W&F 2016/4

Die Diffusion der Zivilisationen

von Peter Nitschke

Die Dimensionen und Funktionen von Zivilisationen sind seit dem Bestseller »Kampf der Kulturen« von Samuel P. Huntington (2002) in der internationalen Debatte. Dabei rückt die Bedeutung von Wertvorstellungen in den Blick, insbesondere von denen, die sich scheinbar unverrückbar durch religiöse Werte ergeben. Die einzelnen Zivilisationen ordnen Politik, Staaten und Gesellschaften als Kulturkreise, und zwar in Abgrenzung voneinander. Daraus ergeben sich Konflikte, insbesondere dann, wenn Raumordnungsansprüche mit einer kulturellen Hegemonialvorstellung verbunden werden.

Eine »Zivilisation« ist nach dem Verständnis im angelsächsischen Raum ein Kulturkreis, der aus mehreren Teilkulturen bzw. Kulturen besteht. Dieser kann, muss aber nicht mit einer einzelnen Nation identisch sein. In der Regel ist dies auch nicht der Fall. Im Gegensatz zur deutschen Tradition, die seit Herder und Goethe die Zivilisation als »Kultur« betrachtet, ist im heutigen globalen Verständnis die angelsächsische Interpretationslinie die ausschlaggebende Version. Ein Kulturkreis (= Zivilisation) ist dann so etwas wie eine Hochkultur.

Diese Interpretation geht u.a. auf Oswald Spengler zurück, der im »Untergang des Abendlandes« (1923) die Zivilisationen im Sinne von Hochkulturen als grundlegende Erscheinungsformen quer durch die Epochen der Menschheit stilisiert hat (Spengler 2007). Mehr noch aber hat dann die Interpretation des englischen Historikers und Diplomaten Arnold J. Toynbee in seinem mehrbändigen Werk »A Study of History« (1934-54 u. 1959/61) zur Systematik in der Terminologie beigetragen (vgl. dt. in Auszügen Toynbee 1970), auf die sich dann insbesondere die englischsprachige Forschung nach 1945 in immer neuen Ansätzen stützte. Eine Zivilisation ist demzufolge durch kulturelle Handlungspraktiken gekennzeichnet, die raum- und zeitübergreifend bei Völkern existieren – und zwar in einem nachhaltigen, mitunter sogar über Jahrtausende reichenden Identitätsformat. Toynbee rechnete hierzu vor allem das Christentum, den Islam, die konfuzianische Gesellschaft Chinas und den Hinduismus in Indien.

Huntingtons »Clash of Civilizations«

Auf diese Tradition bezog sich der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington (1927-2008), als er 1993 in der renommierten Fachzeitschrift »Foreign Affairs« einen Aufsatz veröffentlichte, der unter der Überschrift »The Clash of Civilizations?« die Frage nach dem Sinn und den Funktionen von Zivilisationen in den Mittelpunkt der Erörterungen über die Gestaltung der Internationalen Beziehungen rückte. Das war neu; Huntington vollzog damit einen kulturalistischen Paradigmenwechsel für die Lehre von den Internationalen Beziehungen, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Schwierigkeiten hatte, die Lage der Welt am Ende des 20. Jahrhunderts mit den Chiffren der Nachkriegszeit und der Blockbildung zwischen den Supermächten realistisch zu deuten. Statt weiterhin Ideologien und Ökonomiestrukturen als Kriterien für die Analyse der Beziehungen zwischen den Staaten und den Völkern heranzuziehen, plädierte Huntington für die nahe Zukunft (d.h. für das 21. Jahrhundert) für ein anderes Erkenntnismodell. Bei diesem solle die Kulturfrage im Mittelpunkt stehen, da er das Aufeinanderprallen unterschiedlicher zivilisatorischer Standards und damit unterschiedlicher Kulturkreise als neuen Faktor für das Entstehen von Konflikten verstanden wissen wollte.

Diese paradigmatische Empfehlung in seinem Aufsatz von 1993 rief (auch international) ein derart starkes Echo in der Fachwelt hervor, dass sich Huntington wegen massiver Kritik und Zustimmung veranlasst und ermutigt sah, seine Diagnose zu konkretisieren und auszuweiten und sie 1996 in einem voluminösen Buch unter dem gleichen Titel (allerdings nun ohne Fragezeichen) zu publizieren. »Kampf der Kulturen« (so die deutsche Titelfassung) wurde erst recht zum weltweiten Bestseller und bestimmt seitdem in immer neuen Interpretationswellen die internationale Debatte (Nitschke 2014a).

Religion als Kern von Zivilisation

Furore hat Huntingtons Diagnose vor allem deshalb gemacht, weil sie im Kern auf etwas verweist, was als identitäre Einheit für die Sinnbildung von Hochkulturen (= Kulturkreisen = Zivilisationen) für diese selbst nicht hintergangen werden kann. Alle üblichen Interpretationen sehen in der ökonomischen Struktur, der damit verbundenen Wirtschaftskraft sowie dem ideologischen Sinnzusammenhang, den ein politisches System für seine Anhänger bereitstellt, den Identitätsbezug von Menschen in ihrer jeweiligen Ordnung. Demgegenüber favorisiert Huntington die Kultur als Zivilisationsfrage.

In seinem Modell entscheidet nicht die Wirtschaftskraft über die Nachhaltigkeit (politischer) Ordnungen auf der Welt, auch nicht der über Ideologien hergestellte Macht- und Herrschaftsanspruch. Entscheidend ist vielmehr die Matrix der Zivilisation, die als Hochkultur alle Normierungen und Funktionen des täglichen Lebens für die Bürger ordnet und damit erst den Sinn und die Dauerhaftigkeit der Ordnung selbst vermittelt. Eine Zivilisation kann aus allen möglichen Normierungen bestehen, aber sie hat stets einen Identitätskern, der kulturell nicht austauschbar ist. Im Gegensatz zu vielen traditionellen Deutungen von Kultur und Zivilisation sieht Huntington diesen Identitätskern nicht in der Sprache oder etwa in der Auslegung des nationalen Rechts, sondern in der Religion begründet. Denn Religion besteht (in der jeweiligen Formulierung des Heilsanspruchs) im Glauben an einen absoluten Wahrheitsanspruch, der als solcher nicht verhandelbar ist. Gerade weil dieser Hoheitsanspruch der religiösen Botschaft so weltlich umfassend ist, gehen hieraus substanzielle ethische und funktionale Standardisierungen für den Lebensbezug in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hervor. In dieser Hinsicht lassen sich Zivilisationen dann auch deutlich voneinander abgrenzen.

Das Zivilisationsmodell in der Globalisierung

In Anlehnung an Toynbee geht Huntington von einem Schema aus, demzufolge sich die Welt am Ende des Kalten Krieges und im Hinblick auf das 21. Jahrhundert in insgesamt neun Kulturkreise formatiert. Dies sind im Einzelnen:

1. der Westen (mit dem transatlantischen Wertemodell von Marktwirtschaft, Rechtsstaat, Demokratie und Christentum),

2. die islamische Welt (mit der Bevorzugung eines Supremats der religiösen Botschaft vor jeglicher säkularen Politik­auffassung),

3. die sinische Welt (womit das konfuzianische, weitgehend auf China ausgerichtete Ethikmodell mit der Bevorzugung des Kollektivs vor dem Individuum gemeint ist),

4. die hinduistische Welt Indiens (mit einer theologisch-dogmatischen Ausrichtung sozialer Schichtenzugehörigkeit im Kastensystem),

5. die buddhistische Welt Südostasiens (mit einer religiösen Betonung der Gemeinschaft vor dem Individuum),

6. der orthodoxe Osten des Christentums (der sich gegenüber dem lateinischen Westen in der Bewertung des Individualismus unterscheidet),

7. die japanische Zivilisation (die sich aufgrund der Insellage historisch bedingt weitgehend als ein kultureller Sonderfall darstellt),

8. die afrikanische Welt (mit ihrer traditionalen Orientierung auf Stammesverbände) und

9. die lateinamerikanische Welt (die sich als Erbe europäischer Kolonialsysteme aufgrund einer hybriden Mischung mit indianischen Ureinwohnern und als Sklaven auf den Kontinent gelangten Afrikanern vom Westen und vom orthodoxen Osten unterscheiden lässt).

Auffällig an dieser Einteilung ist, dass Huntington nur bedingt der Religion als Leitlinie einer Hochkultur folgt. Afrika (südlich der Sahara) und Lateinamerika werden von ihm vielmehr über eine ethnische Klassifikation als Kulturkreise abgegrenzt. Auch China ist nicht durch einen religiösen Kern definiert, sondern durch das ethische Programm des über Jahrhunderte erfolgreich existierenden Konfuzianismus (vgl. auch Paul 2014). Wäre die Religion wirklich der zentrale Indikator, dann hätte die jüdische Kultur mit in die Klassifikation einmünden müssen.

Ganz offensichtlich folgt Huntington vielmehr einem geopolitischen Verständnis, das sich für den Bereich der Zivilisationen an großen Raumordnungskonzepten (also eigentlich an Imperien) orientiert. Nicht zufällig findet die Imperiumsdiskussion über Sinn und Zweck großer Reiche auch etwa zeitgleich zu Huntingtons Modellierung der Zivilisationen statt (vgl. hier u.a. Münkler 2013). Die oben aufgelisteten Zivilisationen umfassen jeweils mehrere nationale Kulturen, nur bei Japan stimmen Staatlichkeit, Nation und Kultur mit dem Zivilisationsbegriff überein. Huntington ordnet den einzelnen Kulturkreisen überdies jeweils ein Machtzentrum zu, von dem quasi die Deutungshoheit über die spezifischen zivilisatorischen Standards ausgeht.

Wenig überrascht in diesem politikwissenschaftlichen Ansatz dann, dass das jeweilige zivilisatorische Machtzentrum zugleich auch über eine hegemoniale In­frastruktur an ökonomischen und militärischen Mitteln verfügt. Für den Westen sind dies die USA, für den orthodoxen Osten ist es Russland mit Moskau in der sakralen Überhöhung als dem »Dritten Rom« (vgl. auch Kozyrev 2011). Peking ist zweifellos das Epizentrum der sinischen Welt und verweist, wenn auch verklausuliert, mit seinem historischen Leitbild vom »Reich der Mitte« auf eine universale Ordnungsvorstellung als Zivi­lisation. Indien ist unstrittig das Zentrum des Hinduismus und Tokio für die japanische Welt. Die übrigen Zivilisationen in diesem System bereiten allerdings massive Ordnungsprobleme. Die anderen Hochkulturen (2, 5, 8 und 9) zeichnen sich in der Gegenwart dadurch aus, dass sie gerade nicht über ein eindeutiges Machtzentrum für den jeweiligen Kulturkreis verfügen, oder aber, dass verschiedene nationale Kulturen (im Sinne von Staaten) sich untereinander in einer massiven Konkurrenz befinden. Das gilt ganz besonders für die islamische Welt, in der Ägypten und Saudi-Arabien, aber auch die Türkei, im Wettbewerb um die Deutungshoheit (zumindest) für die sunnitische Glaubensgemeinschaft rivalisieren, während Teheran für die Schiiten das hegemoniale Zentrum darstellt, damit aber insgesamt auch ein Problem für den islamischen Heilsauftrag anzeigt.

Zivilisationen im Dauerkonflikt?

Für Huntington sind Zivilisationen „die ultimativen menschlichen Stämme, und der Kampf der Kulturen ist ein Stammeskonflikt im Weltmaßstab“ (S. 331). Diese grundsätzlich an einem kriegerischen Format orientierte Sicht auf die Zivilisationen rief auch jenseits ihrer strukturellen Ungenauigkeiten hinsichtlich der schematischen Einteilung massive Kritik hervor (vgl. u.a. Mokre 2000). Dies gilt besonders für die Beurteilung der Rolle des Islam in der globalen Konstellation, wie sie Huntington darstellt. Von allen anderen Zivilisationen hebe sich der Islam gegenüber dem Westen in besonderer Weise ab, weil er die einzige Zivilisation sei, „die das Überleben des Westens hat fraglich erscheinen lassen“ (S. 336). Mit dem historischen Verweis auf die Jahrhunderte währenden Kriege zwischen einem imperialen Islam und einem ebenso imperialen Christentum aus dem lateinischen Westen sieht diese Diagnose den zivilisatorischen Grundkonflikt für das 21. Jahrhundert vorgezeichnet. Denn im Kern geht es hierbei nicht um ökonomische Güter, sondern um kulturelle Bestimmungsmuster, die ihren Ursprung in den sich widersprechenden religiösen Grundauffassungen haben. In der programmatischen Zuspitzung bei Huntington lautet dies Koran versus Menschenrechte bzw. Theokratie versus Demokratie.

Dieses Modell ist jedoch keineswegs islamfeindlich ausgelegt. Huntington ging es darum, ein analytisches Bewusstsein für kulturell kodierte Wertvorstellungen zu schaffen, die ganze Gesellschaftssysteme scheinbar über Nacht in Aufruhr und in eine global betrachtet gefährliche existentielle Konkurrenzsituation bringen können. Angesichts der Terrorformate islamistischer Gruppierungen, die tatsächlich einen Krieg im Weltmaßstab gegen alle Ungläubige propagieren, existiert für diese Deutung eine empirische Plausibilität. Aber Huntingtons Diagnose trifft auch auf alle übrigen Zivilisationen zu. Eine vordergründig geopolitische, letztlich aber kulturell auf Werte bezogene Rivalität besteht im Grundsatz auch zwischen der sinischen und der hinduistischen Welt, ebenso zwischen der hinduistischen und der islamischen.

Diffusion der Zivilisationen

Mit dem diagnostischen Abstand von nunmehr 20 Jahren erweist sich die Programmatik vom »Kampf der Kulturen« einerseits als richtig, was die Bedeutung kultureller Identität angeht, andererseits aber auch als zu schematisch, was die ordnungspolitischen Raumzuweisungen betrifft.

Tatsächlich ist der »Clash« nicht notwendigerweise ein Kampf, sondern eher durch das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Wertvorstellungen gekennzeichnet. Diese Konfrontation ergibt sich in der globalisierten Welt nicht nur zwischen den Zivilisationen, sondern als Konfliktkonstellation auch innerhalb der Zivilisationen selbst. Zum einen ist der jeweilige ordnungspolitische Zivilisationsraum hegemonial nicht eindeutig, zum anderen ergeben sich genau daraus Überlappungen, Verschiebungen und Verschmelzungen zwischen den Zivilisationen in Bezug auf ihre scheinbar festgefügten Wertepräferenzen. Der Kollektivismus, der sich im Wertekern von Zivilisationen andeutet, wird zugleich durch den Individualismus, der mit den technischen Möglichkeiten der Globalisierung einhergeht, relativiert bzw. verändert (Nitschke 2014b). Insofern ist heute eher die Diffusion der Zivilisationen das vorherrschende Erscheinungsbild auf der Welt.

Literatur

Huntington, S.P. (1993): The Clash of Civilizations? Foreign Affairs, Vol. 72, No. 3 (Summer), S. 22-49

Huntington, S.P. (1996); The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon & Schuster. Deutsche Ausgabe 1996: Kampf der Kulturen – Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München: Europa-Verlag; die Zitate in diesem Artikel wurden der 7. Auflage von 2002 (Goldmann-Verlag) entnommen.

Kozyrev, I. (2011): Moskau – das dritte Rom. Eine politische Theorie mit ihren Auswirkungen auf die Identität der Russen und die russische Politik. Göttingen: Cuvillier.

Mokre, M. (Hrsg.) (2000): Imaginierte Kulturen – reale Kämpfe. Annotationen zu Huntingtons »Kampf der Kulturen«. Baden-Baden: Nomos.

Münkler, H. (2013): Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Köln: Anaconda.

Nitschke, P. (2014a): Zivilisationskonflikte – Samuel P. Huntingtons »Clash of Civilizations« in der Retroperspektive. In: Nitschke, P. (Hrsg.): Der Prozess der Zivilisationen – 20 Jahre nach Huntington. Analysen für das 21. Jahrhundert. Berlin: Frank & Timme, S. 13-44.

Nitschke, P. (2014b): Formate der Globalisierung – Über die Gleichzeitigkeit des Ungleichen. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2. aktualisierte u. erweiterte Ausgabe.

Paul, G. (2014): Konfuzianismus im 21. Jahrhundert und Huntingtons These vom »Clash of Civilizations«. In: Nitschke, P. (Hrsg.): Der Prozess der Zivilisationen – 20 Jahre nach Huntington. Analysen für das 21. Jahrhundert. Berlin: Frank &Timme, S. 253-281.

Spengler, O. (2007): Der Untergang des Abendlandes – Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Düsseldorf: Albatros.

Toynbee, A. J. (1970): Der Gang der Weltgeschichte – Aufstieg und Verfall der Kulturen, 2 Bde. München: dtv.

Prof. Dr. Peter Nitschke lehrt Politikwissenschaft an der Universität Vechta.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/4 Weltordnungskonzepte, Seite 12–14