W&F 2001/4

Die Amerikaner als Nachfolger Roms?

Strategische Konfliktmuster auf dem Balkan / Interview mit Willy Wimmer

von Willy Wimmer, Karl D. Bredthauer und Margund Zetzmann

Die Redaktion der Blätter für deutsche und internationale Politik hat in ihrer September-Ausgabe ein Interview mit dem CDU-MdB und ehemaligen Staatssekretär im Verteidigungsministerium Willy Wimmer zur Lage auf dem Balkan geführt. Mit freundlicher Genehmigung von Redaktion und Verlag der »Blätter« drucken wir dieses Interview leicht gekürzt nach. In diesem Interview nimmt Willy Wimmer auch Bezug auf einen offenen Brief von ihm an Bundeskanzler Schröder vom Mai dieses Jahres, den wir gleichfalls dokumentieren.

Da hat die NATO massiv interveniert, Jugoslawien bombardiert, das Kosovo-Protektorat eingerichtet, Milosevic sitzt in Den Haag ein – aber auf dem Balkan geht es immer weiter. Wieso? Jetzt knallt es in Mazedonien – vorher hatten wir die albanischen Terroristen in der demilitarisierten Zone unter den Augen der NATO, davor die – man muss wohl sagen: – Farce einer Entwaffnung der UCK im Kosovo selbst und, ebenfalls unter den Augen der NATO, die Vertreibung der Serben, Roma, Juden, verschiedener Minderheiten, die Bedrängnis der katholischen Albaner und so weiter. Wie oft kann man in aller Unschuld den gleichen Fehler wiederholen? Die offiziellen Erklärungen zum Umgang mit Mazedonien und mit der geplanten Operation »Essential Harvest« beleidigen den gesunden Menschenverstand. Es stellt sich die Frage, ob hinter der Serie vermeintlicher Irrtümer und Versäumnisse, Fehltritte und Entgleisungen, Pech und Tragik auf dem Balkan vielleicht doch ein Muster steckt. Sie, Herr Wimmer, gehen davon aus, dass es, zumindest auf amerikanischer Seite, eine langfristige Strategie gibt, die Schritt für Schritt umgesetzt wird. – Eine gewagte These, mit der Sie sicherlich ungläubige Mienen und betretene Reaktionen ernten…

Um bei Letzterem anzufangen: Nein, überhaupt nicht. Die Reaktionen sind hochinteressant. Ich stoße keineswegs auf Ungläubigkeit und erstaunte Gesichter. Vielleicht sind die Leute heute – quer durch das öffentliche Bild – so aufgeschlossen, weil sie das Gefühl haben, dass man sie im Zusammenhang mit dem Jugoslawien-Krieg gnadenlos über den Tisch gezogen hat.

Welche Leute haben Sie im Auge?

Vor allem die Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag, aber auch viele aus den deutschen Medien.

Was lässt diese Leute positiv auf Ihre kritischen Thesen reagieren?

Das Bewusstsein dafür, dass Dinge, wie sie in den zurückliegenden Jahren abgelaufen sind, auf Dauer nicht ablaufen können, ohne uns alle zu gefährden. Man ist der Auffassung, wenn wir nicht zu der globalen Rechtsordnung zurückkehren, bekommen wir das Faustrecht. Das beunruhigt die Leute zunehmend, natürlich auch im Zusammenhang mit unserer Mitgliedschaft in der NATO. Man ist der NATO unter dem Gesichtspunkt eines klar umrissenen Auftrages beigetreten: Verteidigung. Und mit der klaren Aussage, dass es sich um eine Wertegemeinschaft handelt. Man ist ja keiner Gang beigetreten, die nach außen das Faustrecht praktiziert und wo der Stärkste auch intern dominiert. Aber die Entwicklung weist seit geraumer Zeit Dissonanzen auf und in Zusammenhang mit der aktuellen Entwicklung in Mazedonien sieht man, dass, jedenfalls nach der internationalen Berichterstattungslage, das amerikanische Tun und die strategischen Überlegungen, die dahinter stecken, in einem Gegensatz stehen zu dem, was die europäischen Staaten wollen…

Und wie sollen die Europäer, wie sollen Bundesregierung und Bundestag mit der entstandenen Situation umgehen?

Wir kennen die Verdrängungsmechanismen der letzten Jahre, aber vor wenigen Wochen ist für diese Verdrängungsphilosophien ein Schlusspunkt gesetzt worden: in der Verhandlung des Bundesverfassungsgerichtes über die vorliegende PDS-Klage.1 Man hätte sich in der deutschen politischen Diskussion der zurückliegenden Jahre die Sorgfalt gewünscht, die die Richter in Karlsruhe an den Tag gelegt haben. Ich finde, was das Bundesverfassungsgericht da gemacht hat, ist für das politische Bewusstsein unseres Volkes – man muss jetzt natürlich noch das Urteil abwarten – von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Egal, wo jemand in dieser Sache bisher gestanden hat: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass in Karlsruhe Fragen auf den Tisch gekommen sind, die vorher weggedrängt wurden. Auch unter einem anderen Aspekt: Es gibt bis heute viele Leute, die den Generalbundesanwalt veranlassen wollen, gegen diejenigen vorzugehen, die den Krieg gegen Jugoslawien auf deutscher Seite zu verantworten haben. Erstaunlicherweise präsentiert der Generalbundesanwalt diesen Leuten immer noch Erklärungen, die selbst der Außen- und der Verteidigungsminister, die diese Erklärungen damals abgegeben haben, heute nicht mehr verwenden. Diese Menschen bekommen also über den Krieg als solchen hinaus einen weiteren, wie ich finde, verheerenden Eindruck vom System der Bundesrepublik Deutschland. Der Generalbundesanwalt nimmt ihnen den Glauben in die Funktionsfähigkeit des Systems. Die Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht hat hier, aus meiner Sicht zum Glück, einen Halt gesetzt. Vor diesem Hintergrund kann man alles, was wir politisch in Deutschland und auch international zu erwarten haben, auf den Herbst vertagen, weil da die Bundesregierung und wer auch immer in Deutschland die Karten gelegt bekommen wird. Ich glaube, auch die Bundesregierung und alle, die an diesem Krieg in besonderer Weise beteiligt waren, sehen das so. Da kommt was auf uns zu.

Skizzieren Sie kurz die Substanz dessen, was an den Fragen der Karlsruher neu ist?

Es ging um all die Fragen, die in der Öffentlichkeit gestellt worden sind – vom Völkerrecht bis hin zu der tatsächlichen Situation, die den Anlass zum Kriegseinsatz gab, und ob das seinerzeitige Verhalten vor dem Hintergrund der rechtlichen Überprüfung Bestand hat. Das fängt mit der Frage an: Zu welchem Zweck gibt es die NATO eigentlich? Ist das ein Verteidigungsbündnis oder kann sie weltweit eingesetzt werden, je nach der Interessenlage eines wichtigen Mitgliedstaates. Hinzu kommt die Frage, wie Gewalt international überhaupt zu legitimieren ist, wenn ich sie anwende. Beachte ich das Regelwerk der Vereinten Nationen oder mache ich aus Opportunitätsgründen das, was ich will? Die Interessenlage der USA scheint offensichtlich eine andere zu sein als die europäischen Interessenlagen. Da fragt man sich natürlich im Nachhinein noch, welche Auswirkungen hat diese Interessendivergenz für den Krieg gegen Jugoslawien gehabt? Ist uns da was vorgemacht worden oder sind das stringente Abläufe gewesen? Und man kommt mehr und mehr zu der Fragestellung, ob nicht die Prozesse, die insgesamt seit 1990 auf dem Balkan abgelaufen sind, von vorneherein einer amerikanischen Überlegung gedient haben: eine Präsenz auf dem Balkan zu bekommen, die es seit 1945 nicht gegeben hat. Ich denke an strategische Überlegungen, die einmal mit der Situation in Europa zusammenhängen und auf der anderen Seite natürlich mit der Rolle der Vereinigten Staaten, erstens in dem Problemfeld Naher Osten und zweitens bei den bekannten Energiefragen, die um das Kaspische Meer und um die Pipelineverbindungen nach Europa usw. angesiedelt werden müssen.

Konzentrieren wir uns auf die USA und die unterstellte Strategie: Braucht man dafür tatsächlich Krieg? Man sollte im Übrigen nicht aus den Augen verlieren, dass auf dem Balkan zunächst einmal die deutsche Politik Vorreiter der Entwicklung zu ethnisch bestimmten Nationalstaaten war, mit der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens 1991/92. Bleibt zu fragen, aus welchen Gründen die Amerikaner, zu einem späteren Zeitpunkt, auf diese ethnische Strategie eingeschwenkt sind.

Es fragt sich, ob wir nicht vor dem Hintergrund der Dinge, die wir heute sehen, noch weiter zurückgehen müssen. Wir haben im Vorfeld des Krieges gegen Jugoslawien gesehen, dass es bei uns einen fast schon aggressiven Unwillen gab, sich mit der Situation zu beschäftigen, die in diesem Raum zwischen1945 und 1990 bestand – möglicherweise deshalb, weil dabei bequeme Feindbilder in Frage gestellt worden wären. Außer Zweifel steht, dass die Vereinigten Staaten sehr frühzeitig auf die albanische Karte gesetzt haben, in Zusammenhang mit ihrem (offiziell 1997) gegen den Willen der jugoslawischen Regierung in Priština eingerichteten Verbindungsbüro und den langjährigen Aktivitäten des ehemaligen republikanischen Fraktionsvorsitzenden im US-Senat Bob Dole.

Versäumnisse im Zweiten Weltkrieg

Ich habe selber Anfang Mai vergangenen Jahres an einer Konferenz in Bratislava teilgenommen, auf der höchstrangige amerikanische Repräsentanten sich über ihre Strategie zum Balkan ausgelassen haben. Die Veranstaltung war organisiert vom amerikanischen Außenministerium und der Denkfabrik der Republikanischen Partei, dem American Enterprise Institute. Zu den Teilnehmern gehörten Ministerpräsidenten, Außenminister, Verteidigungsminister, der persönliche Beauftragte des NATO-Oberbefehlshabers und, und, und – darunter auch jemand, der, wenn die Namensgleichheit stimmt, heute Staatssekretär im amerikanischen Außenministerium ist. Auf dieser Konferenz spielte im Prinzip all das, was uns zwischen 1992 und1999 berührt hat, keine Rolle mehr. Da wurde in aller Klarheit gesagt: Der Grund, warum wir auf den Balkan gegangen sind, liegt in den Versäumnissen des Zweiten Weltkrieges, als Eisenhower es unterließ, dort Bodentruppen zu stationieren. Das mussten wir unter allen Umständen nachholen. Warum? Aus den Gründen, die immer mit der Stationierung von Bodentruppen verbunden sind, nämlich Kontrolle über eine Region zu bekommen. Das lässt sich weder von Flugzeugen noch von Schiffen aus machen. Zweiter Punkt: Es wundert mich schon, wenn – wie in Bratislava – die Frage der europäischen sicherheitspolitischen Identität oder europäischer Verteidigungsstrukturen von amerikanischer Seite wie der leibhaftige Gottseibeiuns behandelt wird. Alles, was auf einen eigenständigen europäischen Willen ausgerichtet ist, wird in dieser Sicht als höchst kritisch bewertet. Ich beklage das nicht, ich sage nur, das wird deutlich ausgesprochen und ich muss mich als Europäer fragen, wie ich darauf antworte und ob ich solche Verlautbarungen als die »Gesetze Moses« ansehe oder mir Gedanken darüber mache, wie meine eigenen Interessen aussehen. Ein dritter Punkt in diesem Kontext: Die Amerikaner empfinden sich auf seltsame Weise als Nachfolger Roms. Nach dem Motto: Die Römer haben das Mittelmeer als Mare Nostrum und die nordafrikanische Gegenküste als ihr Betätigungsfeld betrachtet und wir, die Amerikaner, sehen den Atlantik als unser Mittelmeer, als unser Mare Nostrum, und Europa als unsere Gegenküste. Deswegen gelte es eine Linie zu ziehen von den Ostseezugängen nach St. Petersburg über die baltischen Staaten bis nach Odessa am Schwarzen Meer, von Odessa nach Istanbul und dann nach Anatolien. Alles, was östlich davon ist – das sage ich jetzt mit meinen Worten – interessiert uns nicht, alles, was westlich davon liegt, ist unser. Ziel müsse es sein, einen ungehinderten Zugang westlich dieser Linie Baltikum-Odessa-Anatolien zu haben, um eine durchgehende Landverbindung auf eigenem Territorium zwischen Anatolien und Polen sicherzustellen. Angesichts unserer heutigen Mazedonienerfahrung erweisen sich die Aussagen dieser Konferenz als höchst politisch. Das sind keine Spekulationen, das läuft auf praktische Politik hinaus. Wir hören gerade in diesen Tagen – das wird zwar dementiert, aber wir wissen auch, wie Dementis zu bewerten sind – , dass es Verhandlungen zwischen der NATO, der amerikanischen Seite und der jugoslawischen Zentralregierung über Stützpunktrechte auf dem Balkan gibt. Das betrifft die langfristige Legitimation von Camp Bondsteel im Kosovo und darüber hinaus die Bereitstellung eines Luftwaffenstützpunktes und einer Radarstation in Serbien. Wenn ich das sehe, kann ich nur sagen: Man hat mir und anderen in Bratislava offensichtlich nichts vorgemacht.

Wie haben denn die anderen Teilnehmer dort reagiert? Es waren ja wohl eine Reihe Ost- und Südosteuropäer darunter…

Na ja, die Osteuropäer erinnern sich noch an ihre Situation im Warschauer Pakt …

Das heißt?

Man nimmt hin, was der große Bruder sagt. – Ich habe jedenfalls den Ablauf dieser Veranstaltung und die Inhalte, die da präsentiert wurden, so ernst genommen, dass ich dem Bundeskanzler in einem Brief (siehe Kasten – d. Red.) darüber berichtet habe.

Ähnliche Szenarien, wie die von Ihnen hier skizzierten, hat man zu Beginn des Kosovokriegs aus ganz anderen politischen Richtungen gehört. Ich erinnere mich z. B. an eine Veranstaltung mit Jutta Ditfurth, die einem ungläubigen Publikum genau solche Vorstellungen klar zu machen versuchte: Die Amerikaner wollen den Zugang zum Kaspischen Meer, Öl- und Gaslieferungen usw.

Ich verstehe die Skepsis. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie es mir ging. Ich kam nach Bratislava im Bewusstsein der offiziellen Erklärungen der NATO und der Bundesregierung zum Kosovokrieg. Da war ja Humanität das oberste. Und dann sagt jemand in einem mit zahlreichen Landkarten illustrierten Vortrag – übrigens eingeleitet mit der Bemerkung: Dieser Vortrag richtet sich eigentlich an ein amerikanisches Publikum – , was die eigentliche Triebfeder der Entwicklung war.

Bleibt natürlich die Sinnfrage: Wieso Krieg führen oder schüren, um in Südosteuropa Truppen stationieren zu können? In der Region, die Sie umrissen haben, drängen ja Regierungen jeglicher Couleur in die NATO …

Was die Situation auf dem Balkan angeht, ist letzter Stand der Dinge, dass höchstrangige Gesprächspartner aus der gesamten Region auf folgendes aufmerksam machen: 1. Das, womit sich Belgrad im Augenblick beschäftigt, ist die Frage, werden die Pipelines für das Öl aus dem Kaspischen Meer nördlich von Belgrad verlaufen oder über Kosovo-Gebiet. Als ich vor zweieinhalb Jahren darauf aufmerksam gemacht habe, dass das eine Fragestellung sein könnte, bin ich von dem einen oder anderen sehr kritisch angegangen worden. Inzwischen ist das fast gesetztes Wissen. 2. Es spricht auch eine Menge dafür – so sehen das jedenfalls Gesprächspartner aus der Region – , dass die Situation auf dem Balkan eine Art Kompensation für den Konflikt im Nahen Osten darstellt, nach dem Motto: Letztlich wird ein Einvernehmen zwischen der israelischen und der palästinensischen Seite nicht zustande zu bringen sein und um das generelle Einvernehmen mit der islamischen Welt, das man braucht, nicht zu gefährden, versuchen die Amerikaner den Balkan zu einer Reservefläche zu machen. Kurz: Das Verständnis und die Einigung, die wir im Nahen Osten mit der islamischen Welt nicht bekommen, werden wir in jedem Fall auf dem Balkan sicherstellen. Es ist ja vielleicht mehr als ein Symbol – so wird das jedenfalls in der Region gesehen – , dass unmittelbar nach den letzten schweren Bombenangriffen gegen Bagdad, am Tag danach, die Albaner in der katholischen Kirche von Priština die Vereinigten Staaten zum Schutzherrn der islamischen Welt ausgerufen haben. 3. Wir wissen, seitdem es westliche Beteiligungen an Erdölkonsortien im Schwarzen Meer gibt, um die Interessenlage in dieser Region. Dazu zählt – aus der Sicht der Erdölkonsortien – , dass die Pipelines in Richtung Italien und Spanien laufen sollen. Im Wesentlichen natürlich zunächst mal über das Gebiet des NATO-Partners Türkei. Auf die Frage, warum nach Italien und Spanien, hat man geantwortet: Um das Verbundensein dieser Region mit dem libyschen und nigerianischen Erdöl zu konterkarieren. Das sind Dinge, auf die wir keinen Einfluss haben, selbst der aserbaidschanische Präsident nicht, der mir immer wieder gesagt hat: Ich möchte eigentlich das Öl aus Aserbaidschan über Odessa und Warschau direkt nach Deutschland pumpen.

Wer braucht den Mazedonien-Konflikt?

Wechseln wir zum Thema Mazedonien: Wozu braucht man denn dort einen Konflikt – oder warum geht man so ungeschickt damit um – , obwohl doch die Dinge im Wesentlichen auf die Gleise gesetzt sind? Man hat neue Verhältnisse in Belgrad, man hat die Möglichkeit, im Kosovo Stützpunkte auszubauen, sei es künftig mit dem Segen von Belgrad, sei es mit dem Segen der UCK oder kosovo-albanischer Autoritäten. Warum jetzt dieser Konflikt? Das Einsickern lassen– oder das Nichtverhindern können – der mazedonischen UCK, dieses Aufmischen eines Landes, das bisher als Modell gepriesen wurde …

Ich habe schon bei der Formulierung »mazedonische UCK« Bedenken, denn alles, was wir wissen, bedeutet ja, dass die Anfänge dieser Entwicklung aus dem Kosovo heraus gesteuert worden sind. Es ist schon ein tolles Stück, dass im Kosovo 40.000 hochgerüstete Soldaten stehen und irgendwelche örtlichen Häuptlinge können sich, unter den Augen dieser Soldaten, wo im Prinzip keine Maus ungesehen von einem Loch ins andere kommen kann, bewaffnen und aus dem Kosovo heraus nach Mazedonien einsickern. Ein alter Völkerrechtsgrundsatz besagt, dass man für das Gebiet, in dem man die Macht hat, Verantwortung trägt. Kosovo ist heute ein KFOR/NATO-Protektorat mit der besonderen Verantwortung der Amerikaner für das Gebiet, in dem sie sich befinden …

Die an Mazedonien angrenzende Zone, in der auch Camp Bondsteel liegt …

Genau. Ich weiß nicht, wie man seiner völkerrechtlichen Verantwortung gerecht werden will, wenn man zulässt, dass ein benachbartes Territorium destabilisiert wird. Wenn ich sage, Völkerrecht interessiert mich nicht mehr und ich sabotiere das, wo ich kann, dann komme ich natürlich zu der Vorstellung, dass ich allmächtig bin oder werden will. Ein solches Verständnis zerstört mehr als nur die Situation auf dem Balkan. Es gibt eine durchgehende Linie einsamer Entscheidungen aus Washington, vom Kyoto-Protokoll bis zum ABM-Vertrag, wo man sich fragt: Wollen die denn alles beseitigen, was bisher Zusammenarbeit und völkerrechtliche Verbindlichkeit ermöglicht hat? Wir wissen eines – das habe ich in meinem Brief an Schröder im Zusammenhang mit Positionen, die in Bratislava vertreten worden sind, unterstrichen: Das, was wir Völkerrecht nennen, ist die Konsequenz aus schrecklichen Ereignissen, die nie mehr eintreten sollen. Wenn ich aber glaube, das Völkerrecht ignorieren zu können, wann immer es meinen Interessen im Wege steht, dann öffne ich Europa dem Krieg.

Die letzten beiden Jahre der Regierung Helmut Kohls waren von dieser Mahnung geprägt. Ich kann mich an kaum eine Fraktionssitzung erinnern, in der diese Warnung – Öffnung Europas für den Krieg – nicht eine Rolle spielte. Und ich will nicht bestreiten, dass damals viele in der Fraktion nicht verstanden, was damit gemeint war. Inzwischen haben wir alle die traurige Konsequenz vor Augen. Ich bin – vielleicht als Randbemerkung – Zeuge im Untersuchungsausschuss Leuna/»Fuchs« gewesen, weil ich damals – in der Zeit, als der »Fuchs« ein Thema wurde – parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium war. Als meine Aussage zuende ging, hat der Kollege Ströbele noch irgendetwas eingeworfen. Da habe ich ihm zur Antwort gegeben: Der nächste Untersuchungsausschuss, den es im Deutschen Bundestag geben wird, heißt Kosovo. Ich bin relativ sicher, dass der kommt.

Der demonstrative Unilateralismus aus Washington, auf den Sie eben hingewiesen haben, kennzeichnet ja ganz speziell die neue Administration, die ersten Monate …

Da muss ich heftigst widersprechen. George W. Bush kriegt jetzt ins Haus gekippt, was sich über Jahre hinweg unter Clinton, Holbrooke und Albright angesammelt hat. Das mündete letztlich in diese – schon starke – Formulierung von der »unverzichtbaren« Nation. Darunter können Sie alles andere subsumieren.

Wie beurteilen Sie denn, was Solana, als Vertreter der EU, und Robertson in Skopje bzw. Ochrid machen? Kann man so die Destabilisierung Mazedoniens stoppen?

Das sehe ich nicht. Nicht nur die mazedonische Öffentlichkeit reibt sich im Augenblick die Augen. Die sind jetzt acht Jahre lang Musterknaben gewesen, stets und ständig gelobt worden wegen ihrer inneren Situation, bei allen Schwierigkeiten, die es da gegeben hat. Und jetzt? Das Signal, was Europa und die Vereinigten Staaten gemeinsam Mazedonien und dem Rest Europas in diesen Stunden und Tagen geben, ist, dass sich Gewalt wieder lohnt. Wenn wir die Welt dem Faustrecht öffnen … Da kenne ich genügend Gebiete, wo wir uns betätigen können und aus meiner Sicht nicht dürfen.

Die Rhetorik klingt allerdings ganz anders – und scheint ein Stück weit auch anzukommen. Man sagt: Vertragt euch doch, ihr Albaner und ihr Mazedonier (als wären die Albaner in Tetovo keine Mazedonier). Man ruft: Dialog, keine Gewalt – und fällt dann einer gewählten Regierung in den Arm, die ihr Gewaltmonopol verteidigt.

Wir wissen doch ebenso gut wie die Mazedonier, dass das, was deren Land heute trifft, sich aus Kosovo und Albanien heraus entwickelt hat. Und da handelt es sich – jedenfalls im Kosovo – nun einmal um ein Protektorat unter unserer Ägide. Wenn wir unserer internationalen, völkerrechtlichen Verantwortung nicht gerecht werden und zulassen, dass aus dem Kosovo heraus Mazedonien destabilisiert wird, dann hat doch jeder den Eindruck: Die sind Partei und wollen unter der Überschrift Mazedonien eigentlich andere Ziele verwirklichen. Aber genau das hat inzwischen einen Umschwung in der deutschen politischen Diskussion bewirkt und dazu beigetragen, dass die Dinge, die man vor zwei Monaten oder sechs Wochen in Berlin noch glaubte hinbekommen zu können, inzwischen nicht mehr möglich sind.

Worauf spielen Sie an?

Auf die inneren Diskussionen, die in allen politischen Parteien in Berlin laufen. Das ist ja ganz ungewöhnlich, dass über eine Frage so kontrovers diskutiert wird wie über diese.

Sie denken an die rund 20 SPD-Abgeordneten um Harald Friese, die eine »Erklärung nach §31 GO« gegen die Beteiligung der Bundeswehr an einer Operation »Esential Harvest« in Mazedonien vorbereitet haben?

Fehlender Lernwille

Unter anderem. Man kann zu der Finanzdiskussion über die Bundeswehr, die die Unionsfraktion in diesem Zusammenhang angestoßen hat, stehen, wie man will. Vieles ist in diesem Zusammenhang Strategie und manches ist auch Taktik. Aber in Berlin kann keiner mehr so machen, was er will, wie das seit Herbst 1998 in Zusammenhang mit dem Krieg gegen Jugoslawien möglich war. Das geht nicht mehr.

Sehen Sie wirklich den politischen Willen, aus den Fehlern der letzten Jahre zu lernen?

Das können Sie sich, glaube ich, abschminken, so lange diejenigen am Ruder sind, die für den Krieg gegen Jugoslawien das grüne Licht gegeben haben. Das waren allerdings nicht nur diejenigen, die seit Herbst 1998 regieren, sondern auch jene, die zugelassen haben, dass die Regierung diese Verantwortung übernehmen konnte, also auch führende Kräfte aus der damaligen und heutigen Opposition. Aber die öffentliche Diskussion, die aus meiner Sicht der »inneren Hygiene« wegen unausweichlich ist, die kriegen wir. Ich rede ja mit diesem und jenem. Da höre ich auch Folgendes: Wir zählen zu der Generation, die mit ihren Eltern wenig zimperlich umgegangen ist wegen 1933. Nun müssen wir unser Urteil möglicherweise korrigieren. Und zwar wegen der Dinge, die sich jetzt in einem freien Land unter Missachtung des Rechts zugetragen haben. Das sind gewaltige Aussagen. Die Leute fühlen sich mitverantwortlich. Es bedrückt sie, dass sie zu einem Zeitpunkt, wo es ihnen mit geringeren Gefahren als ihren Eltern möglich gewesen wäre, auf Entwicklungen zuzugehen und einzugreifen, das nicht getan haben.

Deshalb noch einmal die Frage, wie man sich jetzt verhalten soll, wie die Europäer – angesichts des Verhaltens von Solana und Robertson – mit einer Situation umgehen sollen, in der Mazedonien als Spitze eines Eisbergs erscheint.

Man sollte sich überlegen, welche Leute man in europäische oder NATO-Spitzenjobs steckt. Die Herren Solana und Robertson vertreten Länder, die – mit dem Baskenland und Nordirland – ihre eigenen Probleme haben. Ich halte es nicht für glücklich, dass Leute, die aus Ländern mit derartigen Problemen kommen, in verwandten Problemfeldern für uns diese Verantwortung wahrnehmen sollen. Wir sehen ja auch, dass die Engländer im Zusammenhang mit Konflikten wie in Mazedonien oder Kosovo – da können Sie auch Tschetschenien einbeziehen – hinsichtlich ihrer NATO-Möglichkeiten ein allgemeines Verständnis dafür erwarten, dass das, was sie an Gewalt in Nordirland praktizieren, als die Norm angesehen wird, und alles, was darüber hinausgeht, als exzessive Gewaltanwendung. Ich habe mich oft gefragt, warum man, auch im NATO-Jargon, von »exzessiver« Gewalt spricht. Gewalt ist für mich immer exzessiv, vor allem, wenn sie mit Tod einher geht. Wir wissen aus den Verhandlungen, die zwischen der NATO und der jugoslawischen Seite vor dem Krieg geführt worden sind, und aus Verhandlungen zwischen der russischen Seite und der NATO hinsichtlich des Tschetschenien-Konflikts, dass man sogar Ausstattungs- und Ausbildungshilfe angeboten hat, um das nordirische Modell anderen an die Hand zu geben. Nach dem Motto, wenn ihr das Niveau haltet, werden wir euch keine Vorwürfe machen und nicht mehr mit dem Begriff exzessiver Gewalt kommen.

Aber welchen Schluss ziehen Sie daraus?

Den der massiven Einflussnahme. Ich komme an schwierigen Fragestellungen nicht dadurch vorbei, dass ich mich kleiner mache – in der Hoffnung, dass der Ärger an mir vorbei geht. All die Fragen, die wir im Zusammenhang mit dem Krieg gegen Jugoslawien nicht haben wollten, tauchen jetzt wieder auf. Deswegen müsste es verantwortliche deutsche Politik sein zu sagen und zwar in der EU, in der NATO und in den Vereinten Nationen: Wir lassen an unserem ursprünglichen Auftrag nicht rütteln. Da können Sie von mir aus noch die OSZE hinzunehmen. Mir fiel auf, dass der bayrische Ministerpräsident bei seinem kürzlichen Besuch in Moskau die OSZE unter diesem Gesichtspunkt besonders angesprochen hat; unter dem Motto: Hört auf, immer nur über Menschenrechte zu reden, redet mal wieder über Sicherheit in dieser Organisation. Ich habe doch als Mitglied des OSZE-Parlamentes vor dem Krieg gegen Jugoslawien – im Sommer 1998 in Stockholm – gesehen, dass 90% der OSZE-Parlamentarier sich dagegen aussprachen, irgendwo militärische Gewalt ohne Anbindung an die Regeln der Vereinten Nationen anzuwenden. Jetzt muss ich zwischen zwei Möglichkeiten wählen: das Gebäude, das mir bisher den Frieden gesichert und Handlungsmöglichkeiten gegeben hat, genauso einzureißen, wie es die Amerikaner, manchmal auch unter Beteiligung der britischen Hilfskräfte, seit Jahr und Tag betreiben – oder ich sage: Liebe Leute, wir müssen uns bemühen, zu den Regeln der Vereinten Nationen und der Vertragsgebundenheit der NATO zurückzukehren. Das wäre für mich eine Verantwortung, die hochpolitisch ist und von jeder Bundesregierung wahrgenommen werden müsste.

Dafür würden Sie auch Streit oder Konflikte mit anderen Bündnispartnern riskieren?

Ja, selbstverständlich. Ohne deutliche Ansprache von Problemen, geht es nicht. Nicht, wenn es sich um Substanzfragen handelt. Das machen wir zu Hause auch nicht.

Es fällt immer noch schwer zu glauben, dass man so viel Durcheinander jetzt, im Jahre 2001, braucht. Wir suchen ja nach möglichem Sinn im Unsinn: Könnte …

Das ist typisch deutsch.

… könnte dahinterstecken, dass manche Amerikaner so ähnlich denken wie Bismarck, der einmal befunden haben soll, es sei gut für die deutschen Interessen, wenn auf dem Balkan Unruhe herrscht, weil das Deutschlands Rivalen in Atem hält? Könnte es sein, dass die Europäer mit ihren unangenehmen Selbstständigkeitsambitionen durch anhaltende Unruhe auf dem Balkan gebunden werden sollen?

Gesprächspartner, die man hat – ich sage das so vorsichtig – weisen auf eine ähnlich gelagerte amerikanische Haltung hin. Und zwar vor folgendem Hintergrund: Die Dinge zwischen Westeuropa und der Russischen Föderation entwickeln sich eigentlich so, dass Fragen nach der dauerhaften Existenz der NATO unausweichlich sein werden. Wenn wir keine Verhältnisse auf dem europäischen Kontinent haben, die die Europäer von der Frage nach dem Sinn der NATO abbringen, steht die Fortexistenz der Allianz auf dem Spiel. Deswegen gibt es den Konflikt auf dem Balkan. Es gibt Leute in wichtigen Positionen, die in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam machen, dass es eine Linie der amerikanischen und möglicherweise auch der britischen Politik sei sicherzustellen, dass sich zwischen der Europäischen Union und der Türkei nichts entwickelt, was sich der unmittelbaren Einflussnahme der Vereinigten Staaten entzieht. Es ist vielleicht auch ein neuer Zug in der deutschen Politik, dass man, in Anbetracht der Schwierigkeiten, mit denen wir seit vielleicht zweieinhalb Jahren leben müssen, viele Dinge nur noch unter vier Augen abwickelt. Ich hätte nicht gedacht, dass es in diesem Land soweit kommen würde. Das hat es jedenfalls in der Zeit, als ich politisch groß geworden bin, nicht gegeben.

Wenn unser Gespräch veröffentlicht wird, haben wir möglicherweise gerade ein frisches Abkommen in Mazedonien und nach den bisherigen Deklarationen könnte dann eine 3.000 Mann starke Truppe der NATO einreisen und Waffen einsammeln. Kommt die zustande?

In Zusammenhang mit dem, was sich dann unter Umständen in Mazedonien bewegt, gibt es eine sehr ernste Fragestellung: 3.000 oder 30.000? Soweit wir wissen, soll eine solche Operation in der Verantwortung des NATO-Oberbefehlshabers Neapel laufen, ein amerikanischer Admiral. Und dem ist offensichtlich durch die bisherige Beschlusslage der NATO Handlungsfreiheit eingeräumt worden, so dass er ohne weitere Beschlussfassung Truppen nachfordern kann, wie er das für richtig hält. Das bedeutet natürlich: Wenn ich einmal reingehe, weiß ich nicht, ob ich mit 500 Mann reingehe oder ob ich dem nachher nicht 20.000 Soldaten zur Verfügung stellen muss.

Anmerkungen

1) Organstreitverfahren der PDS-Bundestagsfraktion gegen die Bundesregierung, in dem erstere beantragt, das Bundesverfassungsgericht möge feststellen: „Die Bundesregierung hat mit ihrer Zustimmung zu den Beschlüssen über das Neue Strategische Konzept der NATO auf der Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs in Washington am 23. und 24. April 1999, ohne das verfassungsmäßig vorgeschriebene Zustimmungsverfahren beim Deutschen Bundestag einzuleiten, gegen Art. 59 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetzverstoßen und damit Rechte des Deutschen Bundestages verletzt.“

(Das Gespräch führten Karl D. Bredthauer und Margund Zetzmann am 3. August 2001.)

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2001/4 China im Umbruch, Seite