W&F 2023/4

»Designing Peace« – Den Frieden gestalten

Jetzt eine bessere Zukunft schaffen

von Cynthia E. Smith, Kuratorin von »Designing Peace«

Bild von Näherin

Designing Peace: Safe Passage Bags Workshop« | Lesvos Solidarity
Collaborators: Humade Crafts | Lesbos | 2015-heute

Ich stand am Eingang eines von Bürger*innen betriebenen Geflüchtetenlagers auf Lesbos, einer kleinen griechischen Insel mit etwa 100.000 Einwohner*innen in der Nähe der Türkei. Es sah nicht wie ein typisches Flüchtlingslager der Vereinten Nationen aus, mit einer Reihe einheitlicher weißer Zelte. Mehrere orangefarbene Schwimmwesten, die an einem Zaun aufgereiht waren, verkündeten in großen schwarzen Buchstaben die hoffnungsvolle Botschaft »SAFE PASSAGE«. Diese wiederverwendeten Westen waren von Tausenden von Migrant*innen zurückgelassen worden, die die tückische acht Meilen lange Überfahrt von der Türkei über die Ägäis erfolgreich hinter sich gebracht hatten. Sie wurden von Inselbewohner*innen gesammelt und zeugen von dem Mut, den man braucht, um seine Heimat zu verlassen – auf der Flucht vor Konflikten, Verfolgung und Armut – und sich auf eine ungewisse Reise auf der Suche nach Sicherheit und einer besseren Zukunft zu begeben.

Neben einladenden Schildern sah ich geschäftige Werkstätten im Freien, Menschen auf dem Weg zu medizinischer und juristischer Unterstützung, von Gärten umgebene Wohnviertel, Versammlungsräume mit schützenden Baumkronen und mit großen Wandmalereien versehene Gebäude. Als 2012 die ersten Geflüchteten ankamen – zu Spitzenzeiten waren es fünftausend pro Tag – übernahmen die Anwohner*innen ein leerstehendes ehemaliges Kinderferienlager namens »Pipka« und richteten in Solidarität mit den Neuankömmlingen ein offenes Camp ein.1 In den darauffolgenden acht Jahren bot es den Bedürftigsten einen würdigen Empfang und bot medizinische und rechtliche Unterstützung sowie Sprach- und Berufsausbildung für Geflüchtete und Einheimische gleichermaßen.2

Das Pipka-Solidaritätscamp ist ein Beispiel für die Bemühungen einer wachsenden globalen Bewegung, die der zunehmenden Uneinigkeit und Unsicherheit entgegentreten und eine weitaus friedlichere Zukunft anstreben und aufbauen will. Von Nachbarschaften bis hin zu globalen Netzwerken stellen die Menschen Institutionen und Strukturen in Frage, die durch Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Dominanz entstanden sind, und sie nutzen dabei die Prinzipien, Strategien und Praktiken des Designs.3 Sie erforschen und entwerfen eine andere Welt mit inklusiven, partizipativen Gesellschaften, die Gleichheit, Gerechtigkeit, Kreativität und gegenseitige Zusammenarbeit schätzen, die unsere voneinander abhängigen belebten und nicht-belebten Ökosysteme respektieren, die frei von Gefahr, Ausgrenzung, Gewalt und Angst sind und die unterschiedliche Stimmen, Verhaltensweisen, Ansichten sowie kulturelle und geschlechtliche Ausdrucksformen akzeptieren.

Meine bisherigen Forschungen haben zu einer Reihe von Ausstellungen, Programmen und Publikationen geführt, die sich mit der Frage befassten, wie Design – in jedem Maßstab und in allen Teilen der Welt – einige unserer drängendsten Probleme angehen kann. In einer Zeit wachsender Unsicherheit und Chaos, eskalierender Umweltschäden und sozio­ökonomischer Ungleichheit, die durch zunehmenden Extremismus und Nationalismus noch verstärkt werden, begann ich meine aktuelle Untersuchung mit der Frage, was möglich wäre, wenn die Gesellschaft für den Frieden gestalten würde.

Die Arbeit an der »Gestaltung des Friedens« wird überall auf der Welt geleistet und ist äußerst vielfältig, wie die in dieser Zusammenstellung versammelten Arbeiten zeigen. Sie reichen von theoretischen Erkundungen bis hin zu praktischen Lösungen und spiegeln das Ausmaß und die Reichweite der Praxis in verschiedenen Regionen und Kulturen wider. Design und Friedensförderung sind dynamische Prozesse, die durch Engagement, Vertrauensbildung, Kommunikation, Iteration und ein Verständnis für den Kontext positive Veränderungen ermöglichen. Zusammengenommen bieten sie unvergleichliche Möglichkeiten für die Formulierung und Umsetzung von transformativen Antworten auf schlimme Situationen und ungerechte Systeme. Insgesamt erforscht »Designing Peace« die Möglichkeiten, wie wir unsere kreativen Kräfte bündeln können, um uns die Zukunft vorzustellen, in der wir leben wollen – und um Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu schaffen.

Auszug aus dem einleitenden Essay zur »Designing Peace: Building a Better Future Now«-Publikation. Die namensgleiche Ausstellung im New Yorker »Cooper Hewitt, Smithsonian Design Museum« war von Juni bis August 2023 zu sehen, digital ist sie hier zu finden: cooperhewitt.org/channel/designing-peace.

Anmerkungen

1) Die organisierende Gruppe Lesvos Solidarity beschreibt ihr Solidaritätsmodell als Förderung von „Gleichheit, Vertrauen, Gerechtigkeit, Respekt voreinander und vor der Umwelt, Kreativität, Empowerment und aktiver Beteiligung“.

2) Das Lager wurde von der griechischen Regierung im Oktober 2020 geschlossen.

3) Caroline Hill, Michelle Molitor und Christine Ortiz von der Equity Design Collaborative behaupten, dass „Rassismus und Ungerechtigkeit Produkte des Designs sind. Sie können auch redesigned werden.“ (15.11.2016, ­medium.com).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2023/4 40 Jahre W&F, Seite 52