Die Autopoiesis des Krieges
von Jürgen Link
Deutschland ist im ersten Krieg seit Adolf Hitler »engagiert«, doch – abgesehen von den abendlichen Nachrichten – wirken Land und Volk so, als ob sie nicht im Krieg stünden. Liegt es an der sprachlichen Verschleierung des Krieges, an der neuen politischen Konstellation oder wo liegen die Ursachen dafür, dass dieser Krieg die deutsche Normalität kaum zu berühren scheint? Jürgen Link geht in seinem Beitrag, dessen erster Teil noch während des Krieges geschrieben wurde1, den Ursachen nach um in einem »Nachtrag« Schlussfolgerungen für eine Politik der Deeskalation zu ziehen.
Fast drei Monate Krieg und wir erlebten eine vollständige Abspaltung von der alltäglichen Lebenswirklichkeit der Bevölkerungen der kriegführenden Länder (abgesehen von den Balkanvölkern); wir erlebten die hundertprozentige Professionalisierung eines Krieges. Alles signalisierte, dass dieser Krieg von den zuständigen Profis so diskret geführt wurde, als ob unser aller Normalität nicht im Geringsten berührt wäre. Wir erfuhren nichts über die realen Tornado-Einsätze, gar nichts über die Technik der elektronischen High Tech-Waffen, wie das funktioniert usw. Wurde nach längst fest etablierten »Szenarien« gebombt oder wurden neue »Optionen« ad hoc »eingespeist« (auch solche Profiwörter)? Wer entschied darüber, wer verteilte die »Aufträge«? Was haben eigentlich genau unsere Tornados alles bombardiert und mit welchem »Erfolg«? Wie reagierten die deutschen Tornado-Piloten seelisch auf die nahezu ununterbrochene Tötung von ZivilistInnen, einschließlich von KosovoalbanerInnen, auf den Tod von Babys und Kindern, der durch die Lahmlegung der Elektrizität und des Trinkwassers »implementiert« wurde, auf die bisher größte ökologische Verheerung in Europa überhaupt? (…) Wir erfuhren schon gar nichts über die Beratungen der NATO-Stäbe, in denen über die Ziele und über die jeweils neuesten Eskalationsschritte entschieden wurde: Wer hatte vorgeschlagen, auch Chemiefabriken zu bombardieren? Gab es Widerspruch dagegen? Wozu werden überhaupt noch PolitikerInnen gefragt bzw. was entscheiden die »Militärs« alles in Eigenregie? In diesem Kontext von Spezialistentum spielen auch die »Implementierungen« und »Kollateralschäden« ihre kleine, durchaus unbedeutende Rolle: Sie signalisieren Profisprache und dass die Bundeswehr das schon macht, so wie die Steuerprofis die Steuerreform – dass also alles völlig normal läuft.
Die Apathie und das Schweigen der Bevölkerung sind also keine Resultate von »Verschleierung« (und natürlich auch nicht von Zustimmung aus Überzeugung), sondern von Arbeitsteilung, Spezialisierung, Professionalisierung – in der Sprache von Niklas Luhmann gesprochen: von »funktionaler Ausdifferenzierung«. Wir haben es mit dem ausstehenden Luhmann-Band »Der Krieg der Gesellschaft« zu tun: Dieser Krieg braucht keine Vermischung mit anderen sozialen Bereichen mehr, er ist auf keine Non-Stop-Begleitung an den Stammtischen mehr angewiesen und noch weniger auf Fähnchenschwenken. Es gibt keine kleinen Siegesfeiern in den Schulen mehr und keine patriotischen Ansprachen in den Betrieben. Solche Vermischungen von Krieg mit anderem, solche »Entdifferenzierungen«, wie es bei Luhmann heissen würde, überlassen wir den unterentwickelten »SerbInnen«. Wir haben mit diesem Krieg buchstäblich nichts zu tun, weil er ohne uns auskommt: Er braucht uns nicht, er »macht sich selber« – mit dem griechischen Fachwort: er folgt dem Gesetz seiner »Autopoiesis«.
Nach Luhmann ist ein Subsystem dann völlig »ausdifferenziert« und damit selbstgenügsam, d.h. »autopoietisch«, wenn es seine Bestandteile selber herstellt. Das gilt für diesen Krieg in höchstem Masse: Sicher sind die Waffen ursprünglich von der Wirtschaft produziert und vom Steuerzahler bezahlt worden – aber als Waffen und besonders als »intelligente« Waffen funktionieren sie nur im Einsatz, also im Krieg, und die wichtigsten, die absolut alles tragenden Instrumente dieses Krieges produzieren die Militärs inzwischen ganz allein und ganz autonom. Welches sind diese tragenden Instrumente? Es sind die Strategien, nach denen die taktischen Programme verfertigt und die Waffen dann eingesetzt werden. Wenn Clausewitz noch den Krieg als die „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ definiert hatte, so gilt heute evidenterweise das Umgekehrte: Nicht Schröder, Fischer und Scharping geben der Bundeswehr irgendwelche »inputs« – ihnen bleibt lediglich die manchmal unangenehme Aufgabe, die »outputs« des Krieges zu kommentieren, notwendigerweise völlig unprofessionell und daher eigentlich überflüssigerweise. Wie der Krieg faktisch »funktioniert«, das ist einzig und allein seine eigene Sache, die Sache seiner »Autopoiesis«, das heißt konkret die der professionellen Militärs.
Die Eskalations-Strategie der NATO (d.h. die globalisierte »flexible response«2) ist also das Programm aller Programme dieses Krieges, jenes fundamentale Programm, das ihn auf eigene Beine stellt und ihn unabhängig macht von systemfremden Störungen wie etwa politischen oder gar ethischen. Die Logik dieser Eskalations-Strategie ist das
A und O dieses Krieges, das Spannendste und Interessanteste an ihm – gerade deshalb also das Unbekannteste, das niemand in Medien und Politik »interessiert«.
Was heißt demnach Eskalations-Strategie? Nichts anderes als die Verfügung über eine vollständige Stufenleiter von Waffensystemen und militärischen Reaktionsmöglichkeiten. Strukturell bestimmt ist dieser »Korb von Optionen« durch eine potenziell weltzerstörerische Vernichtungskapazität ihrer höchsten Reaktionsmöglichkeiten (Atomwaffen) und durch die totale Elektronisierung des gesamten Dispositivs (High Tech, smart weapons). Dabei soll die Schlacht, auf die früher der Krieg zielte, nach Möglichkeit dadurch präventiv entschieden, d.h. überflüssig werden, dass das Potenzial des Feindes bereits zuvor durch elektronische Steuerung aus der Luft in seiner Ausgangsstellung vernichtet wird (Air-Land-Battle).
Die Eskalations-Strategie mit monopolisierten High Tech-Waffen garantiert gegenüber technisch unterlegenen Feinden wie dem »Vietcong«, »Saddam« oder jetzt »Milosevic« (jedenfalls theoretisch) den Sieg – der Sieg ist ihr einprogrammiert, weil der Feind bei den höheren Eskalationsstufen »nicht mitziehen« kann.
Die Eskalations-Strategie schließt notwendig exterministische Konsequenzen ein. Unter Exterminismus sei die großflächige Vernichtung zivilisatorischer Grundstrukturen einschließlich der in sie eingebundenen Menschen durch den räumlich und zeitlich unvorstellbar dicht geballten Einsatz von High Tech-Waffen verstanden. Modellfälle sind Hiroshima und Nagasaki. Aber auch niedrigere Eskalationsstufen sind potentiell exterministisch, wie die Modellfälle Dresden und Vietnam (großflächige ökologische Vergiftung durch Agent Orange mit der zusätzlichen späteren Folgelast massenhafter Krebstode) beweisen. Dass der Balkankrieg 1999 nahezu von Beginn an exterministische Komponenten einbegriff, kann nur aus extrem apologetischer Sicht bestritten werden. Während im Golfkrieg noch stolz gemeldet wurde, dass die Sprengkraft der abgeworfenen Bomben schon nach wenigen Wochen die Gesamtsprengkraft des ganzen Zweiten Weltkriegs überschritten hatte, verschont man uns diesmal, offenbar weil es um »Europa« geht, mit solchen Rekordmeldungen. Bei diesen Komponenten geht es nicht um sogenannte »Kollateralschäden«, die als statistisch erwartbare »Unfälle« zwar ebenfalls einkalkuliert und insofern voll von der Eskalations-Strategie zu verantworten sind, dennoch aber nicht zu den direkt und primär einprogrammierten Zielen zählen. Vielmehr zählen hierzu die (vollständig beabsichtigten) Angriffe auf chemische Industriekomplexe (Raffinerien und andere Ölanlagen, elektrische Anlagen, Chemiefabriken, Trinkwassersysteme) und nicht zuletzt die ökologischen Langzeitschäden der Bomben selbst, mit denen noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte ein Land so dicht »belegt« worden ist wie Jugoslawien. Wenn die Sprecher der NATO stolz die geringe Rate von »Kollateralschäden« betonen, sollte man fragen, was denn die weit über 90 Prozent »Treffer« anrichten: Als ob nicht (um die toten serbischen Soldaten zu übergehen) durch das Dauerbombardement, wie es noch kein Land bisher erfahren hat, zumindest eine ganze Generation von an Milosevic ja wohl unschuldigen Kindern nachhaltig und mit bleibenden psychischen Schäden traumatisiert würde (das gilt für serbische wie für kosovoalbanische Kinder, deren Trauma nicht dadurch geringer wird, dass die Explosionen offiziell zu ihrem Schutz erfolgen).
Der konkrete Eigenname der Autopoiesis des Krieges lautet in seiner eigenen Sprache »Glaubwürdigkeit«: Dieser Name steht für den unlöslichen Zusammenhang aller Stufen und Optionen der Eskalations-Strategie. Das Grundprinzip dieser »Glaubwürdigkeit« besteht im fundamentalen »Offenhalten aller Optionen«. Es darf also in der Eskalations-Strategie (im Gegensatz zur grundlegenden Alternative einer intelligenten Deeskalations-Strategie) aus Prinzip keine »Deckelung« der Eskalationsleiter geben: Niemals darf eine weitere Eskalation prinzipiell ausgeschlossen werden, und das gilt ganz explizit vor allem auch für die höchsten Eskalationsstufen, die ABC-Optionen. Mehr noch: zur »Glaubwürdigkeit« gehört ebenso, dass auch die unteren Stufen dem Feind nicht bekannt sein dürfen, weshalb die »Option« des atomaren Erstschlags vorbehalten werden muss.
Die »Glaubwürdigkeit« erzwingt von Zeit zu Zeit den tatsächlichen Krieg: Soll die Existenz der Eskalations-Strategie »im Normalfall« bereits durch Abschreckung (deterrence) wirken, so muss in jedem Fall eine einmal konkret ausgesprochene Drohung (wie gegen Milosevic) auch wahrgemacht werden – egal was die Folgen sind und egal was die Eskalationslogik dann noch an weiteren Schritten erzwingt.
Daraus folgt ferner logisch, dass ein einseitiger und gleichzeitg unbefristeter Bombenstopp der Eskalations-Strategie völlig widerspricht – weshalb Fischer auf dem Sonderparteitag der Grünen am
13. Mai in Bielefeld lediglich auf der »Befristung« unbedingt bestehen musste. Mit der »Befristung« blieb der Parteitag voll und ganz in der Eskalations-Strategie – durch Ablehnung der »Befristung« hätte er einen Strategiewechsel vollzogen und das breite Spektrum der Möglichkeiten einer Intelligenten Deeskalations-Strategie eröffnet. Das durfte nicht sein.
Konsequent zu Ende gedacht, folgt daraus weiter, dass das eigentliche und fundamentale Kriegsziel jedes Eskalationskriegs zirkelschlüssig in letzter Instanz nichts anderes sein kann als eben die Erhaltung und nach Möglichkeit Steigerung der »Glaubwürdigkeit« von Eskalationskriegen – die letzte Autopoiesis als Eskalation um den Willen der Eskalation. Deshalb die Kompromisslosigkeit bei der Forderung nach Besetzung des Kosovo durch Truppen der dominierenden NATO-Länder und Errichtung eines militärischen NATO-Protektorats: Ein Nachgeben in diesem Punkt würde zwar das vorgebliche Kriegsziel der Annulierung der Vertreibung erfüllen können, könnte die »Glaubwürdigkeit« von Eskalationskriegen aber möglicherweise schwächen. Daher wird ein Eskalationskrieg, der nicht »glatt läuft«, eher einfach »weiterschmoren« müssen als durch einen Kompromiss beendet zu werden – auch so reproduziert sich der Krieg aus sich selbst. Es versteht sich, dass auch die entsprechende Diplomatie kein System eigenen Rechts sein kann, sondern ebenfalls allein dem Imperativ der »Glaubwürdigkeit« folgen muss – diplomatia ancilla belli. Mehr noch: Selbst die von den USA und den G 7 beherrschten Instanzen der Weltwirtschaft wie IWF, WHO und Weltbank folgen direkt der Eskalationsstrategie, wie die wiederholten Verweigerungen bzw. dann Abschlagzahlungen von Krediten an Russland und der Eiertanz um die WHO-Mitgliedschaft Chinas in jeweils direkter Abhängigkeit von deren Zustimmung (im Falle Chinas »Tolerierung«) zum NATO-Konzept beweisen.
Schließlich gehört zur Eskalations-Strategie gegen einen technisch völlig unterlegenen Feind eine eigenartige strukturelle Komplementarität und Komplizenschaft: Was der unterlegenen Seite an Technik fehlt, muss sie durch traditionale Barbarei zu kompensieren suchen. Diese Barbarei liefert der High Tech-Seite die dringend benötigten Massaker-Bilder mit Verstümmelungen, mit denen sie die »Akzeptanz« für ihre eigenen High Tech-Massaker herstellt und aufrecht erhält. Umgekehrt braucht die technisch unterlegene Seite die High Tech-Massaker, um das eigene Volk in die »fanatische« Solidarität des kollektiven unschuldigen Opfers einbinden zu können. Das wird bereits durch die High Tech als solche erreicht: Auf der unterlegenen Seite ist evident, was auf der überlegenen niemand zu thematisieren wagt: die »Feigheit«, der totale Mangel an »Fairness« dieses Krieges. (…) Die High Tech-Massaker der einen Seite heizen also den »Fanatismus« der anderen an, der wiederum die »handgemachten« Massaker multipliziert und steigert, was wiederum die »Akzeptanz« (und Multiplikation sowie Steigerung) der High Tech-Massaker vorantreibt usw.: teuflische »Autopoiesis« des Eskalationskriegs. (…)
Vor dem 24. März handelte es sich auf der Seite »unseres« Gegners um eine Kombination aus klassischem Anti-Guerrilla-Krieg gegen die UCK und dem Versuch klammheimlicher ethnischer Säuberung. Nachdem die westliche Seite an diesem 24. März Eskalationsstufen »wählte«, gegen die der Zweite Weltkrieg (abgesehen von Hiroshima) verblasst, »musste« natürlich auch die Gegenseite das Eskalationsniveau qualitativ ändern. Es wird einmal zu den Hauptaufgaben künftiger HistorikerInnen gehören, nach Beweisen dafür zu suchen, ob diese qualitative Steigerung von einem (relativ gesehen) »low intensitiy anti-subversive warfare« in Kombination mit klammheimlicher ethnischer Säuberung zur großflächigen Massenvertreibung plus großflächicher ethnischer Säuberung bereits in den NATO-Szenarien simuliert worden war. Wenn nicht, würde es von mangelnder Intelligenz und Professionalität zeugen.3 Sicher ist jedenfalls so viel, dass die exterministische Bekriegung einer mutwillig selbst mit ausgelösten »humanitären Katastrophe« nichts anderes wäre als das Tüpfelchen auf dem i perfekter militärischer Autopoiesis.4 Natürlich bleiben die »handgemachten« Massaker und Vergewaltigungen und die ethnische Säuberung auf serbischer Seite in der alleinigen Verantwortung ihrer unmittelbaren Täter und ggf. ihrer Schreibtischtäter – zur Autopoiesis dieses Krieges gehört aber unbedingt auch der »Zugzwang«, in den die technisch unterlegene Seite versetzt wurde, zur »totalen Flüchtlingswaffe« zu greifen: Zwecks »Verstopfung« der Aufmarschgebiete für eine Panzeroffensive, vor allem in Albanien und Mazedonien, zwecks tief gestaffelter Totalverminung des Kosovo, zwecks Auslösung riesiger Organisationsprobleme für die NATO und schließlich zwecks Schaffung eines mächtigen Faustpfands für Verhandlungen. Da eine Erörterung von strategischen und taktischen Einzelheiten aber die »Akzeptanz« und die an ihr hängende reibungs- und diskussionslose Finanzierung des Krieges – also seine reibungslose Autopoiesis – gefährden könnte, erhielt das Volk anstelle all dieser vertrackten Eskalationslogiken bloß die Stichworte »Hitler« und »Auschwitz« geliefert.
Wenn das über die Eskalations-Strategie Gesagte in den Grundzügen zutrifft, dann erklärt sich daraus nun auch die eingangs erwähnte weitestgehende Abschottung des Systems Öffentlichkeit vom System Krieg. Wenn das reibungslose Funktionieren der Eskalationsmaschine auf der »Autopoiesis« des Krieges, d.h. auf der vollständigen Abkopplung seiner Eskalationslogik von anderen, etwa politischen, inklusive diplomatischen, wirtschaftlichen oder gar ethischen Logiken beruht, dann ist jede »Querkopplung« des Krieges an andere Systeme eine potenzielle Störung eben dieses Krieges. Die einzige notwendige Kopplung zwischen Krieg und Öffentlichkeit ist demnach die Beschaffung pauschaler Akzeptanz – je pauschaler um so besser. Hieraus erklärt sich zunächst das fundamentale Faktum, dass über die Eskalationsstrategie selbst im Allgemeinen und die jeweiligen konkreten Eskalationsschritte im Besonderen die Öffentlichkeit vollständig im Dunkeln gelassen wird. Ebenso natürlich über die grundlegende Alternative einer intelligenten Deeskalations-Strategie.
Wenn man Medien und Politik kritisieren will, so vor allem, insofern sie dieses Spiel sichtlich erleichtert mitspielen und sich also jede militärisch-technische Frage, gar Frage nach der Eskalationslogik, geradezu gierig verbieten.5 Statt dessen haben sich Medien und Politik fast ausschließlich aufs »Bilderzeigen« spezialisiert, und zwar vor allem auf das Zeigen der »handgemachten« Massaker bzw. des Flüchtlingselends. Mit solchen Bildern werden die eigenen Feindbilder (Milosevic und »die Serben als Vergewaltiger«) stabilisiert. Man muss Rudof Scharping immer wieder das (wenn auch womöglich doppelbödige) Kompliment machen, dass er dieses Spiel des Verzichts auf alles Militärische und die Beschränkung aufs reine Bilderzeigen zwecks Aufpumpens des Feindbilds so weit wie kein anderer getrieben hat. Scharping kann dabei trotz seines notorisch schlechten Informationsstands und seines konstitutiven Mangels an strategischer Intelligenz relativ »erfolgreich« agieren, weil er sich einfach auf die implizite Logik des »autopoietischen« Krieges verlassen kann: »Ich zeige euch Bilder von mit der Hand Massakrierten, womit ich euch beweise, dass meine Tornado-Massaker diesen Massakrierten helfen. Je mehr Bilder von Massakrierten ich euch zeige, um so mehr beweise ich euch, dass meine Tornados gegen das Massakrieren helfen«. Die Kurzformel des Arguments heißt: Je mehr Massakrierte, um so klarer handelt es sich um einen »Krieg für Menschenrechte«. Gäbe es die Möglichkeit des »Querdenkens« zwischen der völlig verselbstständigten, »autopoietischen« Eskalationslogik dieses Krieges und anderen Erfahrungsbereichen, so müsste die makabre Dummheit einer solchen »Logik« ihrem Publikum, dem »Volk«, laut in die Ohren schreien.6 Dennoch soll damit gerade nicht gesagt werden, dass solche »Informationspolitik« etwa diesem Kriege nicht angemessen wäre, dass sie ihn etwa »verschleiern« würde. Sie folgt im Gegenteil voll und ganz der Logik seiner Autopoiesis, welcher das Bewusstsein von Alternativlosigkeit als Grundlage massenhafter Akzeptanz entspricht. Was bei Scharping als Mangel an Intelligenz erscheinen kann – Die Reduktion aller komplizierten Balkanprobleme auf eine bloß zweiwertige Idioten-Alternative von »entweder Milosevic oder Tornado, entweder ethnische Säuberung oder Eskalations-Strategie« – das ist genau der verbleibende »output« dieses autopoietischen Krieges fürs Volk: Alternativlosigkeit zu eben seiner Autopoiesis.
Auch der Vietnamkrieg wurde im Prinzip bereits auf der Basis der Eskalations-Strategie geführt, konnte theoretisch also eigentlich gar nicht verloren werden: Hanoi wurde bombardiert wie Belgrad, Südvietnam wie der Kosovo. Der Dschungel sollte mit Agent Orange entlaubt werden, die südvietnamesische Bevölkerung wurde in Massen vertrieben und in Lagern konzentriert, damit sich der Vietcong nicht in ihr verstecken konnte und damit sie dem Kriege nicht »im Wege stand«. Der Vietcong sollte mit Bodentruppen vernichtet werden. Das führte aber zu eigenen Opfern. Die atomare »Option« wurde, als die Bombardements (wie offenbar jetzt auf dem Balkan) zum Sieg nicht ausreichten, ernsthaft erwogen und ernsthaft vorgeschlagen. Zu diesem letzten »Einsatz« kam es vermutlich aus folgenden zwei Gründen dann doch nicht mehr: Zum einen gab es damals noch die atomaren Risikofaktoren Sowjetunion und China; zum anderen brach die »Akzeptanz« bei der Bevölkerung daheim in den USA zusammen. Angeblich vor allem wegen der Toten der eigenen Seite, in Wirklichkeit weil die Eskalations-Strategie sich bei einem immer größeren Teil der US-Bevölkerung als exterministisch erwies. Es entstand im US-amerikanischen Volk über die Trauer um die eigenen Toten hinaus ein Mitgefühl für „die traurige einsame Erde“, wie Hölderlin einmal sagte, für ein »in die Steinzeit zurückgebombtes«, zerschundenes Land, dessen sichtbare Extermination von keinem Gerede über den Schutz der Freiheit der SüdvietnamesInnen mehr aufgewogen werden konnte. Das war natürlich nicht die Sicht der Militärs und ist es bis heute nicht.
Wie konnte dieser theoretisch auf sicheren Sieg programmierte Krieg also dennoch am Ende verloren gehen? Die Antwort erscheint aus der Sicht der Militärs eindeutig: Weil die »Autopoiesis« des Krieges nicht wirklich erreicht und erhalten werden konnte – weil sie je länger je mehr gestört wurde durch Vermischungen mit Politik, Ethik und Kultur – bis das Land von Teach-ins und Liedern gegen den Krieg und Kanada und Frankreich von Deserteuren wimmelten.
Daraus musste »die Lektion gelernt werden«: Wenn Bodentruppen, dann kurz und schmerzlos. Die Konsequenz daraus wiederum hieß Intensivierung der »Luftschläge«, also Steigerung des High Tech-Exterminismus. Das seinerseits implizierte einen nicht zu lange dauernden Luftkrieg, um das schließliche Eindringen seiner exterministischen Folgen ins Bewusstsein der Bevölkerung trotz der seither enorm verschärften Informationszensur zu vermeiden. Damit ist die Eskalations-Strategie nicht zuletzt auch als Krieg gegen die Uhr konstituiert, und zwar gleich mehrfach: Je länger der Krieg dauert, desto mehr sind auch alle Feindbilder dramatisiert, desto weniger erscheinen authentisch diplomatische Kompromisse noch akzeptabel. Und vor allem schreibt die Eskalationsstrategie der Diplomatie den folgenden fatalen kategorischen Imperativ vor: Stimme keinem Resultat zu, von dem jedes Menschenwesen spontan erkennen wird, dass es auch ohne den ganzen Krieg genauso gut oder besser hätte erreicht werden können. Denn das würde ja die »Glaubwürdigkeit« künftiger Eskalationskriege verkleinern.(…) Ein anderes Wort für Eskalations-Strategie ist daher zu recht Teufelsspirale: Kann es einen Ausweg aus ihr geben? Sicherlich nicht ohne »Entdifferenzierung« der Autopoiesis dieses Krieges. (…)
Nachtrag im August 1999
Bekanntlich hat die NATO die »heiße Phase« des Krieges schließlich doch noch rechtzeitig vor der 90-Tage-Hürde der US-Verfassung gewonnen. Dass es in der letzten Phase (seit Mitte Mai) tatsächlich in erster Linie um die »Glaubwürdigkeit« dieses und künftiger Eskalationskriege ging, wurde durch die sog. »G 8-Verhandlungen« in geradezu beängstigender Weise bewiesen.7 Wie ist es zu erklären, dass »den Russen«, die Fischer doch angeblich ins Boot holen wollte, nicht einmal eine symbolische Besatzungszone zugestanden wurde? Dass sie die »Demütigung« schlucken mussten, ihre (symbolischen) Einheiten verstreut auf die verschiedenen Besatzungszonen der »zuständigen« G 7-NATO-Weltmächte unter deren Kommando zu stellen? Dass von der UNO nicht einmal die Fahne übrig blieb?
All das macht nur Sinn, wenn man begreift, dass der »autopoietische« Luftkrieg schließlich auch noch beweisen musste, dass er im Stande war, die ominöse, zeitweilig auch innerhalb der NATO geforderte Bodenoffensive vollständig zu »ersparen« sowie einen Einmarsch und eine Besatzung durch schwere Panzertruppen zu gewährleisten, die keinen einzigen eigenen Toten „kostete“.8 Der Preis für diesen weiteren »Sieg der Glaubwürdigkeit« war allerdings ebenfalls hoch: Er bestand erstens in der Tabuisierung einer öffentlichen Diskussion über die Frage, ob die aufgefundenen Leichen in den Massengräbern nicht größtenteils oder nahezu sämtlich noch leben könnten, wenn die NATO in Rambouillet nicht die Rolle der UNO und der OSZE usurpiert hätte, wenn sie die OSZE-Beobachter nicht aus dem Kosovo vertrieben hätte und wenn sie nicht auf die Tornado-Stufe eskaliert hätte.9 Jedenfalls stellte sich heraus, dass alle Massakrierten, soweit bisher Daten festgestellt und bekannt gemacht werden konnten, nach der Vertreibung der OSZE und nach dem 24. März massakriert wurden. Diese Tatsache wirft gebieterisch die Frage auf, ob die Bomben-Eskalation nicht als Beihilfe zum Massenmord analysiert werden müsste.
Entsprechend der autopoietischen Logik dieses Krieges kann eine solche Frage in den großen Medien natürlich nicht aufgeworfen werden – sie würde dort spontan abwehrend als »ekelhaft zynisch« diffamiert und von vornherein ausgeschlossen werden – würde doch durch ihre Zulassung das Kartenhaus des »gerechten Krieges für Menschenrechte« zusammenbrechen. Vielmehr funktioniert die Öffnung der Massengräber nach autopoietischer Kriegslogik weiterhin als »Beweis« für die »Richtigkeit« und den »hilfreichen Charakter« der Bombardements. 11.000 Tote in Massengräbern, die nach dem 24. März ermordet wurden, »beweisen« nach der Logik von Schröder, Fischer und Scharping sowie der Medien, dass hier erstmals in der Geschichte ein Krieg zur erfolgreichen Verteidigung der Menschenrechte geführt und gewonnen wurde. Nichts zeigt so sehr wie diese souveräne Missachtung der Chronologie die vollständige Spaltung zwischen der Autopoiesis des Krieges (bei dem es eben hauptsächlich um »Glaubwürdigkeit« und nicht um Menschenrechte ging) auf der einen und der Akzeptanzbeschaffung auf der anderen Seite, wobei »schreckliche Bilder« als solche – ganz abgesehen von der Chronologie, der Pragmatik der Eskalation – zur Legitimation genügen. Wer fragt da schon, ob diese Art Arbeitsteilung nicht ein erfolgreiches Eintreten für Menschenrechte ad absurdum führt?
Im Zusammenhang mit der Besatzung wurde dieses Argument dann noch ausgeweitet: Da so viele KosovoalbanerInnen massakriert worden seien, hätte diese Volksgruppe nun nur noch zur NATO Vertrauen, weshalb ein reines NATO-Militärprotektorat errichtet und folglich die UNO weitestgehend ausgeschaltet werden müsse. Auch das eine autopoietische Meisterleistung!
Zweitens erfahren wir nun, da der Kosovo von der NATO monopolisiert ist, nichts über den jeweiligen Anteil der NATO-Bomben und der serbischen Verbände an den Zerstörungen im Kosovo.
Drittens zahlt die NATO für ihre rein militärische »Glaubwürdigkeits«-Politik, die immer auch eine Großmächte-Politik ist, den Preis, z.B. von der UCK – aber sicher nicht nur von ihr – gegeneinander ausgespielt werden zu können: Schon gelten »die Deutschen« als die einzigen verlässlich-antiserbischen Besatzer, während Briten und besonders Franzosen als »eher proserbisch« ausposaunt werden. Wozu das führen wird, wenn in Kürze das gesamte Besatzungsregime unter deutschen Oberbefehl kommt, bleibt abzuwarten.
Viertens und vor allem gehört zur Logik der »Glaubwürdigkeit«, dass die Beschwichtigungsversuche der Tornado-Grünen vor dem Sonderparteitag, es handle sich auf dem Balkan ganz sicher um einen einzigartigen Sonderfall, der sich nie wiederholen werde, inzwischen nicht bloß verstummt sind, sondern ausdrücklich dementiert werden. So erklärte Angelika Beer nach ihrem enthusiastischen Front-Besuch bei den Panzertruppen der Bundeswehr Ende Juli wörtlich: „Wir werden dafür stehen, dass die Bundeswehr, wenn es zu Einsätzen kommen muss, adäquat ausgestattet und politisch unterstützt wird.“ (FAZ 30.7.1999) Dass jedes »Nie wieder« in der Tat der Eskalations-Strategie fundamental widersprechen würde, ist oben dargelegt worden.10
Ein Wort zur grundsätzlichen Alternative einer Intelligenten Deeskalations-Strategie. Dieses (vorläufige, zur Diskussion und Verbesserung vorgeschlagene) Konzept, das in Teilen der Friedensbewegung und der Grünen seit Jahren bekannt ist (und seinerzeit u.a. von Ludger Volmer unterzeichnet wurde11), kann hier nicht insgesamt dargestellt werden. Auf den Balkankonflikt bezogen sind folgende Alternativen zu nennen: Erstens gilt auf der Ebene internationaler Interventionen in regionale Konflikte die Regel, dass bloß kollektive Sicherheitssysteme (UNO und UNO-Regionalorganisationen wie die OSZE) überhaupt deeskalierend wirken können, während »wildwüchsige« Großmächte (wie die G 7) und einseitige Militärblöcke (wie die NATO) in aller Regel umgekehrt eine bereits bestehende Eskalation noch weiter verschärfen. Der Balkankonflikt hat diese Regel völlig bestätigt. Hätte Rambouillet im Rahmen der UNO und OSZE stattgefunden, so hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Wiedererrichtung der Autonomie des Kosovo und der Abzug der jugoslawischen Repressionskräfte unter internationaler Kontrolle erreicht werden können.12 Die OSZE-BeobachterInnen hätten durch Blauhelme verstärkt werden können. Es hätte auch dann weiter Reibereien, einschließlich bewaffneter, gegeben, aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ohne 11.000 systematisch Massakrierte und ohne die weitgehende Zerstörung eines ganzen Landes. Zweitens hätte eine Konferenz der beteiligten Bevölkerungsgruppen auf dem Balkan im Rahmen von UNO und OSZE auch das Problem der vertriebenen SerbInnen der Krajina und des Kosovo einbeziehen und die Frage der Selbstbestimmung für die bosnisch-serbische Teilrepublik mit der der KosovoalbanerInnen verbinden können. So hätte sich der eskalationsträchtige Komplex des jugoslawischen nationalen Prestiges bei der Selbstbestimmung des Kosovo schrittweise durch Kompensationen entschärfen lassen – insbesondere hätten (nach den Optionen der Intelligenten Deeskalations-Strategie) die G 7- und NATO-Großmächte den kontrollierten Abzug der jugoslawischen Truppen aus dem Kosovo gegen den Abzug ihrer Interventionsflotten und Flugzeugträger aus der Adria aushandeln können.
Die Entmachtung der UNO durch die selbsternannte Welt-Junta »G 8« (im Wirtschaftsteil heißt sie weiter G 7) als Herzstück des sog. Fischerplans war das genaue und extreme Gegenteil einer solchen Deeskalations-Strategie – mit dem oben dargestellten Ergebnis des G 7-NATO-Militärprotektorats, das nichts anderes als ein Pulverfass weiterer Eskalationsrisiken darstellt. Die G 7-Junta, die sich ohne die geringste Legitimation außerhalb der UNO und gegen die UNO einfach auf der Basis ihres »Reichtums« zusammengetan hat, ist durch den »Fischer-Plan« nun zum ersten Mal halb offiziell an die Stelle des UN-Sicherheitsrats gesetzt worden: Ein völkerrechtlicher Putsch von epochaler Tragweite, der allein bereits seinen angeblichen Initiator zum verhängnisvollsten deutschen Außenminister seit 1945 machen könnte. Durch den Eskalationskrieg und durch diesen Putsch ist eine bis auf weiteres scheinbar ausweglose Lage entstanden. Dennoch bestände auch jetzt noch die Möglichkeit eines Wechsels zur Deeskalations-Strategie durch Einberufung einer Balkankonferenz unter Schirmherrschaft der UNO und der KSZE sowie ohne Diskriminierung der verschiedenen sich als serbisch verstehenden Bevölkerungsteile des Balkans. In eine solche Konferenz könnten alle oben genannten Initiativen auch jetzt noch eingebracht werden. Insbesondere könnten im Kontext einer solchen Konferenz auch andere Optionen der Intelligenten Deeskalations-Strategie realisiert werden, wie z.B. »Blauhelmesender« in den Konfliktregionen, in denen die jeweiligen Konfliktparteien paritätisch zu Wort kommen könnten. Dass bei einer solchen Orientierung u.a. auch das Regime Milosevic sehr bald friedlich abgelöst würde, ist mehr als wahrscheinlich – aber vielleicht liegt das ja gar nicht so sehr im Interesse der G 7 und der NATO...
Anmerkungen
1) Der 1. Teil dieses Textes wurde leicht gekürzt unter dem Titel »Der diskrete Krieg der Profis, der die Normalität nicht berührt« am 18.6.1999 in der FR veröffentlicht. Der vorliegende Text wurde gleichfalls leicht gekürzt.
2) Im »Neuen Strategischen Konzept der NATO« (s. FAZ 27.4.1999) wurde noch einmal eigens festgeklopft: Am alten Konzept von flexible response und deterrence wird nichts Wesentliches geändert – bloß wird jetzt in jedem Punkt hinzugesetzt: „einschließlich nicht unter Artikel 5 fallender Krisenreaktionseinsätze“ (d.h. sog. out-of-area-Einsätze wie des Balkankriegs).
3) Es sieht so aus, als ob Scharping, wie so oft ein bisschen naiv, durch eine seiner großartigen »Enthüllungen« Ende April unbewusst und ungewollt die Frage der strategischen Planung und der Chronologie auch für die NATO-Seite indirekt mit ausgeplaudert hätte: Er enthüllte (FAZ 22.4.1999) die Existenz eines serbischen strategischen Plans mit Namen »Operation Hufeisen«, der bereits vor dem 24. März existiert habe. Wollte er damit behaupten, dass Schubladen-Szenarien von Generalstäben als solche verbrecherisch seien? Welch unbewusstes Eingeständnis einer möglichen Wahrheit! Hatte er vergessen, dass die NATO bereits im Juni 1998 mit dem gleichen Eskalationskrieg gedroht hatte, den sie im März 1999 »implementierte« (Berliner Zeitung, 11.6.1998: „US-Präsident Clinton zum Militärschlag im Kosovo bereit“) – hatte die NATO damals keine Szenarien? Schon der Name »Operation Hufeisen« zeigt auf serbischer Seite die »klassische« Antiguerrilla-Strategie: schon immer nannten die entsprechenden Strategen so etwas »Umfassungs- und Vernichtungsoperation« – Milosevics Generäle konnten es beim Pentagon des Vietnamkriegs und bei den türkischen Generälen in Kurdistan, die dann in Jugoslawien an der Seite der Bundeswehr für die Menschenrechte mitbomben durften, abschreiben.
4) Immerhin erklärte Wesley Clark bereits zwei Tage nach dem 24. März, „that it was »entirely predictable« that Serbian terror and violence would intensify after the NATO bombing“ (nach: Stop U.S. Intervention. An interview with Noam Chomsky, in: Tikkun 3/14, S. 6) – sollte der General das nicht auch schon vor dem 24. März geahnt haben?
5) Eine ganz seltene Ausnahme rationaler Analyse der Eskalationslogik in der auflagenstarken Presse stellt der Beitrag von Lothar Rühl, früherer Staatssekretär von Scharpings Vorgänger Rühe, dar (FAZ 28.5.1999). Rühl befürwortet die Eskalationsstrategie als solche, kritisiert aber ihre konkrete Handhabung.
6) In der letzten Phase des Bombenkrieges hat auch Franziska Augstein diesen springenden Punkt in aller Deutlichkeit formuliert (FAZ 2.6.1999): Wenn die NATO in den Kosovo einrücken wird, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie findet keine Massengräber oder sie findet Massengräber. Im ersten (unwahrscheinlichen) Fall hätte sie nicht einmal eine nachträgliche Legitimation – im zweiten (wahrscheinlichen) stände ihre Strategie als total gescheitert da. Der zweite Fall ist dann eingetreten: die Konsequenz konnten aber nur einige wenige »Querdenker« ziehen, weil für die Medienwirkung nur die Symbolik der »Bilder«, nicht die Pragmatik und Chronologie der Abläufe und schon gar nicht die Frage des tatsächlichen Verhältnisses zwischen Toten und Geretteten zählt. So konnte dann später Michael Hanfeld in der gleichen Zeitung triumphierend und angeblich im Rechtgegen Franziska Augsteins Prognose schreiben: »Warum Scharping untertrieben hat« (29.6.1999) – weil ja angeblich jeder Massakrierte mehr auch nachträglich noch »beweist«, dass Scharpings Tornadobomben „gegen das Massakrieren geholfen haben“.
7) Und auch z.B. von der FAZ anerkannt: „Die NATO kann diesen Kriegsschauplatz nur als Sieger verlassen, weil sonst ihre Glaubwürdigkeit als Ordnungsfaktor und ihre Fähigkeit zu Stabilitätsprojekten in den Osten hinein (sic) in einem Maß beschädigt würde, das nicht nur für den Balkan gefährliche Folgen hätte.“ (23.4.1999)
8) Die Alternative »Luftkrieg pur mit Erzwingung des Panzertruppen-Einmarsches« vs »Luftkrieg in Kombination mit Panzeroffensive« war sicherlich die konkret wichtigste Entscheidung der NATO-Stäbe in diesem Krieg. Die Wahl der ersten »Option« bedeutete vor allem deshalb eine äußerst prekäre Wette, weil der Fall des Scheiterns künftigen Feinden der NATO mehr oder weniger klar signalisiert hätte, dass ein analoger Krieg nicht ohne Bodenoffensive (d.h. Panzeroffensive) zu gewinnen wäre. Gerade deshalb war eine nachträgliche, »zu späte« Bodenoffensive aber nicht bloß aus politischen, sondern auch aus militärischen Gründen der Autopoiesis, d.h. der maximalen Glaubwürdigkeit der Eskalationsstrategie, nach Möglichkeit zu vermeiden.
9) Immerhin gestand der britische General Rose in einem Leserbrief an die Times ein, dass die NATO ihre ursprünglichen humanitären Ziele (Verhinderung von Massakern und Massenvertreibungen) nicht erreicht und deshalb »unterwegs« ersatzweise ein neues humanitäres Ziel (Rückkehr der Flüchtlinge) an die Stelle gesetzt habe (FAZ 24.7.1999).
10) Rechtzeitig vor dem 24. März (nämlich am 16. März) hatte einer der Vorreiter der grünen Tornado-Linie, seit der Regierung Schröder-Fischer Beauftragter für Menschenrechte und humanitäre Katastrophen im AA, Poppe, vor immer mehr „humanitären Katastrophen in den kommenden Jahren“ schon einmal vorsorglich »gewarnt« (FAZ 16.3.1999).
11) Noch einmal abgedruckt im Sonderheft »Im Auge des Tornados« der Zeitschrift kultuRRevolution (Klartext-Verlag Essen) und des diss-journal (Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung), S. 38-40. In diesem Sonderheft weitere Beiträge, u.a. zur Rolle der Medien und der Grünen, aus der Sicht der vorliegenden Analyse.
12) Diesen Bedingungen hatte die jugoslawische Regierung in Rambouillet sogar gegenüber der NATO bereits zugestimmt.
Dr. Jürgen Link ist Professor für Literaturwissenschaft und Diskurstheorie an der Universität Dortmund