W&F 2018/2

Die alte Weltmilitärordnung

Ein Epilog

von Ekkehart Krippendorff

Im Februar 2018 starb Ekkehart Krippendorff, Politikwissenschaftler und Mitbegründer der westdeutschen Friedensforschung. Vom Bewusstsein einer „nicht abtragbaren Schuld des Nazismus“ geprägt, beharrte er nachdrücklich auf dem Pazifismus als Leitmotiv für sein Leben und Werk und scheute auch nicht davor zurück, sich mit seiner eigenen Zunft, den Internationalen Beziehungen und der Friedens- und Konfliktforschung, anzulegen, denen er Anpassung an die herrschenden Verhältnisse vorwarf.
Anstelle eines Nachrufs soll er hier selbst zu Wort kommen, mit einem Text von 1993, den er nach dem ersten Golfkrieg der USA gegen Irak schrieb.

Die ganze Monstrosität, die sich unter dem neutralen Titel der Internationalen Politik verbirgt, kam in dem Krieg zur Rückeroberung des Scheichtums Kuweit auf ihren wahren Begriff und wurde bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Als Christoph Columbus 1492 mit drei Karavellen Sevilla verließ, um den Seeweg nach Indien zu finden und dabei einen Kontinent entdeckte, den er so für seine Eroberung zugänglich machte, war das auch mehr als das Abenteuer eines Kapitäns: die ganze expansiv-aggressive Energie, die sich in Westeuropa etwa zweihundert Jahre lang aufgestaut hatte, der Drang der europäischen Krieger- und Händlerklassen nach Herrschaft und Profit, gekoppelt mit dem technischen Erfindungsreichtum ihrer Intellektuellen und Ingenieure, der religiöse Eifer einer sich allen anderen Rassen überlegen fühlenden Kultur, die steigende Meisterung der Natur, die vor keinem Widerstand zurückschreckt – all das ging ein in die Expedition. Die Folgen waren absehbar und nicht absehbar zugleich.

Und so dann auch wieder in den Operationen »Wüstenschild« und »Wüstensturm«: Jahrhunderte gelernter soldatischer Disziplin und Akzeptanz der großen Projekte der Führer (»The Commanders« nennt Bob Woodward wie selbstverständlich seine Studie über den engsten Kreis der amerikanischen Politiker-Klasse am Vorabend des Golfkrieges), Jahrhunderte auch der Entwicklung raffiniertester Zerstörungstechnologien, hervorgegangen aus der okzidentalen Naturwissenschaft als Naturunterwerfung, gingen ein in diesen Krieg, tief eingeschliffene Weltbilder als Weltkarten-Bilder in den Köpfen der Außenpolitiker im Spiel um die Macht, um historische Größe und um Nachruhm in der Geschichte (im Kreise der »Commanders« weiß man: »um ein großer Präsident zu sein, brauchst du einen Krieg – und du mußt als der Angegriffene erscheinen«) – das alles gehört zum Hintergrund, der zugleich ein Vordergrund ist, für die geradezu reflexartige Reaktion der westlichen Staatsherren, den vergleichsweise geringfügigen Ambitionen des irakischen Potentaten mit dem massiven Einsatz aller ihnen zur Verfügung stehenden Mittel entgegenzutreten und ihn in seine Schranken zu verweisen.

Als im 4. vorchristlichen Jahrhundert der Makedonier König Alexander, um der Große zu werden, sich anschickte, Asien zu erobern, wurde er mit dem mythischen Gordischen Knoten konfrontiert: nur der werde Asien beherrschen, der ihn zu lösen verstehe. Alexander nahm sein Schwert und zerhieb das komplizierte Fadengebilde; er hatte einfach nicht die Geduld noch genügend ausgebildete Fähigkeiten, mit intellektuell und kulturell schwierigen Aufgaben umzugehen, geschweige denn fertigzuwerden. Der Schwertstreich schien ihm die einfachere Lösung, der schnellere Weg zu Erfolg und historischem Ruhm. Letzteren hat er bekanntlich gewonnen – ersteren kaum, denn sein Reich zerfiel schneller unter den Diadochen, als es gedauert hatte, es zu erobern. So sehen in der Regel die militärischen, die Gewaltlösungen aus. Den großen Siegen folgen die Probleme, und die Sieger nehmen ihre Erfolge mit ins Grab.

Sie sind – wie Alexander, nur in der Regel noch kleiner – Kämpfer, Krieger und Sieger, weil sie die Fähigkeit zur Vereinfachung von Problemen, d.h. zur Umgehung der Probleme oder auch zur Reduktion von Komplexität auf den primitiven Nenner der Schwertgewalt mitbringen. Damit können sie auch und nicht zuletzt das Publikum hinter sich bringen, das – verständlicherweise – Vereinfachungen liebt: wenn die Herrschenden schon ständig ihre Untertanen – sei es als demokratisch Regierte, sei es als unterdrückt­eingeschüchterte Massen – als Fußvolk ihrer Globalstrategien, bestehend aus Wirtschaftspotentialen, Machtgleichgewichten und zu füllenden Vakua, in Bewegung halten, dann soll das Spektakel wenigstens übersichtlich gestaltet sein. Völker und Kulturen haben, wo sie miteinander in Kontakt treten, immer Reibungsflächen, Konflikte, Spannungsverhältnisse. Aber sofern daraus nicht Herrschaftskonflikte konkurrierender Dynasten (oder ihrer demokratisch legitimierten Nachfolger) werden, entsteht aus eben diesen Berührungen Kultur, Kreativität, Neues. Das ist aufregend, aber auch anstrengend, eine Herausforderung für alle Mitglieder der betreffenden Völker, Rassen und Kulturen. Herrschaft hingegen bietet die Vereinfachung an, reduziert Komplexität, offeriert statt der schwierigen Auseinandersetzung die Versuchung, an der Ausbeutung durch Eroberung teilzunehmen; sie ersetzt den vielstimmigen interkulturellen, inter-nationalen Dialog durch den Monolog der Gewalt, verdinglicht im Schwert, im trainierten Militär, in der Technologie der Waffen. Alexanders Truppen jubelten ihm zu, als er den Knoten auf seine einfache Art löste; die Konquistadoren in der Nachfolge des Columbus gaben sich ebenfalls keine Mühe, die Sprachen und Kulturen der »entdeckten« Völker zu lernen; für die »Commanders« in den elektronischen Schalträumen der US-amerikanischen Politikmaschine in Washington waren und sind die Araber nicht viel mehr als auf strategischen Weltkarten plazierte Spielfiguren, die Region, die sie bewohnen, keine Kulturlandschaft, sondern schlicht »Wüste«. Die britische Zeitschrift »The Middle East«, die daraus ihre Titelseite gestaltete, hat diese Wahrheit besser auf den sinnlich wahrnehmbaren Begriff gebracht, als es eine umständlich argumentierende Politikkritik vermöchte.

Krieg und Weltspiel sind zwei Seiten derselben Medaille der Herrschaft, die Bevölkerungen – Menschen, Kulturen, Gesellschaften – als Objekte betrachtet und einsetzt. Sie sind ihre materialen Mittel der Verwirklichung von Macht, gestern in der Form dynastischer Gefolgschaften, heute im Gehäuse moderner Staaten. In Krieg und Spiel wird gewonnen und verloren – aber die Sieger sind immer dieselben und die Verlierer auch: Es siegen die Herrschenden, und es verlieren die Beherrschten, ganz gleich, wie das Spiel oder der Krieg selbst ausgeht. Saddam Hussein ist bekanntlich immer noch an der Macht, so wie seine Gegenspieler Bush & Co., und auch wenn man auf den angeblichen Saddam­Bruder Hitler verweisen würde, der doch, Herrscher, der er zweifellos war, verlor und von der Bühne verschwand (durch Selbst-Mord, nicht durch Exekution!), so bleibt doch die uns allen nur zu gut bekannte Tatsache, daß die, die mit Hitler in Deutschland das Sagen gehabt hatten, sehr bald wieder auf ihren Kommandostühlen saßen. Im Kriegsspiel geopfert wurden Millionen von Soldaten und kleinen Leuten, auf seiten der Sieger so gut wie auf seiten der Besiegten. Daß es in diesem Golfkrieg auf Siegerseite so wenig Geopferte gab, war ja eher ein Glücksfall: gerechnet hatte man bekanntlich mit bis zu 80 000 eigenen Toten und fand auch diesen Preis nicht zu hoch für den Sieg, als das Signal zur Schlacht gegeben wurde. Dem Besiegten war der Preis seiner »Mutter aller Schlachten« von mehr als 100 000 Toten auch nicht zu hoch für seinen Platz im Pantheon der großen Menschenverächter, er hat sie bekanntlich nicht einmal zu zählen für nötig befunden. Und sein Spiel geht weiter – so wie das der Neuen Weltordnung. Es bleibt, solange wir es uns gefallen lassen, von den Herrschenden regiert, manipuliert und in ihrem Spiel benutzt zu werden, die alte, einfache Weltmilitärordnung, deren Logik der Macht der Gewehrläufe entspricht, denn nur das ist die Sprache, die sie sprechen und gegenseitig verstehen. Eine menschliche Sprache aber ist das nicht.

Textauszug aus: Ekkehart Krippendorff, Militärkritik. S. 128-132. ©Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1993. Alle Rechte bei und vorbehalten durch den Suhrkamp Verlag Berlin. Die Rechtschreibung folgt dem Original.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2018/2 Wissenschaft im Dienste des Militärs?, Seite 56–57