Die Bedeutung von Frieden
von Paul Schäfer
UN-Generalsekretär António Guterres erklärte Mitte März angesichts der Corona-Pandemie: „Die Wut des Virus zeigt die Torheit des Krieges. Deshalb fordere ich heute einen sofortigen Waffenstillstand in allen Teilen der Welt.“ Ja, er hat tatsächlich von der Torheit des Krieges gesprochen und gedanklich Krieg mit dem quasi blindwütigen Voranschreiten eines todbringenden, »bewusstlosen« Kleinstlebewesens verbunden. Kann man Krieg noch schärfer anprangern? Das einzige Problem dabei: Kriege werden nach wie vor von Menschen gemacht, die bestimmte Macht- und Besitzinteressen verfolgen, Geltungsbedürfnisse ausleben und jeweiligen Rachegelüsten nachgehen. Und da gilt: Die Herren der Kriege hören nicht auf den UN-Generalsekretär; die Charta der Vereinten Nationen ist für sie nicht der kategorische Imperativ ihres politischen Handelns. Ob der nach dem Aufruf verkündete befristete Waffenstillstand für den Jemen – ein besonders sinnfreier, massenmörderischer Krieg im Übrigen – hält, ist überaus fraglich. Die Erfahrungen mit vorangegangenen Epidemien in Afrika haben gezeigt, dass der Einbruch eines solchen »Naturereignisses« lediglich ein zeitweises Abflauen der innerstaatlichen Kämpfe bewirkte.
Dass der flammende Appell des UN-Generalsekretärs konsequent aufgegriffen wird, ist eher unwahrscheinlich. Guterres hätte eigentlich noch ein paar Schritte weiter gehen müssen: Die Weltmilitärausgaben erreichten 2019 fast zwei Billionen Dollar. Es wäre auch gut gewesen, Ross und Reiter zu benennen: Über die Hälfte dieser Ausgaben gehen auf das Konto der NATO-Mitgliedsstaaten. Zählt man die Etats der fünf UN-Sicherheitsratsmitglieder zusammen, ergibt sich eine noch höhere Zahl. Und vergessen wir nicht die größten Waffenimporteure weltweit, Saudi-Arabien und Indien. Das sind die Verantwortlichen für diese gigantische Verschwendung von Vermögen und Ressourcen. Der Generalsekretär der NATO verkündete in diesen Tagen stolz, die Militärallianz sei trotz Corona »abwehrbereit«. Andere Sorgen hat der Mann offensichtlich nicht.
Noch sind angesichts der exorbitanten Summen, die derzeit von der Staatenwelt zur Abwehr des Virus und zur Rettung der Wirtschaft aufgebracht werden, die Rüstungslasten kein relevantes öffentliches Thema. Es wäre aber gut, ein paar Gedanken darauf zu verwenden, was das krasse Missverhältnis zwischen den globalen Militärausgaben und den immer noch bescheidenen Mitteln für die globale Entwicklungszusammenarbeit (knapp 150 Mrd. Dollar in 2019) zur Ausbreitung von Elend, Not, Gewalt und Krieg beiträgt. Und schon bald wird sich die Frage zugespitzt stellen, wie der »Wiederaufbau« und die notwendigen Schritte zur Abwendung der Klimakatastrophe mittel- bis längerfristig geschultert werden sollen. Kann es sich die Welt leisten, jährlich fast zwei Billionen für Waffen und Soldaten zu verschwenden? Dann wird es auch darum gehen, ob der jetzige, auf Kapitalwachstum fixierte Entwicklungspfad fortgesetzt wird oder ob der Einstieg in einen »Green New Deal« gelingt. Das wiederum hieße, gezielt Ressourcen in eine nachhaltige und sozial gerechte Entwicklung zu lenken, damit die »Sustainable Development Goals« der UN bis 2030 überhaupt in Reichweite bleiben. Rüstungswahn und törichte Kriege müssen wir hinter uns lassen.
Diese Ausgabe von W&F beschäftigt sich damit, wie Frieden zu verstehen, zu begreifen ist und welche Ansätze es gibt, ihn zu erreichen. Angesichts des gegenwärtig alles dominierenden Themas Covid-19 erscheinen solche Betrachtungen und Reflexionen als akademische Fingerübung. Man hat sich schon fast daran gewöhnt, dass im öffentlichen Diskurs das Wort »Frieden« kaum auftaucht, »Sicherheit« dagegen in der internationalen Politik das Codewort ist, wenn über aktuelle Krisen und Konflikte gesprochen und verhandelt wird. Daher halten wir eine Verständigung darüber für hilfreich, was Frieden eigentlich bedeutet, wie sich »Frieden«, der über die unmittelbare Vermeidung von Gewalt hinausgehen müsste, von »Sicherheit« unterscheidet und welche Orientierungspunkte ein solch umfassenderes Konzept für praktisch-politisches Handeln bieten könnte. Damit soll auch der Weg geöffnet werden, um über alternative Lösungsansätze in Gewaltkonflikten nachzudenken. Dazu gehört auch, vorhandene Friedens»praktiken« zu reflektieren. Aufgenommen habe wir in das Heft exemplarisch u.a. folgende Gesichtspunkte: die Historie der Friedensnarrative in der Bundesrepublik, Beispiele interreligiöser Friedensdialoge, einen Einblick in das indigene Friedensverständnis der L/Dakota, die Reflexion zu den Auswirkungen des so genannten Liberalen Friedens in Lateinamerika sowie eine kritische Bilanz des Friedensvertrags in Kolumbien.
Die Corona-Krise beinhaltet die Gefahr, dass sie und ihre brachialen Folgen für das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben genutzt werden, um autoritäre Politikformen, nationalistische Separierung und Einschränkungen sozialer Rechte zu etablieren bzw. zu verstärken. Die Folge wäre unvermeidlich mehr Gewalt! Andererseits haben sich auch neue Räume geöffnet, in denen über die Notwendigkeit und Möglichkeit (!) einer anderen, nachhaltigeren, solidarischeren Produktions- und Lebensweise nachgedacht wird. Klima- und Umweltschutz, gerechte Weltwirtschaft und radikale Abrüstung gehören in diesen Zusammenhang.
Ihr Paul Schäfer