W&F 1999/3

Die Balkanpolitik Deutschlands

von Ulrich Cremer

Die deutsche Balkanpolitik der letzten zehn Jahre traf nicht immer auf die Zustimmung der westlichen Verbündeten. Sie wurde trotzdem exekutiert und heizte nach Auffasung nicht weniger ExpertInnen die Konflikte an. Ulrich Cremer untersucht ihre Hintergründe und Interessen. Er schlägt den Bogen von der deutschen Balkanpolitik vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg über die »Anerkennungspolitik« Genschers bis hin zum Kriegseinsatz 1999.

Die Zeremonien für die deutsche Vereinigung waren kaum vorüber, als das größer gewordene Deutschland erste außenpolitische Akzente auf dem Balkan setzte. Während andere Mächte eine Gesamtlösung für das zerfallende Jugoslawien bevorzugten, setzte Deutschland seine Bündnispartner mit seiner eigenmächtigen Anerkennungspolitik unter Druck. Trotz anders lautender zeitlicher Absprachen erkannte die Regierung Kohl/Genscher am 19. Dezember 1991 Slowenien und Kroatien diplomatisch an. Damit hatte Deutschland seinen europäischen Hegemonieanspruch deutlich angemeldet und es dabei sogar auf eine Kraftprobe mit den USA ankommen lassen. Der damalige US-Außenminister Christopher wurde in einem Interview im Juni 1993 deutlich: „Es wurden beim gesamten Anerkennungsprozess und vor allem bei der zu schnellen Anerkennung schwere Fehler gemacht und die Deutschen tragen eine besondere Verantwortung dafür, dass sie die EG zu dieser Anerkennung überredet haben… Viele ernstzunehmende Fachleute sind der Meinung, dass die Probleme, denen wir heute gegenüberstehen, aus der Anerkennung Kroatiens und später Bosniens abzuleiten sind.“1 Bekanntermaßen heizte die deutsche Anerkennungspolitik das Kriegsgeschehen, insbesondere den Bosnienkrieg, an. Angesichts des offensichtlichen Fiaskos seiner Balkanpolitik trat Genscher im Juli 1992 vom Amt des Bundesaußenministers zurück.

Bereits damals war man sich (mit Ausnahme der PDS und einiger »AbweichlerInnen« in anderen Parteien) in der deutschen Balkanpolitik im Prinzip einig. Vielleicht, dass es einigen nicht schnell genug ging. Der damalige Sprecher der Grünen, Ludger Volmer, forderte im Sommer 1991 die Bundesregierung auf, „das Selbstbestimmungsrecht der Völker auch praktisch anzuerkennen… Den Slowenen und Kroaten muss der staatliche Zusammenhang ermöglicht werden, den sie selbst wünschen.“2 Am 14.11.91 brachten CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen einen gemeinsamen Antrag im Bundestag ein, in dem „die Bemühungen der Bundesregierung… die Voraussetzungen für eine völkerrechtliche Anerkennung Sloweniens und Kroatiens… durch die EG und ihre Mitgliedsstaaten zu schaffen“ 3gewürdigt wurden. Zwar kritisierten die früheren Oppositionsparteien SPD und Grüne/Bündnis 90 die Einsätze der Bundeswehr in Bosnien mehrere Jahre lang. Aber seit Dezember 1995, als es um die Stationierung von Bundeswehr-Soldaten nach dem Dayton-Abkommen ging, waren diese methodischen Differenzen im Wesentlichen ausgeräumt, auch wenn die grüne Partei erst im Oktober 1998 mit der Zustimmung zum Koalitionsvertrag ihren Widerstand aufgab.

Kontinuität von 1914 bis 1991?

Viele BeobachterInnen entdeckten in der deutschen Anerkennungspolitik eine Rückkehr zur Balkanpolitik des Deutschen Reiches. Die politischen Koalitionen von damals (mit Kroatien und Slowenien gegen Serbien) und die Mitteleuropa-Konzepte der deutschen Eliten schienen fröhliche Wiederkehr zu feiern.

Zur Erinnerung: Mitteleuropa sollte gemäß dem FDP-Stiftungsnamensgeber Friedrich Naumann ein Zusammenschluss Deutschlands (als Führungsmacht) mit Österreich-Ungarn samt der diversen Balkanländer sein. Entsprechend lasen sich die deutschen Kriegsziele im 1.Weltkrieg: „Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und evtl. Italien, Norwegen und Schweden. Dieser Verband, … unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muss die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren.“4 Störenfried war auch damals – Serbien: „Das serbische Gebiet kann nicht als feindliches Kastell innerhalb des mitteleuropäischen Schützengrabenverbandes geduldet werden … Als Volk haben die Serben dasselbe Recht zu existieren, wie jedes andere, aber das Recht auf berufsmäßige Friedensstörung darf von den Anwohnern nicht gewährt werden.“5

Die Niederlage Deutschlands im 1.Weltkrieg setzte dem »mitteleuropäischen Schützengrabenverband« erst einmal ein Ende. Der deutsche Faschismus griff das Mitteleuropa-Konzept wieder auf und entwickelte es zu einem Lebensraumkonzept für das deutsche Volk weiter. Auch das endete bekanntlich im Desaster.

Mitte der 90er Jahre schienen wichtige Politiker die alten Pläne wieder aufgreifen zu wollen. Genschers Nachfolger im Außenamt, Klaus Kinkel, fabulierte: „… nach außen gilt es etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind: Im Einklang mit unseren Nachbarn zu einer Rolle zu finden, die unseren Wünschen und unserem Potenzial entspricht.“6 Der aktuelle deutsche Außenminister Fischer brachte es 1994 so auf den Punkt: „Bekommt Deutschland jetzt, nachdem es friedlich und zivil geworden ist und mit dem Ende des Kalten Krieges seine Einheit im internationalen Einvernehmen zurückerhalten hat, all das, was ihm Europa, ja die Welt, in zwei großen Kriegen erfolgreich verwehrt hat, nämlich eine Art »sanfter Hegemonie« über Europa, Ergebnis seiner Größe, seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner Lage und nicht mehr seines militärstrategischen Potenzials? Dies ist die eigentliche Herausforderung an die deutsche Politik nach der Wiedervereinigung.“7

Die deutschen Interessen auf dem Balkan in den 90er Jahren

Auch wenn Fischer bei seinem Amtsantritt viel von der Kontinuität in der deutschen Außenpolitik redete, ist die Frage, ob der historische Bogen von 1914 bis heute wirklich so einfach gespannt werden kann. Karl Kaiser und Joachim Krause, wissenschaftliche Vordenker des deutschen außenpolitischen Thinktanks Deutsche Gesellschaft für auswärtige Politik (DGAP), behaupten schlichtweg: „Die Interessen Deutschlands auf dem Balkan haben heute nichts mehr mit den traditionellen, geopolitisch definierten Interessen des deutschen Kaiserreichs nach Otto von Bismarck oder des Dritten Reiches gemein...“8 Sie sehen drei Interessenfelder: „… erstens das Interesse an der Wiederherstellung internationaler Autorität und ordnungspolitischer Strukturen sowie der ihnen zugrundeliegenden Prinzipien des Völkerrechts; zweitens das Interesse an der Verhinderung einer Eskalation dortiger Konflikte und ihrer Ausdehnung auf Allianzpartner, auf das Verhältnis zu Russland oder auf den Nahen Osten; drittens das Interesse an der Vermeidung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und innenpolitischer Instabilitäten auf dem Balkan.“9

Im Auswärtigen Amt wird die deutsche Interessenlage auf dem Balkan im April 1999 noch etwas weiter gefasst:
„Unsere Interessen in Südosteuropa sind weitgehend gleichgerichtet mit denen unserer Partner. Sie manifestieren sich vor allem in folgenden Bereichen:

  • Eindämmung gewaltsamer ethnischer Konflikte als Voraussetzung für nachhaltige Stabilität in Gesamteuropa
  • Verhinderung von Armuts-, Kriegs- und Bürgerkriegsmigration
  • Verwurzelung von Demokratie, Menschen- und Minderheitenrechten als Ziel wertegeleiteter Außenpolitik
  • Aufbau marktwirtschaftlicher Strukturen mit stabilem Wirtschaftswachstum zum Abbau des Wohlstandsgefälles in Europa
  • Wirtschaftsinteressen (ausbaufähige Absatzmärkte, Investitionsstandorte)
  • Zusammenarbeit und Glaubwürdigkeit internationaler Organisationen, in denen wir eine aktive Rolle spielen (EU, NATO, OSZE, VN).“10

In der Tat gibt es in vielen Aspekten eine politische Übereinstimmung mit Partnerländern in Hinblick auf den Balkan. Die US-Regierung identifizierte „drei gewichtige Interessen im Kosovokonflikt: eine humanitäre Katastrophe abzuwenden; Stabilität in einem wichtigen Teil Europas zu bewahren und die Glaubwürdigkeit der NATO zu erhalten.“11

Wie der NATO-Krieg gezeigt hat, sieht auch Deutschland den Einsatz militärischer Mittel (neben anderen) als eine Möglichkeit vor, um eigene Interessen durchzusetzen. Dabei verstieß der Krieg kurzfristig durchaus gegen einzelne Interessen (z.B. führten die NATO-Luftangriffe genau zu der Kriegsmigration, die verhindert werden sollte). Die Stationierung der NATO-Bodentruppen im Kosovo hat jedoch inzwischen zur Rückkehr der albanischen Flüchtlinge geführt; insofern hat der Kriegseinsatz insgesamt gesehen das deutsche Interesse an der Verhinderung von Migrationsströmen nach Deutschland vorerst bedient. Die seit Juni erfolgenden serbischen Flüchtlingsströme aus dem Kosovo tangieren das deutsche Gebiet nicht, können also in Kauf genommen werden.

Dennoch: Es wird deutlich, dass einzelne Interessen durchaus auch einmal in Widerspruch zu einander geraten können. Dann müssen Prioritäten gesetzt werden und da steht die Glaubwürdigkeit der NATO unangefochten auf Platz 1. Zwar nennt das Auswärtige Amt neben der NATO noch andere internationale Organisationen wie EU, OSZE und VN, aber in der Praxis wird von Deutschland seit Jahren das NATO-Konzept der ineinandergreifenden Institutionen unterstützt, in dem die NATO die wichtigste Organisation ist. Der NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien hat gerade gezeigt, dass die NATO sich der UNO überordnet. Dem entspricht das im April in Washington im Konsens aller NATO-Regierungen verabschiedete Neue Strategische Konzept, in dem die NATO ihr Sicherheitsumfeld, den euro-atlantischen Raum, gestaltet, während die nachgeordneten Organisationen VN, OSZE, EU und WEU „ausgeprägte Beiträge“ leisten.12 Insofern ist es nur konsequent, wenn in erster Linie die Glaubwürdigkeit der NATO gewahrt werden muss – auch wenn das auf Kosten anderer internationaler Organisationen (wie der UNO) geht. Das war ein zentrales Motiv der NATO-Staaten für die Führung des Krieges. Es ging um einen ersten Probelauf der neuen NATO-Strategie.

Nach der Beendigung des Krieges wird häufig behauptet, die UNO wäre nun wieder ins Geschäft gekommen, wie es ja auch der deutsche Fischer-Plan vom April 1999 vorgesehen habe. Die Glaubwürdigkeit der UNO wurde allerdings bislang nicht wiederhergestellt, denn das würde ja wiederum die Entmachtung der NATO erfordern. Im Gegenteil: Im Fischer-Plan und auch später in der Realität wurde der UNO neben der NATO auch noch die G 8 vorgeordnet. Die UNO rutschte also auf Platz 3 ab. Nicht sie, sondern die NATO spielt auf dem Balkan die zentrale Rolle. Die NATO stellt das Gros der schwer bewaffneten Überwachungstruppen und befehligt sie. Unter ihr darf die UN-Zivilverwaltung dienen.

Ganz gerade heraus weist das Auswärtige Amt auf die deutschen Wirtschaftsinteressen hin. Allerdings lässt sich kaum behaupten, dass Ex-Jugoslawien für Deutschland wirtschaftlich besonders wichtig wäre. Das Außenhandelsvolumen für die Region betrug 1998 gerade 25 Mrd. DM 13 (= 1,4% des deutschen Außenhandels). Davon entfielen allein auf Slowenien 8,2 Mrd. DM14 (=0,5%). Der deutsche Außenhandel mit der BR Jugoslawien belief sich gerade auf 1,7 Mrd. DM (0,1%). Für strategische Rohstoffe oder Energiequellen muss man sich nicht in der Region engagieren. Chrom kann man z.B. in Südafrika billiger kaufen.

Auch die Abhängigkeit einzelner Staaten der Region von Deutschland hält sich in Grenzen. Albanien wickelte z.B. 1997 lediglich 4,6% seiner Importe und 4,0% seiner Exporte mit Deutschland ab.15 Bei Kroatien liegen die Prozentsätze mit 20,2% bzw. 18,9% für Deutschland etwa auf gleichem Niveau wie für Italien.16 Nur für Slowenien ist Deutschland deutlich der Haupthandelspartner (20,7% der Importe und 29,4% der Exporte mit Deutschland).17 Eine einseitige Abhängigkeit von Deutschland existiert somit nicht, andere EU-Länder sind für die Balkanländer ebenfalls von großer Bedeutung.

Als geostrategisches Motiv für den NATO-Krieg gegen Jugoslawien wird gelegentlich die beabsichtigte Trassenführung von Erdöl-Pipelines durch jugoslawisches Gebiet bzw. Jugoslawien als Transitland angeführt. Auch dieses wäre ein gemeinschaftliches westliches Interesse, schließlich sind an der Ausbeutung des Erdöls im Kaukasus nicht nur US-Firmen, sondern auch westeuropäische Konzerne beteiligt. Da aber die Verkehrsinfrastruktur Jugoslawiens (Donaubrücken, Erdölpipelines) gezielt in Schutt und Asche gelegt wurde, kann auch dieser Aspekt so bedeutsam nicht gewesen sein. Zwar wird die Donau weiterhin durch Serbien fließen, aber Eisenbahnverbindungen, Straßen oder Erdöl- und Erdgaspipelines kann man auch um Jugoslawien herumführen.

Billige Arbeitskräfte fände die deutsche Industrie auch in anderen Ländern Osteuropas, sodass allein dafür das Engagement auch nicht lohnte. Im Grunde könnte Deutschland die Region genauso wie verschiedene afrikanische Länder einfach ignorieren, wenn es nicht zahlreiche ArbeitsimmigrantInnen aus Ex-Jugoslawien und dadurch bedingt vielfältige menschliche Bande gäbe und wenn sich nicht die Deutsche Mark als Zahlungsmittel im Balkanraum etabliert hätte. Das sehen auch die bereits erwähnten Kaiser und Krause ähnlich: „Die deutschen Interessen werden zudem durch die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der jahrelangen Kriege berührt. Zwar war Jugoslawien kein so bedeutender Industriestandort für deutsche Unternehmen, dass von massiven Verlusten für die Volkswirtschaft der Bundesrepublik gesprochen werden könnte, jedoch zählt das Interesse an der Vermeidung von indirekten Folgen. Deutschland musste mehr als 320.000 Flüchtlinge aufnehmen… Zudem kann nie ausgeschlossen werden, dass Deutschland … auch zum Austragungsort für bewaffnete Streitigkeiten zwischen verschiedenen Nationalitäten des ehemaligen Jugoslawien wird.“18 Dominierendes Motiv wäre demnach die Flüchtlingsabwehr. Das bestätigt Bundeskanzler Schröder, wenn er im Zusammenhang mit dem Stabilitätspakt betont: „Was wir hier tun, dient auch unserem eigenen Interesse… Andernfalls würden die Menschen als Flüchtlinge nach Deutschland kommen.“19

Das Interesse am „Aufbau marktwirtschaftlicher Strukturen“ wird natürlich von allen westlichen Mächten geteilt. So betont der Staatssekretär im US-Außenministerium Pickering das Ziel „Umgestaltung der Region von wirtschaftlicher Abhängigkeit zu nachhaltiger Entwicklung durch den Aufbau von für Investoren attraktiven Volkswirtschaften.“20 Im Stabilitätspakt wird in diesem Zusammenhang die „Förderung der Privatwirtschaft“ und „Deregulierung“ verlangt21, die Staaten der Region sollen das „politische und wirtschaftliche System des Westens übernehmen.“ 22 Auch im Rambouillet-Abkommen war in Kapitel 4a betont worden: „The economy of Kosovo shall function in accordance with free market principles.“

Besondere ökonomische Interessen Deutschlands, aber auch der anderen westlichen Industriemächte in der Region, existieren sind also nicht. Der Balkan ist wie viele andere Weltregionen wirtschaftlich einfach uninteressant. Auch andere autonome deutsche Interessen sind in der Region nicht zu erkennen. Deutschland hat auf dem Balkan genauso viel oder wenig verloren wie die anderen westlichen Industrieländer. Das ist auch der Grund, warum die internationalen Finanzspritzen im Rahmen des Stabilitätspakts sich eher bescheiden ausnehmen und in ihrer Größenordnung mit dem Marshall-Plan wenig gemein haben.

Deutschland –
zum Mitbomben gezwungen?

Vielfach wird die deutsche Beteiligung am NATO-Angriffskrieg nicht so sehr auf eigenes Wollen zurückgeführt, sondern man sieht die deutsche Regierung eher als Opfer von Sachzwängen, der US-Regierung oder wem auch immer. Symptomatisch ist das ZEIT-Dossier vom 12.5.99 mit dem Titel: »Wie Deutschland in den Krieg geriet.« Darin wird ernsthaft behauptet: „Deutschland war gutwillig, überfordert, am Ende machtlos.“ Als im Oktober 1998 die US-Regierung Unterstützung für die Androhung von NATO-Luftangriffen ohne UN-Mandat hätte haben wollen, wären Schröder und Fischer gerade „fünfzehn Minuten“ geblieben, „um über eine Frage von Krieg und Frieden zu entscheiden.“ Die – laut ZEIT – rot-grünen Lehrlinge machten mit und sagten ja. Einige Tage später unterstützte der Bundestag mit riesengroßer Mehrheit den Völkerrechtsbruch, mit fast allen Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen.

L. Volmer (mittlerweile Staatssekretär) sieht die deutsche Rolle im Kosovo-Konflikt etwas aktiver, aber den Krieg gewissermaßen als Sachzwang. Gegen den Widerstand der US-Regierung hätte die deutsche Bundesregierung im Januar 1999 den Rambouillet-Verhandlungsprozess durchgesetzt, dabei aus taktischen Gründen die Führung den Franzosen und Briten überlassen: „Aus praktischen und diplomatischen Gründen wurde … darauf verzichtet, diese Initiative als deutsche und Grüne/Bündnis 90 herauszustellen.“ Es hätte jedoch einen Deal gegeben: Die USA „waren nur unter der Bedingung bereit, ihren Ansatz direkter Luftschläge zugunsten des Verhandlungsansatzes aufzugeben, wenn… die anderen westlichen Verhandlungspartner … bekräftigten, dass »act ord« weiterhin Gültigkeit behielte und sofort angewendet werden könne, wenn der Verhandlungsprozess scheitern sollte. Dieses Zugeständnis mussten wir machen, um überhaupt den Rambouillet-Prozess in Gang zu bringen. Der Preis war nun zu zahlen.“23

Warum Deutschland auch bei Kriegen mit von der Partie sein sollte, hat übrigens der frühere Verteidigungsminister Rühe bereits am 26.11.1992 in seinen Verteidigungspolitischen Richtlinien klar gemacht: „Wenn … der Frieden gefährdet ist, muss Deutschland auf Anforderung der Völkergemeinschaft auch militärische Solidarbeiträge leisten können. Qualität und Quantität der Beiträge bestimmen den politischen Handlungsspielraum Deutschlands und das Gewicht, mit dem die deutschen Interessen international zur Geltung gebracht werden können.“24 Die Forderung des Magdeburger Bundestagswahlprogramms der Grünen, diese Richtlinien „sofort außer Kraft zu setzen“25, fand übrigens keinen Eingang in den Koalitionsvertrag.

Anmerkungen

1) Zitiert nach: Die Welt, 18.03.1993: US-Außenminister kritisiert Bonn – Christopher wirft der Bundesregierung Fehler in der Jugoslawienpolitik vor.

2) Ludger Volmer: Rede zur Kundgebung der demokratischen Bewegung für ein freies Slowenien und Kroatien in Bonn-Bad Godesberg, 06.07.1991.

3) Deutscher Bundestag, Drucksache 12/1591, 14.11.1991.

4) Wolf Dieter Gudopp: Auf dem Weg in den Dritten Weltkrieg? Verein Wissenschaft und Sozialismus e.V., Frankfurt a.M. 1993, S. 21.

5) Ebenda S. 177f.

6) Klaus Kinkel: Verantwortung, Realismus, Zukunftssicherung. In: FAZ vom 19.03.1993.

7) Joschka Fischer: Risiko Deutschland, Köln 1994, S. 212.

8) Karl Kaiser/Joachim Krause: Deutsche Politik gegenüber dem Balkan. In: dies.: Deutschlands neue Außenpolitik, Bd. 3, Interessen und Strategien, München 1996, S. 177.

9) Ebenda S. 177f.

10) Zum Stabilätspakt für Südosteuropa, Homepage Auswärtiges Amt://www.auswaertiges-amt.de/6_archiv/inf-kos/hintergr/stabdt.htm

11) Fact Sheet des US-Außenministeriums vom 26.03.99. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/99, S. 631.

12) Das strategische Konzept des Bündnisses. In Stichworte zur Sicherheitspolitik (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung) April 1999, Ziffer 12 und 14, S. 82.

13) Vergl. BDI schlägt Balkan-Freihandelszone vor. In: Wirtschaftswoche vom 24.06.99.

14) Vergl. Unternehmer kappen beziehungen zum Balkan. In Wirtshaftswoche vom 11.04.99.

15) Vergl Fischer Weltalmanach 1999, Frankfurt a. M. 1998, S. 55.

16) Ebenda S. 453.

17) Ebenda S. 668.

18) Karl Kaiser/Joachim Krause, s. Fußnote 8, S. 179.

19) FAZ vom 31.07.1999.

20) Thomas R. Pickering: Südosteuropa: Eine Herausforderung für die transatlantische Gemeinschaft. In: Stichwort zur Sicherheitspolitik (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung) Mai 1999, S. 11.

21) Stabilitätspakt für Südosteuropa. In: Stichworte zur Sicherheitspolitik (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung) Juni 1999, S. 36ff.

22) Wer rasch gibt, gibt doppelt. In: FAZ 29.07.99

23) Ludger Volmer: Krieg in Jugoslawien Hintergründe einer Grünen Entscheidung, Papier vom 26.03.1999.

24) Siehe Blätter für deutsche und internationale Politik 9/93, S. 1144.

25) Bündnis 90/Die Grünen: Programm zur Bundestagswahl 98, S. 147.

Ulrich Cremer war Initiator der grünen Anti-Kriegs-Initiative und bis Februar 1999 Sprecher des Fachbereichs Außenpolitik bei Bündnis 90/Die Grünen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1999/3 Tödliche Bilanz, Seite