W&F 2017/2

Der Pazifist Erasmus von Rotterdam

von Till Bastian

Pazifismus steht derzeit nicht hoch im Kurs – weder in Deutschland noch weltweit (siehe dazu W&F 1-2017). Dies ist um so bedauerlicher, als es gerade in Mitteleuropa eine Tradition des pazifistischen Argumentierens gibt, die seit 500 Jahren nicht abgerissen ist. Eröffnet wurde sie mit der Friedensschrift des Erasmus von Rotterdam aus dem Jahr 1517. Gerade im »Reformationsjahr 2017« ist dieses Traktat des Erinnerns wert und würdig – nicht zuletzt wegen der heftigen Auseinandersetzung des Erasmus mit Martin Luther, der sich zu der Frage von Krieg und Frieden auf recht fragwürdige Art und Weise geäußert hat.

Erasmus Desiderius, genannt Erasmus von Rotterdam, ist – so sein Biograph Stefan Zweig – „unter allen Schreibenden und Schaffenden des Abendlandes der erste bewusste Europäer, der erste streitbare Friedensfreund“ gewesen.1 Geboren wurde er in Rotterdam, vielleicht auch in Gouda, vermutlich im Jahre 1466 (aber auch das steht nicht zweifelsfrei fest) als Sohn der Arzttochter Margarete Rogers und eines Priesters, war also ein uneheliches Kind. Gestorben ist er 1536 in Basel.

Seine pazifistische Haltung wurde von ihm schon früh kundgetan: In sein erstes Buch, die anno 1500 in Paris erschienenen »Adagia« (eine ausführlich kommentierte Sammlung griechischer und römischer Sprichworte, zweite Auflage Venedig 1508) reihte er in die dritte Auflage von 1515 die Redensart „Dulce bellum inexpertis“ (frei übersetzt „Süß ist der Krieg nur für den, der ihn nicht kennt“ ) ein und schrieb dazu, im Krieg verhielten sich die Menschen schlimmer als die Tiere, die ja nur für Nahrung oder zur Verteidigung ihrer Jungen kämpften, während sich die Menschen von Ehrgeiz, Zorn, Lust oder anderen extremen Gefühlen zur Gewalttätigkeit verleiten ließen.

Erasmus hielt sich während der Arbeit an diesem Text noch in England auf, wurde aber von der Kriegsbereitschaft des jungen Königs Heinrich VIII., der im Sommer 1512 zu einem Feldzug nach Frankreich aufgebrochen war, zunehmend verstört. „Der Krieg, für den man hier rüstet, hat plötzlich den Geist dieser Insel verändert“, hatte er schon im Frühjahr 1514 in einem Brief an den Abt von Saint-Omer geschrieben. Im Sommer 1514 verließ er England, um nach Basel zu reisen; eine zweite Reise rheinaufwärts im Sommer 1515 schloss sich an. Wichtig war ihm vor allem der Kontakt mit dem Drucker Froben, bei dem im Februar 1516 seine lateinische Ausgabe des griechischen Neuen Testaments erschien – ein Foliant von über tausend Seiten, der in 1.200 Exemplaren gedruckt worden war.

Nur wenig später wurde der bereits erwähnte Abschnitt der »Adagia« von 1515 unter dem Titel »Der Krieg ist süß allein dem Unerfahrenen« als erster Text des Erasmus überhaupt von Ulrich Varnbühler, einem kaiserlichen Rat am Reichskammergericht (damals noch in Worms ansässig), ins Deutsche übersetzt (Basel: Cratander 1519; Straßburg: Schürer 1520). In diesen Jahren avancierte Erasmus zum meistgedruckten Autor in deutscher Sprache nach Martin Luther.

Die »Querela pacis« – Klage des Friedens

Bereits ein Jahr nach der Abfassung des Textes zu »Dulce bellum inexpertis« arbeitete Erasmus an seiner »Querela pacis« (Klage des Friedens), einer Auftragsarbeit für den burgundischen Kanzler Jean Le Sauvage (1455-1518). Anlass war ein für 1517 geplanter Friedenskongress in Cambrai, auf dem sich die Könige Maximilian I. (Heiliges Römisches Reich), Franz I. (Frankreich) und Heinrich VIII. (England) hätten miteinander versöhnen sollen; das Treffen kam allerdings nie zustande. Erasmus schickte am 5. Oktober 1517 ein handschriftliches Exemplar des Textes an den Bischof von Utrecht, Philipp von Burgund (1464-1524); gedruckt erschien das Werk im Dezember 1517, wiederum bei Johannes Froben in Basel; zwei deutsche Übersetzungen wurden 1521 veröffentlicht. Während er an der »Querela pacis« arbeitete, hielt sich Erasmus in Brabant auf, zunächst in Brüssel und Antwerpen, dann ab Juni 1517 in Löwen.

Auch in seiner »Querela pacis« betont Erasmus, dass Krieg der außermenschlichen Natur fremd, mithin Menschenwerk sei: „Der Eber stößt seine mörderischen Zähne nicht in einen Eber, der Luchs hat Frieden mit dem Luchs, die Schlange versehrt nicht die Schlangen, die Eintracht der Wölfe ist sogar sprichwörtlich.“ 2 Und weiter: „Die Tiere setzen auch nur zum Kampf an, wenn sie durch Hunger oder durch Sorge um die Jungen in Erregung geraten. Welches Unrecht ist dagegen den Christen zu gering, um nicht als geeignete Kriegsgelegenheit betrachtet zu werden?“ 3 An diese allgemeinen Betrachtungen schließt sich eine scharfe Kritik der damals herrschenden Zustände an: „Falls man sich nun früherer Kriege nicht erinnert, vergegenwärtige sich, wer will, die im Zeitraum der letzten zwölf Jahre geführten Kriege, möge er die Ursachen prüfen, er würde erfahren, daß alle um der Fürsten willen unternommen und mit großem Unheil für das Volk geführt wurden, obwohl sie das Volk gewiß nicht das geringste angingen.“ 4

Freilich kritisiert Erasmus ebenso scharf wie die Fürstenwillkür auch den zu seiner Zeit bereits aufkommenden Nationalismus (im Kölner Reichstagsabschied von 1512 war erstmals die Redewendung vom »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation« benutzt worden): „Um dem Haß Nahrung zu geben, werden die Namen der Gebiete missbraucht. Und die einflussreichen Größen nähren diesen Irrtum des dummen Volkes, und auch einige Priester nähren ihn, um des eigenen Vorteils willen. Der Engländer ist dem Franzosen feind, aus keinem anderen Grund, als weil er Franzose ist. Dem Schotten zürnt der Brite aus keiner anderen Ursache, als daß er ein Schotte ist. Der Deutsche ist mit dem Franzosen zerfallen, der Spanier mit den beiden. O Verrücktheit, bringt der bloße Name eines Ortes auseinander, warum mögen nicht eher so viele verbinden? Du willst als Brite dem Franzosen übel. Warum willst Du als Mensch nicht lieber dem Menschen wohl? Als Christ dem Christen? Warum kann eine unbedeutende Sache bei diesen da mehr bewirken als so viele Knüpfungen der Natur?“ 5

In diesen Sätzen klingt das Weltbürgertum des Erasmus an, das dieser fünf Jahre nach der Niederschrift der »Querela pacis« ausdrücklich beim Namen nannte. Denn im Jahre 1522 bot der Reformator Ulrich Zwingli (1484-1531) dem damals in Basel lebenden Erasmus als dem berühmtesten Gelehrten seiner Zeit das Bürgerrecht der Stadt Zürich an, wo Zwingli als Geistlicher am Großmünster soeben eine Kirchenreformation eingeleitet hatte. Erasmus lehnte dieses Angebot in einem Brief an Zwingli ab, in dem er unter anderem schrieb: „Ich danke dir sehr für deine Zuneigung und die deiner Stadt. Ich wünsche, ein Bürger der Welt zu sein, allen gemeinsam, oder besser, für alle ein Fremder.“ 6

Der berühmteste Satz aus der »Querla pacis« des Erasmus ist aber wohl dieser: „Kaum kann je ein Friede so ungerecht sein, dass er nicht besser wäre als selbst der gerechteste Krieg.“ 7

Die Mahnrede des Erasmus – heute so aktuell wie eh und je – hat das bis 1945 andauernde Blutvergießen in Europa nicht zu verhindern vermocht, aber sie verhallte auch nicht ungehört. Schon 1518 erschien in Basel die zweite Auflage; es folgten Publikationen unter anderen in Krakau (1518), Venedig (1518), Florenz (1519), Straßburg (1522), Paris (1525). In den folgenden 150 Jahren wurde die »Querela pacis« in 35 Ausgaben in lateinischer Sprache veröffentlicht.8 Die beiden deutschen Übersetzungen von 1521 wurden schon erwähnt. 1520 erschien die erste Übersetzung ins Spanische, 1559 ins Englische, 1567 ins Niederländische. Dass Erasmus sich auf gefährliches Terrain gewagt hatte, zeigte sich in Frankreich: Lous de Berquin (um 1485-1529), der frühere Sekretär des Königs Franz I., hatte den Text ins Französische übertragen und wurde 1529 in Paris als rückfälliger Ketzer und Parteigänger Luthers öffentlich verbrannt; schon 1525 war sein Manuskript der Erasmus-Übersetzung auf Geheiß der theologischen Fakultät der Sorbonne den Flammen übergeben worden.

Jedenfalls wurde Erasmus mit seiner Friedensschrift zum Geburtshelfer einer pazifistischen Literaturtradition,9 die seit 1517 aus der europäischen Geistesgeschichte nicht mehr zu vertreiben war.10

Ein Jahr nach der »Querela pacis« lancierte Erasmus die anonyme Schrift »Dialogus, Julius exclusus e coelis« (Dialog, Der aus dem Himmel ausgeschlossene Julius), die 1518 gedruckt bei Dirk Martens in Löwen erschien (die erste deutsche Übersetzung wurde 1521 veröffentlicht).11 Den Papst Julius II. hatte Erasmus bei seinem Aufenthalt in Italien erlebt, als der »Kriegerpapst« am 11. November 1508 in vollem Harnisch mit seinen Truppen in Bologna eingezogen war. Im genannten Dialog will Petrus den Papst, der mit einem Schwert bewaffnet ist, nicht ins Himmelreich einlassen. Nach einem längeren Zwiegespräch fragt Julius: „Du schließt mir also nicht auf?“ Petrus antwortet: „Jedem Beliebigen eher als solch einer Pestgestalt. Denn wir sind ja alle von dir exkommuniziert. Aber willst du einen guten Rat? Du hast eine Schar tüchtiger Männer, du hast unermessliche Geldmittel, du selbst bist ein guter Bauherr. Errichte dir ein neues Paradies, aber befestige es gut, damit es nicht von den Dämonen erobert werden kann.12

Erasmus’ Pazifismus und das »Reformationsjahr 2017«

Trotz aller Kritik am Kriegspapst Julius, der 1513 gestorben war – zur Reformation hatte Erasmus ein zwiespältiges Verhältnis: Zwar teilte er die Kirchenkritik Luthers und anderer Reformatoren durchaus und nahm den Wittenberger mehrfach in Schutz (aus alledem erwuchs später die Redensart, Erasmus habe das Ei ausgebrütet, aus dem Luther geschlüpft sei),13 aber Luthers cholerisches Wesen, das er für Aufrührertum hielt, stieß ihn ab. Hier ist wohl seinem Biographen Willehad Paul Eckert zuzustimmen, wenn dieser schreibt: „Die von beiden Parteien in gleicher Weise geübte Intoleranz, die Verfolgung der Andersgläubigen mit Geldstrafen, Gefängnis und Hinrichtungen mißbilligt der Rotterdamer; nach seiner Überzeugung mußte sich die Zugehörigkeit zur unbekannten Kirche keineswegs mit der Zugehörigkeit zur sichtbaren, institutionellen Kirche decken. Auch Menschen, die außerhalb der Institution stehen, können zur unsichtbaren Kirche gehören, Ketzer und fromme Heiden.“ 14

Es wäre schade, wenn im »Reformationsjahr 2017«, das aus naheliegenden Gründen sehr stark auf Martin Luther und seinen »Thesenanschlag« (ebenfalls Oktober 1517) fokussiert, der pazifistische Beitrag des Erasmus zur europäischen Geschichte in den Hintergrund gedrängt würde. Dies insbesondere deshalb, weil Erasmus in der Frage von Krieg und Frieden sehr viel eindeutiger gewesen ist als der in dieser Hinsicht recht ambivalente Luther – man denke nur an dessen Schrift zur Bauernerhebung, »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern«, darin unter anderem der Satz: „So wunderliche Zeiten sind jetzt, daß sich ein Fürst den Himmel mit Blutvergießen verdienen kann, besser als andere mit Beten […]“. Von ähnlicher Gewaltbereitschaft zeugt auch Luthers Empfehlung an den christlichen Söldner: „Willst du darauf den Glauben und ein »Vaterunser« sprechen, magst du es tun und lasse damit genug sein. Und befiehl damit Leib und Seele in Seine Hände und zeuch dann vom Leder und schlage drein in Gottes Namen.“ (»Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können«, 1526) Wie Brigitte Hannemann angemerkt hat, ist ein größerer Kontrast kaum denkbar als der zwischen diesen Luther-Sätzen und des Erasmus’ „eindringlicher Auseinandersetzung mit dem Vaterunser-betenden Soldaten“.15

Hierüber mögen sich Leserin und Leser ihr jeweils ganz persönliches Urteil bilden. Sicher ist jedenfalls, dass es sich – auch, ja, gerade im »Reformationsjahr 2017« – durchaus lohnt, sich der von Erasmus von Rotterdam begründeten pazifistischen Tradition zu erinnern und ebenso seiner so erstaunlich aktuellen, ein halbes Jahrtausend alten Friedensschrift aus dem Jahr 1517.

Anmerkungen

1) Zweig, S. (1935/2016): Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam. Köln: Anaconda, S. 9.

2) Die »Querela pacis« wird zitiert nach Hannemann, B. (Hrsg. und Übersetzerin) (1985): Erasmus von Rotterdam – die Klage des Friedens. München und Zürich: Piper, hier S. 50. Die Herausgeberin hat dem Text des Erasmus ein sehr lesenswertes Vorwort vorangestellt. Der Band wurde 2017 bei Diogenes (Zürich) neu aufgelegt, die Neuauflage lag dem Autor bei Drucklegung allerdings noch nicht vor.

3) Ibid., S. 73.

4) Ibid.

5) Ibid., S. 87

6) Zitiert nach Ribhegge, W. (2010): Erasmus von Rotterdam. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 121 f.
Zum Thema Erasmus von Rotterdam und Weltbürgertum siehe auch den Essay des Verfassers (2017): Das Erbe des Erasmus – Von der Ächtung des Krieges und der Hoffnung auf Weltbürgertum. Isny. Zu beziehen über ­t.bastian@wollmarshoehe.de.

7) Hannemann, op.cit., S. 80.

8) Die Angaben nach Hannemann, op.cit.

9) Zur Rezeption der »Querla pacis« während des Dreißigjährigen Krieges siehe Schwarz, A.-L.: „Des armen Manns sehnliche Klag“ – Friendensvisionen im Dreißigjährigen Krieg. W&F 1-2017.

10) Für das Studium dieses Traditionsstranges verdanke ich viel dem Buch von Kurt v. Raumer (1953): Ewiger Friede – Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance. München: Alber. Die Freude an der Lektüre des verdienstvollen Werkes wird allerdings geschmälert, wenn man berücksichtigt, dass der Verfasser 1933 bis 1945 überzeugter Nationalsozialist war, was man – bei genauerem Hinsehen – seinem Text zwischen den Zeilen, bisweilen aber auch in den Zeilen durchaus anmerkt.

11) Der Text zirkulierte wohl schon vorher in europäischen Humanistenkreisen, denn im März 1517 schrieb Erasmus in einem Brief an Thomas Morus in London: „Jener Dialog über Julius und Petrus befindet sich, soviel ich weiß, bereits in den Händen des Kanzlers [Jean le Sauvage, T.B.]. Er gefällt ihm sehr.“ Zitiert nach Ribhegge, W. (2010): Erasmus von Rotterdam. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 94.

12) Ribhegge, op.cit., S. 95

13) Zuerst wohl geäußert von Hieronymus Aleander (1480-1542) in dessen Bericht vom Wormser Reichtag 1521.

14) Eckert, W.P. (1983): Erasmus von Rotterdam. In: Humanismus, Renaissance und Reformation. Forscher und Philosophen. Exempla historica – Epochen der Weltgeschichte in Biographien, Band 23. Frankfurt a.M.: Fischer, S. 60.

15) Hannemann, op.cit., S. 28.

Dr. Till Bastian, Arzt und Friedensforscher, ist langjähriges Vorstandsmitglied der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW). Er arbeitet an einer Fachklinik in der Nähe von Ravensburg.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/2 Flucht und Konflikt, Seite 49–51