die Entwicklung des Kalten Krieges halten. Wenn man sich fragt, warum dieser angeblich grundlegende Antagonismus nie sorgfältig diskutiert, sondern als selbstverständlich hingenommen wurde (und die sowjetische Lehrmeinung weicht nicht ab von diesem Standpunkt), sollte man mitbedenken, daß jede Politik ihre eigene Geschichtsschreibung produziert. Schließlich rechtfertigt die Existenz eines Kalten Krieges eine Nachkriegsregelung, die, wie Richard Falk erinnert hat, aus der Sicht der auf allen Seiten überkommenen politischen Ideologie, »illegitim« ist und bleibt.2

Natürlich läuft auch der Verfasser dieses Kapitels Gefahr, ein Gefangener eines ähnlichen Mechanismus zu bleiben. Die Logik der Blöcke abzulehnen, auf eine friedlichere Koexistenz zu hoffen in einer Welt, die von Nuklearwaffen bedroht wird, sich um eine demokratischere Herangehensweise an internationale Beziehungen zu interessieren, dem Nord-Süd-Verhältnis größere Aufmerksamkeit zu widmen, und sich für einen vereinigten europäischen Kontinent zu engagieren, der frei ist vom Kondominat der Supermächte – alles dies sind Faktoren, die zu einer neuen Geschichtsschreibung »ad usum delphini« führen können. Aber diese Gefahr kann nur jene schrecken, die in historische Objektivität ihren Glauben legen und die Anregungen ablehnen, die eine erneuerte politische Perspektive dem Lesen der Vergangenheit bieten kann.

Konfliktallianz

Tatsächlich habe ich schon bei anderen Gelegenheiten meine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß Abmachungen mindestens genauso wichtig gewesen sind in den Beziehungen der Supermächte wie Konflikte – daß, um genauer zu sein, erstere sich genau komplementär zu letzteren verhalten, dahingehend, daß sie zusammen etwas bilden, was man vorübergehend, bis wir einen besseren Ausdruck finden, eine Konfliktallianz nennen könnte. Wir sollten nicht nach einer Geschichte der Entspannung suchen, in der Dialoge und Verträge einen zentralen Stellenwert einnehmen. Es geht eher darum, zu zeigen, wie es sowohl in jeder Verhandlungs- als auch in jeder Konfliktphase einen Bereich des gegenseitigen Einverständnisses gab, der allgemein als selbstverständlich betrachtet wurde (und daher meistens unausgesprochen blieb), oft auf Kosten dritter Parteien und in jedem Falle von solcher Bedeutung war, daß er die Beziehungen als Ganzes definieren konnte.

Selbstverständlich soll dies alles nicht die Existenz des Antagonismus zwischen den Supermächten verleugnen. Der Kalte Krieg – der zuweilen Gefahr lief, heiß zu werden – kann nicht einfach wie eine gigantische Farce heruntergeschrieben werden oder als machiavellistischer Notbehelf von nie dagewesenen Ausmaßen, inszeniert auf Kosten der unbedeutenderen Schauspieler. Der Antagonismus war und bleibt echt trotz Gorbatschows Reformen und Öffentlichkeitserfolgen –, genauso wie die gemeinsamen Interessen und stillschweigenden Einverständnisse echt sind. Gerade weil ihr Ansatz einseitig war, konnten orthodoxe ebenso wie revisionistische Historiker sowohl jenes Verteidigungssyndrom von paranoiden Ausmaßen erfolgreich erklären, das die Sowjetunion dazu drängte, ihre Macht in Europa und in der Welt auszudehnen, als auch das Streben nach einer globalen Stabilisierung, das auf die expansiven Bestrebungen des Dollar von seiten der USA reagierte.

Diese Tendenz zu Konflikten war weit stärker als jede ideologische Auseinandersetzung, wie heftig sie auch sein mochte. Es ist daher notwendig, die entscheidende Frage zu stellen: warum hat der Antagonismus sich nicht durchgesetzt, oder zumindest nicht die Form eines bewaffneten Konflikts zwischen den Supermächten angenommen? Die konventionelle Antwort ist, daß der Frieden sich nicht trotz, sondern wegen der Nuklearisierung der Weltpolitik, und besonders Kontinentaleuropas, durchgesetzt hat. Beide Seiten haben argumentiert, daß die nukleare Abschreckung notwendig war, weil die andere Seite wahrscheinlich, als Folge irgendeines ideologischen Imperativs, einen frontalen Angriff oder eine Invasion plane, was nur durch eine nukleare Bedrohung abzuwenden sei. Die präventive Anwendung dieses Potentials könne nur gestoppt werden durch die Fähigkeit zum Zweitschlag, welche zur Erhaltung des Friedens absolut erforderlich wäre.

Einer der grundsätzlichen Punkte in meiner Argumentation ist, daß nicht die »Mutually Assured Destruction« den Frieden aufrechterhalten hat, sondern das gemeinsame Interesse der Supermächte. Oder besser: nicht nur das offensichtliche, jedoch negative, Interesse, die physische Zerstörung zu vermeiden, sondern das Ausmaß der positiven Interessen, die die Supermächte angesichts dritter Parteien teilten. So gesehen überrascht es nicht, daß die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion einen beträchtlichen Pragmatismus und diplomatisches Können an den Tag legten, indem sie ihre Differenzen auf Kosten anderer beilegten, was sogar so weit ging, daß sie größere aber periphere Kriege durch Stellvertreter führten.

Dem, was eine Lehrmeinung werden sollte, die das internationale System nach dem Krieg formte, lag eine relativ einfache Tatsache zugrunde: das sowjetische Verteidigungssyndrom und das amerikanische Streben nach weltweiter sozialer und wirtschaftlicher Stabilisierung konnten nur durch die Teilung Deutschlands, und folglich Europas, miteinander in Einklang gebracht werden und durch das Aufopfern der Unabhängigkeit der ost-europäischen Bevölkerung und der Hoffnungen der westeuropäischen Arbeiterklasse auf radikale Veränderungen.

Die US-Politik nach 1945: Vorrang für die Konsolidierung in der kapitalistischen Welt

Wenn man die Sache von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist es nicht länger nötig, die mutmaßliche Naivität Roosevelts, und anfangs auch seines Vorgängers, zu verachten, die sonst, und das ist ganz typisch für die orthodoxe Geschichtsschreibung, dafür verantwortlich gemacht wurde, daß die westlichen Interessen der Verschlagenheit und Aggressivität Stalins geopfert wurden. Wir können nun auch, ohne uns in rein psychologische Erklärungen zu flüchten, eine Antwort auf die Frage geben, die von Ulam und seinen Kollegen hartnäckig gestellt wird – warum hatten die Amerikaner (Roosevelt, aber auch Douglas MacArthur) 1945 keinen Sinn dafür, sich fest mit Churchill gegen Stalin zu verbünden?3 Viele Ereignisse zeigten, daß die Vereinigten Staaten den Interessenkonflikt mit dem Commonwealth und den englischen Vorlieben für weniger lebenswichtig hielten, jedoch für unmittelbar relevanter als eine Kraftprobe mit dem Kommunistischen Weltreich. Die Verhandlungen, die zu den Vereinbarungen von Bretton Woods führten, die anti-koloniale Aggressivität der Vereinigten Staaten – aber auch weniger sichtbare Episoden, wie z.B. der hartnäckige Wunsch der Amerikaner, Großritannien von jeglicher Teilnahme an der Eroberung und Besetzung Japans auszuschließen, – zeigen deutlich, daß der Konsolidierung der Führungsrolle der Amerikaner innerhalb der kapitalistischen Welt der Vorrang gegeben wurde, solange der Niedergang des Britischen Empire noch nicht zu einer unumstößlichen Tatsache geworden war.4

Auch noch zu einem späteren Zeitpunkt zeigten die Kriege in Indochina und Algerien, sowie die Suez-Krise von 1956, wie sehr sich die Amerikaner der Bedeutung ihrer nicht-kolonialen Vergangenheit bewußt waren. Die revolutionäre und anti-imperialistische Tradition, wie sie von Woodrow Wilson in Versailles erneuert wurde, förderte neuere und raffiniertere Formen des Eindringens in und der Kontrolle über Staaten, die neu zur Unabhängigkeit gelangt waren, so wie man sie in vorausgegangenen Jahrzehnten in Lateinamerika erfolgreich ausprobiert hatte. Alles in allem war eine realistische Einschätzung unmittelbarer und greifbarer Interessen wichtiger als jede kurzzeitige antisowjetische Solidarität. Immerhin begriff in diesen Fällen selbst jemand wie John Forster Dulles, daß jedesmal, wenn die Amerikaner sich versucht sahen, ihren Schutzschild den nicht mehr zeitgemäßen Kolonialreichen der kleineren europäischen Verbündeten zu leihen, dies zum Vorteil der Sowjetunion gewesen wäre.

Natürlich waren die Interessenkonflikte zwischen den und innerhalb der zukünftigen NATO-Partner noch deutlicher in den Ereignissen, die zur dauerhaften Teilung des europäischen Kontinents führten. Was waren in diesem Zusammenhang die Überlegungen, die die amerikanische Verhaltensweise bestimmten?

Entgegen allem, was an Gegenteiligem geschrieben worden ist, gibt es in einem Punkt eine grundlegende Kontinuität zwischen der Kriegs- und der Nachkriegspolitik der Vereinigten Staaten. Weder Roosevelt noch Truman zögerten, vor und nach dem Wendepunkt, wie ihn die öffentliche Erklärung der »Containment«-Doktrin darstellte, die seinerzeit vorherrschende gesellschaftliche und wirtschaftliche Struktur Westeuropas zu schützen. Die Verantwortlichen für die amerikanische Außenpolitik warteten nicht auf den Rückzug der britischen Militärpräsenz aus Griechenland und der Türkei, um jene Kräfte zu unterstützen, welche in den jeweiligen europäischen Ländern jedem grundsätzlichen Wandel des sozialen und politischen Status quo über die Niederlage des Dritten Reiches hinaus widerstanden. Es gab natürlich Uneinigkeiten, was die Mittel betraf, doch sogar als diese Politik die Kriegsanstrengungen erschwerte, wurde die Unterstützung einer jeden Kraft auf ein Minimum reduziert, die möglicherweise einer Amerika genehmen europäischen Regelung feindlich gegenüberstehen könnte. Es ist bezeichnend, daß die amerikanischen Geheimdienste nach dem deutschen Zusammenbruch Kriegsverbrecher zur Zusammenarbeit anwarben, die willig und fähig waren, ihren Kampf gegen die Linke unter anderen Voraussetzungen fortzusetzen. Es ist sicherlich noch bedeutender, daß alle jene Gruppierungen in den sozialistischen Parteien und Gewerkschaftsbewegungen Europas, die zur Neutralität tendierten und nicht gewillt waren, ihre Beziehungen zu kommunistischen Parteien, soweit sie existierten, abzubrechen, auf jede mögliche Art und Weise bekämpft wurden.5 Diese Politik entwickelte ihre volle Kraft, als die politische und folglich finanzielle Unterstützung in den späten Vierzigerjahren wuchs, aber sie existierte in nuce schon hinter den deutschen Linien.

Die Teilung Europas fiel zusammen mit der militärischen Präsenz der Sieger

Stalin konnte seine Politik mit einer Schlüssigkeit verfolgen, die den westlichen Führern fehlte, bevor sie sich nicht jene Art von Konsens erworben hatten, die für ihre Systeme erforderlich waren. Sogar die Ziele waren unterschiedlich: die westlichen Sieger gaben sich mit raffinierteren Formen politischer Kontrolle zufrieden als diejenigen, die sich mit stalinistischer Herrschaft vereinbaren ließen. Auch konnten beide Seiten nicht ignorieren, was Stalin selbst in dem nicht oft genug zitierten Gespräch mit Milovan Djilas ansprach, daß nämlich um die Teilung Europas nicht verhandelt wurde, sondern daß sie zusammenfiel mit der militärischen Präsenz der Sieger am Ende der Feindseligkeiten. Man sollte hinzufügen, daß jene Demarkationslinien nicht nur nationale Grenzen werden sollten, sondern auch die sozialen und politischen Kriterien des Wiederaufbaus anzeigten. Seit dieser Zeit hat es nie eine Politik des Roll-back von seiten der Supermächte gegeben, außer in den dogmatischen Formulierungen der sowjetischen Führung und in den überschwenglichen Vorschlägen einer Handvoll republikanischer Politiker (unter ihnen John Foster Dulles und Ronald Reagan). Es gab nie einen Mangel an praktischen Gründen für diese Art des gegenseitigen »appeasement« (ein oft mißbrauchtes Wort, das in diesem Fall angemessen ist). Auch jene Leute, die im Nachhinein Roosevelt der Feigheit bezichtigten, hatten eigentlich vorrangig an Dingen ein gemeinsames Interesse, die 1944-46 dominant waren, jedoch nicht eine demokratische Herrschaft in Osteuropa mit einschlossen.

Das höchste Anliegen der amerikanischen Führung war zu dieser Zeit, und nicht unvernünftigerweise, den Krieg so schnell und mit so wenigen Verlusten wie möglich zu beenden. Besonders diejenigen hatten die Lektion Wilsons gelernt, die eine zukünftige Führungsrolle Amerikas in der Welt unbedingt wollten, indem sie eine isolationistische Reaktion fürchteten, die sich der von ihnen so gesehenen Übernahme der Nachkriegsverantwortung in den Weg stellen würde. Nicht einmal der abgehärtetste Kalte Krieger ante litteram hätte sich einen Präventivschlag auf die sowjetischen Linien in Mitteleuropa vorstellen können, und nichts unterhalb eines solchen Angriffs – sicherlich nicht größere diplomatische Härte in Jalta oder anderswo – hätte irgendeine Wirkung gezeigt. Doch abgesehen von diesen praktischen Gründen erhoben die Vereinigten Staaten die Befreiung Osteuropas nicht zu ihrer obersten Aufgabe, weil sie nicht in ihrem nationalen Interesse lag, wie es damals verstanden wurde. Ein großer Fehler vieler Historiker ist es, zu glauben, daß dies so war, weil fadenscheinigen Fragen ungebührender Vorrang eingeräumt wurde, wie z.B. dem Weltcharakter der Vereinten Nationen mit voller sowjetischer Beteiligung. Wichtiger für Washington war die sowjetische Hilfe im Krieg gegen Japan bis zum Abwurf der Atombombe.

Die Hauptströmung der Ereignisse sowohl in Jalta als auch in Potsdam garantierte jedoch zwei grundsätzliche Ergebnisse des Krieges, die mit sehr bedeutenden Interessen sowohl Amerikas als auch der Sowjetunion übereinstimmten: die Eliminierung Deutschlands als Faktor im europäischen Kräftegleichgewicht und eine Hierarchie der Nationen, welche die Führungsrolle der hervorgehenden Supermächte innerhalb ihrer voraussichtlichen Einflußsphäre sicherte. Vom amerikanischen Standpunkt aus erschien, bewußt oder unbewußt, das Opfern der osteuropäischen Länder als »cordon sanitaire« für den historisch begründeten Sicherheitswahn der Russen ein bezahlbarer Preis. Es sollte sich sogar noch herausstellen, daß dadurch die amerikanische Vorherrschaft in Westeuropa gestärkt wurde. Man empfand sehr realistisch die Sowjetunion nicht als die Hauptbedrohung amerikanischer Nachkriegsvorhaben, solange man sie aus Westeuropa heraushielt. Als solche wurde sie erst gesehen, als es notwendig wurde, ein größeres Ausgabenprogramm zu rechtfertigen, das auf der Außenpolitik basierte, einschließlich dem Marshallplan und der Errichtung einer Vielzahl von Militärbasen.

Der Preis für den ungeschriebenen Pakt der Supermächte

Natürlich mußte für solch einen ungeschriebenen Pakt zwischen den Supermächten ein Preis gezahlt werden, doch aus streng amerikanischer Sicht war dieser Preis überwiegend ideologischer Natur. Die Vereinigten Staaten mußten akzeptieren, daß die osteuropäische Bevölkerung einer kommunistischen Diktatur überlassen wurde, die ihr von außen auferlegt wurde, wobei dies nur von einer Minderheit anti-deutscher Widerstandsgruppen in unterschiedlichem Grad unterstützt wurde. Die Sowjetunion bestätigte wieder einmal ihre Treue zum Prinzip des Sozialismus in einem Land, und das auf Kosten nicht nur einer Revolution, sondern von sozialen und politischen Reformen im sonstigen Europa. Die westlichen Kommunistischen Parteien wurden schwer behindert durch ihre Treue zu Moskau. Dadurch wurde ihre Glaubwürdigkeit als nationale Reformer zerstört zumal Moskau in mehreren Fällen über ihren Kopf hinweg Abmachungen mit dem Westen anstrebte. Sogar die Sozialisten waren gezwungen, den Druck zu akzeptieren, der auf die Innen- wie auf die Außenpolitik ausgeübt wurde, als die Teilung Europas sich in der Nachkriegszeit allmählich verhärtete. Die Spaltung war nicht nur eine territoriale und militärische, sondern auch eine ideologische. Die Supermächte verzichteten auf jeden ernsthaften Versuch, ihre Werte im restlichen Europa zu verbreiten, aber dadurch setzten sie diese auch in eine eiserne Gußform. Auf der jeweiligen Seite der Mauer wurde Demokratie unvereinbar mit grundlegendem sozialen Wandel und Sozialismus unvereinbar mit Demokratie.

Auf diese Weise wurde nicht nur die Möglichkeit einer hypothetischen gemeinsamen Basis auf absehbare Zeit ausgeschlossen; die ursprünglichen revolutionären Werte der Großmächte erstarrten dadurch und wurden verzerrt. Während für Europa die militärische Auseinandersetzung etwas Besonderes blieb, wurde die Trennung von Demokratie und sozialer Umgestaltung ein grundlegendes Prinzip, das die Supermächte eifrig ausdehnten und in anderen Teilen der Welt vorantrieben. Als in so ungleichen Ländern wie der Tschechoslowakei und Chile ersthafte Versuche unternommen wurden, eine sozialistische Demokratie entgegen der Vorherrschaft der Supermacht zu entwickeln, war die Unterdrückung skrupellos und die Passivität oder gar das stillschweigende Einverständnis derjenigen Supermacht, die nicht unmittelbar damit zu tun hatte, deutlich sichtbar.

Die Nachkriegsregelung in Europa durch die neuen Supermächte war möglich, weil nicht diese, sondern die Völker Europas den sofortigen Preis dafür zahlen mußten. Dies trifft natürlich vor allem zu auf die Völker Mitteleuropas, die in der letzten Phase des Weltkrieges dezimiert worden waren. Die osteuropäischen Völker mußten ihre Souveränität, ihre demokratischen Rechte und individuellen Freiheiten aufgeben (soweit es sie vor der deutschen Invasion gegeben hatte). Polizeistaaten unter ausländischer Kontrolle wurden errichtet. Nationale Bürokratien, die von der politischen Unterstützung und militärischer Präsenz der Sowjets abhängig waren, herrschten durch zentralistische Regierungen im Namen von Kommunistischen Parteien, die sich nicht der Zustimmung der Mehrheit erfreuten. Sogar die wirtschaftlichen Beziehungen, die von Moskau aufgebaut wurden, waren zu Anfang ausbeuterischer Natur.

Natürlich lagen die Dinge in Westeuropa anders. Der politische Wiederaufbau erfolgte selbst in den besiegten Ländern nach Prinzipien einer liberalen Demokratie. Die Vereinigten Staaten gewährten großzügige Hilfe: sicher entsprach sie in vielen Fällen den humanitären Gefühlen derer, die sie bereitstellten, doch war sie im wesentlichen ein effektives Mittel, radikale politische und ökonomische Veränderungen zu verhindern und, vor allem anderen, war sie ökonomisch absolut notwendig. Um den Ansprüchen einer veränderten Nachkriegszeit genügen zu können, mußte die amerikanische Wirtschaft ihr Kapital und ihren Handel im Ausland ausdehnen. Die weitsichtigen Planer, die für die amerikanische Wirtschaftspolitik im Ausland verantwortlich waren, sahen sehr deutlich, daß dies ohne den Wiederaufbau der europäischen Industrie nichtmöglich war. Der Marshall-Plan bildete den Höhepunkt einer hegemonialen Politik, in der die Kontrolle in Europa in erster Linie auf der Befriedigung elementarer wirtschaftlicher Bedürfnisse und der Herstellung eines politischen Konsenses beruhte. Militärische Präsenz, Propaganda und Einmischung in die politische Entwicklung einzelner Länder waren dabei selbstverständlich wichtig, aber nicht entscheidend. Es lief alles auf eine Art gnädig gewährter, eingeschränkte Souveränität hinaus, die in späterer Zeit, in anderem Zusammenhang, »Finnlandisierung« genannt worden ist.

Eingeschränkte Souveränität der europäischen Nationen

Sowohl der Sowjetunion als auch den Vereinigten Staaten gelang es, die Kontrolle über ihren jeweiligen Teil des vollständig besiegten Europa zu erlangen. Wie ich bei anderer Gelegenheit bereits gezeigt habe, war die amerikanische Machtausübung hegemonial, weil sie sich der Unterstützung einer Mehrheit der infrage kommenden Bevölkerung erfreute, die eine Reihe greifbarer Vorteile daraus zog. Die sowjetische Kontrolle nahm die Form der Vorherrschaft an, weil ihr die wirtschaftlichen Mittel und die politische Flexibilität fehlten, um einen Konsens sicherzustellen, der an die Stelle der Gewalt hätte treten können.

Nichtsdestoweniger war, im Osten wie im Westen, die nationale Souveränität in Europa erheblich eingeschränkt. Die Einrichtung militärischer Bündnisse rechtfertigte die ständige Anwesenheit sowjetischer und amerikanischer Truppen in Europa, nachdem die Besetzung der Nachkriegszeit zu Ende war. Alle europäischen Nationen verloren die Kontrolle ihrer Verteidigungs- und Sicherheitssysteme (Frankreich mußte, unter der Führung Charles de Gaulles, die militärische Organisation der NATO verlassen, um diese Kontrolle wiederzugewinnen). Die Vorrechte dieser beschränkten Form der Unabhängigkeit beinhalteten weder das Ausscheiden aus den militärischen Bündnissen noch einen grundlegenden Wandel des sozialen und politischen Systems. Die Beschränkungen verschärften sich im Osten dramatisch, als Versuche, über sie hinauszugelangen, rücksichtslos unterdrückt wurden. Im Westen wurden dieselben Beschränkungen auf subtilere Weise auferlegt, vor allem im Nordatlantischen Territorium (North Atlantic Region). Wann immer in den Mittelmeerländern eine reale oder potentielle Bedrohung des Status quo entstand, wurde die amerikanische Intervention von mal zu mal unverhohlener bis zu der Unterstützung bestehender Diktaturen (Franco, Salazar, Metaxas), der Förderung neuer (wie in jüngerer Zeit in Griechenland und der Türkei) oder der Manipulation und Beeinträchtigung demokratischer Systeme (Italien). Warum akzeptierten europäische Nationen eine Regelung, die zu Jahrhunderten ihrer neueren Geschichte im Widerspruch stand, in der die Prinzipien der Selbstbestimmung und der nationalen Unabhängigkeit erkämpft und gefeiert worden waren? Die Antwort ist offensichtich: sie hatten keine Wahl. Die Teilung Europas und seine Abhängigkeit von außereuropäischen Mächten sind das Ergebnis zweier Weltkriege, die durch die Unfähigkeit der europäischen Staaten verursacht wurden, sich über ein stabiles Gleichgewicht der Kräfte zu verständigen. Die Zerstörung Europas war nicht nur eine physische Realität.

Es gilt jedoch in Erinnerung zu behalten, daß die Teilung Europas auch eine Fortsetzung der Teilung Deutschlands war, und die Machtlosigkeit Europas eine Folge der Machtlosigkeit Deutschlands. Es war Deutschland, das zweimal im selben Jahrhundert das kontinentale Gleichgewicht der Kräfte umstieß, bei friedlichen Nachbarn einfiel, Fremdherrschaft aufzwang und ganze Völker vernichtete.

Ein vereinigtes Deutschland stellte eine Bedrohung dar, der sich die Sowjetunion nach der deutschen Invasion ihres Landes nicht bereit war, auszusetzen. Die Existenz des Morgenthau Plans beweist, daß auch die Amerikaner ähnliche Befürchtungen hegten. Selbst als deutlich wurde, daß der Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft für die industrialisierte Welt als ganzes notwendig war, erlaubte die Teilung Deutschlands einen solchen Wiederaufbau in einer Form, die mit dem jeweiligen sozialen System und der Sicherheit der beiden Supermächte vereinbar war.

Diese Lösung erwies sich als umso stabiler, als sie nicht Ergebnis eines Vertrages war, wie Versailles, sondern einer Entwicklung, die die amerikanische und die sowjetische Militärpräsenz in den besetzten Gebieten bestärkte. So bedeutete die Integration West- und Ostdeutschlands in zwei getrennte, von den Supermächten kontrollierte Interessensphären die endgültige Beseitigung der deutschen Bedrohung und legte zugleich den Grundstein für die Spaltung der Welt in zwei Machtblöcke (bipolar order). Was wie eine historische Errungenschaft erschien, lieferte die offenbare Rechtfertigung für Millionen von Opfern in der Vergangenheit und in der Zukunft. Gleichzeitig wurden in das Gräberfeld des Dritten Reichs die Keime gelegt für einen zukünftigen Konflikt von noch größerem Ausmaß.

Es ist bezeichnend, daß die späteren Berlin-Krisen hochdramatisch in ihrer Entstehung waren, aber stabilisierend in ihrem Ergebnis. Es ist schwierig, zu wissen, ob Stalin Berlin als westlichen Vorposten auf östlichem Territorium ernsthaft beseitigen wollte. Die Luftbrücke, die Harry Truman anordnete, stellte klar, daß dies nicht passieren würde. Daher blieb Berlin für den Ostblock eine Quelle politischer Verlegenheiten, umso mehr, als es den Wohlstand der westlichen Nation in seinem krassen Gegensatz zu den Lebensbedingungen in Ostdeutschland vor Augen führte. Aus diesem Grunde wurde der Bau der Berliner Mauer von der Sowjetunion begrüßt und zugleich von den Vereinigten Staaten als eine Lösung akzeptiert, die mit ihren Interessen vollkommen übereinstimmte: sie bestätigte die Rhetorik des Kalten Krieges, indem sie das Symbol des Eisernen Vorhanges zu einem sichtbaren Faktor machte, und sie demonstrierte denen in Europa, die noch empfänglich waren für den Mythos der Russischen Revolution und der Zähigkeit und der Widerstandskraft während des Krieges, die nationale und ideologische Schwäche sowjetischer Herrschaft. Alles in allem ist Berlin ein ausgezeichnetes Beispiel für die außerordentliche Wichtigkeit ungeschriebener Übereinkünfte in dramatischen, aber kurzlebigen Konflikten zwischen den Supermächten. Immer und immer wieder, bis in die Zeit der Kennedy-Administration, bildete die deutsche Frage den zentralen Punkt in der Zusammenarbeit der Supermächte, denn sie legitimierte mehr als jede andere außenpolitische Frage ihre globalen, über die Viermächtevereinbarungen der unmittelbaren Nachkriegszeit hinausreichenden Machtansprüche.

Atomrüstung und Abschreckungsdoktrin

Der zweite wesentliche legitimierende Faktor für die Spaltung in Blöcke ist die Atomrüstung. Beobachter zeitgenössischer Geschichte hat nicht so sehr die Ablehnung des Baruch Plans durch die amerikanische Regierung erstaunt, als die Tatsache, daß er überhaupt entworfen wurde. Wie konnten die Amerikaner auch nur über die Möglichkeit nachdenken, den Vorteil gegenüber der Sowjetunion aufzugeben, den sie sich durch erfolgreiches Experimentieren und die tatsächliche Anwendung der atomaren Waffen verschafft hatten? Wie erklärt sich die Diskrepanz zwischen dieser Haltung und der Beharrlichkeit und Unnachgiebigkeit, mit der die USA in späteren Jahren einen Atomwaffensperrvertrag anstrebten? Vor allem aber ist zu beachten, daß die Verkündigung der Truman-Doktrin und sogar der Entschluß zur Bildung der NATO der Ausrüstung der Sowjets mit Atomwaffen (chronologisch) vorausging und vollkommen unabhängig von ihr war. Obwohl die Erregung der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten beträchtlich war (wie der Rosenberg-Prozeß und der McCarthyismus zeigten), waren die Reaktionen der Regierung und des Establishments entspannter, als unter solchen Umständen, bedenkt man die Veränderung im Kräftegleichgewicht zwischen den beiden Supermächten, erwartet werden konnte. Worum es geht, ist, daß die Anfänge dessen, was später das »Gleichgewicht des Schreckens« genannt werden sollte, in einem entscheidenden Grade zur Stärkung und Legitimierung der Nachkriegsordnung beitrugen. Von nun an waren die Teilung und die beschränkte Souveränität der europäischen Völker, wie die Nachkriegsregelung sie ihnen auferlegte, die notwendigen Opfer für das vordringlichste Interesse aller an der Bewahrung des Friedens in einer Welt, in der die gegenseitige Vernichtung (Mutually Assured Destruction) eine realistische Möglichkeit geworden war.

Darüber hinaus verkürzte zwar der Besitz von Atomwaffen den Abstand zwischen den Supermächten, zugleich jedoch vergrößerte er die Kluft zwischen ihnen und ihren jeweiligen kleineren Verbündeten und Satellitenstaaten. Von diesem Moment an verfügten die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion über eine Art politisch reserviertes Territorium – die atomare Frage – zu dem sie im allgemeinen Interesse der Friedenssicherung ausschließlich Zugang beanspruchen konnten. Sogar die Überreste der Kriegsallianz, die auf einer vierseitigen Beziehung beruht hatte, wurde hinweggefegt durch das alles beherrschende Interesse an einem direkten Dialog zwischen denen, die die Schlüsse zu Frieden oder vollständiger Zerstörung in der Hand hielten. Innerhalb ihres jeweiligen Bündnisses konnte jede Supermacht das praktisch uneingeschränkte Recht beanspruchen, de facto extraterritoriale Raketenbasen, Luft- und Seehäfen mit dem gesamten dazugehörigen Sicherheitsapparat zu errichten. Die Anwesenheit amerikanischer und sowjetischer Truppen, die so viele Jahre nach Kriegsende als willkürliche Fortsetzung der militärischen Besetzung hätte betrachtet werden können, wurde geradezu zur notwendigen Garantie dafür, daß die Supermächte das europäische Territorium nicht als atomares Schlachtfeld nutzen würden. Die fortdauernde Präsenz dieser Truppen entwickelte sich zu einem unverzichtbaren Verbindungsglied zwischen europäischer Sicherheit und dem Verteidigungssystem der Supermächte. Die Besatzer waren zu Geiseln für den Frieden geworden, ohne jedoch auf irgendeines der Rechte eines Besatzers zu verzichten.

Eine Folge davon ist, daß Konflikte innerhalb der Bündnisse (insbesondere innerhalb der NATO, über die wir direkte Informationen besitzen) keineswegs aus dem Wunsch der kleineren Verbündeten nach Denuklearisierung entstanden. Im Gegenteil, die Präsenz von Atomwaffen auf dem europäischen Kontinent wurde als ein unabänderliches Faktum angesehen, und die Regierungen begrüßten im großen und ganzen jede Stationierung, die die Abschreckung verstärkte. Der Wandel in der NATO-Strategie vom massiven Vergeltungsschlag zur »flexible response« traf auf einen gewissen Widerstand, allerdings nicht in erster Linie deswegen, weil dadurch die Zahl der aufgestellten taktischen Atomwaffen vergrößert und der Weg für Mittelstreckenraketen frei wurde. Was die europäischen Kritiker beunruhigte war, daß gerade die Flexibilität der Strategie einen begrenzten, auf den europäischen Kontinent beschränkten Atomkrieg ermöglichte. Diese Befürchtung hat ihren Grund in bedeutsamen historischen Präzedenzfällen. In beiden Weltkriegen war die Teilnahme der Vereinigten Staaten entscheidend, aber verspätet und begrenzt auf fremdes Territorium. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die europäischen Verbündeten der USA stets eine Strategie favorisiert haben, die eine möglichst frühzeitige Beteiligung amerikanischer Truppen erfordert und eine Einbeziehung des amerikanischen Festlands in das Prinzip der Abschreckung. Solche Befürchtungen sind dann schließlich der Ansporn für eine stärkere Atlantische und militärische Integration gewesen und für die Steigerung der Atomrüstung auf allen Ebenen. Noch der jüngste Widerstand einiger europäischer Regierung gegen den Vertrag zwischen Gorbatschow und Reagan zur Abschaffung der Mittelstreckenraketen entspringt zum Teil derselben Logik.

Die einzigen Alternativen zu dieser allgemeinen Tendenz boten Frankreichs unabhängige Abschreckungsstrategie und die Aktionen der Friedensbewegung, die das mit der steigenden Zahl atomarer Ziele in Europa verbundene Risiko verdeutlichte und einseitige Abrüstungsschritte als eine realisierbare Alternative befürwortete. Die Friedensbewegung der 50er Jahre war eindeutig eine Erweiterung der sowjetischen Außenpolitik, und noch die Glaubwürdigkeit der heutigen Friedensbewegung leidet unter der Unmöglichkeit, sich auch in Osteuropa im großen Rahmen und unabhängig zu entwickeln.

Solange die Friedensdiskussion sich auf die militärischen Aspekte beschränkt und ihren Blick nicht auf die politischen Ursachen und Folgen des militärischen Status quo richtet, überwiegen im Namen des Prinzips der Abschreckung die technischen und strategischen Argumente. Es ist richtig, daß, wie wir sehen werden, eine übermäßige Beschleunigung des Wettrüstens und seine negativen Folgen für die Wirtschaft der Supermächte kurze Perioden der Entspannung ermöglicht hat, und zwar auf der Grundlage von Rüstungskontrolle (wie etwa im Atomteststopp-Vertrag 1963, SALT I und SALT II, der ABM Vertrag) oder, wie kürzlich erst, von Abrüstung (INF-Vertrag). Es ist aber auch richtig, daß zunemend deutlicher wahrgenommen wird, daß die Dynamik und Komplexität des Wettrüstens das Risiko eines atomaren Konflikts »aus Versehen« erhöhen. Freilich sind solche Überlegungen in sich nicht ausreichend, um das Prinzip der Abschreckung als die einzig mögliche Grundlage des Friedens zu unterminieren. Selbst Abrüstungsvereinbarungen, die noch bedeutender wären als der Washingtoner Vertrag, blieben prekär, solange die meisten Menschen überzeugt sind, daß es die Drohung der gesicherten Vernichtung (Mutually Assured Destruction) gewesen ist, die eine Auseinandersetzung in Europa 40 Jahre lang verhindert hat. Dennoch, solange das politische Gleichgewicht, das auf den Zweiten Weltkrieg zurückgeht, intakt bleibt, gibt es keine Alternative zu dem prekären Frieden, den die gegenseitige Abschreckung bietet, und seiner Kontrolle durch das Kondominat der Supermächte.

Der Ost-West-Konflikt und die inneren Strukturen

Der Ost-West-Konflikt hat nicht immer nur die amerikanische und sowjetische Vorherrschaft im Ausland gefestigt, sondern auch die sozialen und politischen Strukturen beider Länder zutiefst beeinflußt. Jüngste geschichtliche Forschungen haben den Korea-Krieg als einen Wendepunkt in der neueren amerikanischen Geschichte herausgestellt. Dieser Analyse zufolge war es diese erste amerikanische Intervention in großem Rahmen, durch die militärische Mobilisierung und riesige Ausgaben für außenpolitische Zwecke zu bleibenden Erscheinungen im amerikanischen Alltag wurden. Dies wäre jedoch nicht möglich gewesen, wäre die Invasion Südkoreas nicht, in dem durch die Truman Doktrin, den Marshall Plan und die Bildung der NATO bereits vorgegebenen Rahmen, als Teil der Ost-West Konfrontation betrachtet worden. Zur selben Zeit (wie Alan Wolfe überzeugend dargelegt hat6) entstand eine Zweiparteienkoalition, die ein Programm zur innen- und außenpolitischen Stabilisierung zur Grundlage hatte. Die Politik der Produktivität im eigenen Land und außerhalb erforderte soziale Disziplin, eine expansive Wirtschaftspolitik und hohe Auslands- und Militärausgaben. Was Dwight Eisenhower dann den »militärisch-industriellen-Komplex« nennen würde – ein Netz von Verbindungen zwischen Militärpolitik und Rüstungsunternehmen – machte nur einen Teil des Bildes aus. Die sogenannte sowjetische Bedrohung – umso effektiver, als sie tatsächlichen Formen der sowjetischen Vorherrschaft in verschiedenen Teilen der Welt entsprach – diente zahlreichen innenpolitischen Zwecken: dem, was als legitimer sozialer und politischer Konflikt galt, enge Grenzen zu setzen; diejenigen Bereiche der Privatinteressen und der Regierung zu stärken, die mit der nationalen Sicherheit verbunden waren; verschiedene Formen der Präsenz und der Intervention in anderen Ländern zu rechtfertigen. Lange bevor die Existenz einer »imperial presidency« allgemein verkündet wurde, hatte sich der sogenannte Kalte Krieg auf die Exekutive besonders in ihrem Verhältnis zur Legislative ausgewirkt. Mit anderen Worten, der theoretische Konflikt hielt eine Art von nationalem Notstand aufrecht, der die übliche zentralisierende und stabilisierende Wirkung solcher Ereignisse hatte. Es sollte nicht vergessen werden, daß es sich hierbei eher um ein Kontinuum handelt, als um einen völlig neuen Zustand. Die Depression, zumindest in der ersten Phase nach der Wahl Roosevelts, das Herannahen des Zweiten Weltkrieges in Europa und dann im Pazifik, der dramatische Bruch mit dem einstigen Kriegsverbündeten (ursprünglich allerdings Symbol sozialer Unruhe und Subversion) hielten einen Zustand aufrecht, der vor allem von all denjenigen, die in mächtigen und verantwortungsvollen Positionen waren, zum Vorteil genutzt werden konnte.

Die Auswirkungen des Blocksystems (bipolar system) auf das sowjetische Regime waren ähnlich. Nach der tiefen Angst vor einem Angriff von außen auf die Revolution, die den Übergang vom Leninismus zum Stalinismus rechtfertigte, half die Entstehung des Dritten Reiches die brutalen Methoden, die der sowjetische Diktator angenommen hatte, zu legitimieren. Nach der Zerstörung Nazi-Deutschlands wurde der amerikanische Imperialismus dringend als ein stabilisierender Mythos benötigt, um durch ihn die Unterwerfung anderer Länder zu rechtfertigen, die riesigen Militärausgaben in einem Land, in dem die Menschen kaum das Lebensnotwendigste hatten und die fortdauernde Einschränkung jeglicher Form individueller und kollektiver Freiheiten und demokratischer Rechte. Alles in allem stärkte die fortgesetzte Militarisierung der sowjetischen Gesellschaft nicht nur die Streitkräfte, sondern auch den Sicherheitsapparat und die Nomenklatura, während sie andererseits die mit Kriegsproduktion verbundene Notwendigkeit sozialer Disziplin unterstrich.

Fortsetzung im Heft 1/1990

Der Aufsatz von G.G. Migone erschien zuerst in dem Buch „The New Detente“ (M. Kaldor, J. Holden, ed.), Verso, The imprint of New Left Books, London/Tokio 1989

Anmerkungen

1) Adam B. Ulam, The Rivals. America and Russia since World War II, New York 1971, p. 28 Zurück

2) Richard Falk, „Superseding Jalta: A Plan for regional self-determination in Europe“ , in: Mary Kaldor & Richard Falk (eds.), Dealignment: A New Foreign Policy Perspective, Oxford 1987 Zurück

3) Ulam, pp. 79-84 Zurück

4) ibid. Zurück

5) Ronald Radosh, American Labor and United States Policy, New York 1979, ch. 11 Zurück

6) Alan Wolfe, America's Impasse, New York 1981 Zurück

Gian Giacomo Migone ist Chefredakteur der italienischen Zeitschrift L'Indice und zus. mit Pierre Bordien u.a. Herausgeber der europäischen Literaturzeitschrift Liber.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/4 Die 90er Jahre: Neue Horizonte, Seite