W&F 1993/1

Der Preis des Friedens

Friedensbewegung als Opfer des Krieges in Ex-Jugoslawien

von Siegfried Fischer

Zu den Opfern des Krieges in Ex-Jugoslawien gehört nun auch die deutsche Friedensbewegung. So zumindest Dirk Kurbjuweit in der sechsten Nummer der »Zeit«. Der fünfte »Spiegel« läßt den grünen Ruf von Conny Jürgens nach militärischer Gewalt gegen die mordenden und vergewaltigenden Serben durch den SPD-roten a.D. General Manfred Opel militärisch konterkarieren. Die werweißwievielte TV-Talkshow hetzt den Interventionisten aus der x-ten gegen den Militäreinsatzverweigerer aus der gleichen oder einer anderen Partei. Es ist wie immer, jeder Krieg findet eben seine Fortsetzung an Stamm- und anderen Tischen.

Was den kleinen Politikern recht, war den Großen auf der Münchener Wehrkundetagung nur billig. Der türkische Verteidigungsminister will die NATO-Christen für einen unheiligen Krieg auf Seiten seiner bosnischen Glaubensbrüder begeistern. Die NATO projiziert aber die abschreckende Zahl von mindestens 200.000 Soldaten für den friedenschaffenden Einsatz in einem solchen Jugovietnam. Manfred Wörner fordert: „The Germans to the Front!“ Der neue Pentagonchef Les Aspin hört sich ruhig und gelassen das Hauptargument seines britischen Kollegen Hurd an: „Diplomaten sind billiger als Soldaten!“ Und unser Einheitskanzler erklärt freudig, daß trotz der unangenehmen Ereignisse an der Adria kein dritter Weltkrieg ins Haus steht.

Es ist aber auch ein sehr schwieriger und nicht nur kanzlerliker Eiertanz zwischen der noch geboten scheinenden Zurückhaltung und dem bei so manchem neu gewachsenen deutschen Verantwortungsgefühl. Einerseits fordert unser Großmachtselbstbewußtsein immer nachdrücklicher die Freigabe von deutschen Soldaten für weltweites peacekeeping and peacemaking. Andererseits wollen unsere Generale auch nicht zu anklagbaren Witwenmachern werden, selbst wenn Günther Nonnenmacher in der neunzehnten FAZ dieses Jahr für diesen altbekannten deutschen way of death warb.

Wie der neue deutsche way of life in der neuen Periode europäischer Unfriedlichkeit aussehen soll wird zwar viel diskutiert, bleibt aber, wie die Geschichte selbst, offen. Es hat den Anschein, als ob wir Deutschen regelrecht erschrocken darüber sind, daß wir nun aus dem Schatten der abschreckenden nuklearen Verantwortungslosigkeit heraustreten und uns entscheiden müssen. Angesichts unserer historischen Fehlleistungen in diesem Jahrhundert ist es nur normal, daß wir abwägen. Nicht normal ist es allerdings, wenn wir im Duell mit Andersdenkenden oder unserem eigenen Gewissen auf die gründliche Analyse der möglichen bzw. wahrscheinlichen Folgen unserer Entscheidungen verzichten.

Diese Forderung richtet sich an den Gesinnungsethiker wie an den Verantwortungsethiker; denn in unserer Welt ist jede politisch-militärische Entscheidung, egal ob im Frieden oder im Krieg, mit menschlichen Leiden und Opfern verbunden. Sage keiner, er habe es nicht gewußt. Sage deshalb jeder, der sich hierzu äußern möchte, auch den Preis, den er zu zahlen bereit ist oder den er andere zahlen lassen will.

Im Falle Jugoslawien ist alles schrecklich einfach und einfach schrecklich. Der Krieg ist im vollen Gange und hat seine eigenen bluttriefenden Gesetze. Die Beendigung dieses Krieges wird ebenfalls Blut, Leid und Tränen kosten. Wer nun das Ende des Krieges von außen beschleunigen will, muß sich entscheiden, ob er das mit dem Blut von Soldaten und/oder einem zivilen Einmischungsprogramm tut.

Ja, es ist richtig, wenn aktive und pensionierte Generale davor warnen, mit Kampftruppen in diesen jugoslawischen Neuordnungskrieg einzugreifen. Sie schreckt die Nichtgewinnbarkeit eines Guerillakrieges ohne klar erkennbaren Feind. Sie verschweigen aber den Hauptmangel ihres Berufsstandes. Was vorrangig für den bewaffneten Kampf ausgebildet, ausgerüstet und strukturiert wurde ist auf militärische Effizienz getrimmt, nicht aber darauf, mit menschlichem Fingerspitzengefühl politisch differenziert zu handeln. Der Kampftruppeneinsatz trennt keine Feinde, er schafft neue. In Ex-Jugoslawien kommt es darauf an, daß den militanten Möchtegernpolitikern die Soldaten weg, nicht aber zulaufen.

Ja, es ist richtig, wenn Politiker Diplomaten für billiger halten als Soldaten. Sie verschweigen aber die Unfähigkeit der heutigen Diplomatie und Politik, den Rahmen der Nationalstaatlichkeit und der Staatenbündnisse verlassen zu können. Wo es keine regierbare Staatlichkeit mehr gibt, versagen alle darauf zielenden Resolutionen, Embargos und Gliederungsvarianten. Gerade die jugoslawische Konkursmasse ist der Beweis für die Überlebtheit klassischer Staatsstrukturen mit ethno-territorialer Grundorientierung. Hier hat jede politische Administration nur dann eine Chance, wenn sie der sozialökonomischen Gesundung und Entwicklung der Bevölkerung in konkreten Kommunen und Regionen dient. In Ex-Jugoslawien kommt es darauf an, daß die Menschen, egal welcher Religion und Nationalität, direkt am wirtschaftlichen Aufbau nicht aber an staatlicher Abgrenzung interessiert werden. Die jetzigen staatsdiplomatischen Spielregeln entlarven keine politischen Verbrecher, sondern helfen ihnen beim Völkermord.

Ja, es ist richtig, daß der wirtschaftliche Wiederaufbau erst nach dem Krieg geschehen kann und gegenwärtig caritative Aktionen gefragt sind. In Ex-Jugoslawien ist aber auch deshalb Krieg, weil angesichts fortdauernder ökonomischer Abgrenzung des Westens gegen die südosteuropäischen Habenichtse das Erbe der Titoschen Sozialismusvariante nun mit Waffengewalt umverteilt wird. Widersprüchliche politische Aktionen von EG- und NATO-Staaten ohne konkrete Hilfsangebote zur Überwindung des kriegsverursachenden status quo ante sind genauso kontraproduktiv wie militärische Aktionen ohne konkrete Aussagen über das Nachkriegsverhalten der Helfer. Die begründete Hoffnung auf einen demokratiefähigen Marshallplan für die Kommunen und Regionen in Ex-Jugoslawien kann den Krieg schneller beenden helfen als jede militärische Intervention. Vielleicht kann die Verweigerung militärischer Einsätze nichtmilitärische Optionen befördern helfen.

Der neue amerikanische Vizepräsident Al Gore hat einen globalen Marshallplan für unsere waidwunde Welt projiziert. Nicht militärische Befriedung oder diplomatisches Konflikthandling ist gefragt, sondern ein lokales, regionales und globales Entwicklungsmanagement, das einfühlsames Teilen ebenso zur Voraussetzung hat wie politische Härte gegen militante Pseudopolitiker. Selbst wenn wir schon so weit wären, müßten aber noch Millionen an den Folgen unseres bisherigen Tuns sterben.

Siegfried Fischer ist einer der beiden Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1993/1 Zivil und militärisch, Seite