Die Entmilitarisierung des Systemkonflikts
Europas Chance
von Dieter Senghaas
Ein erstes Rüstungskontrollabkommen über die Beseitigung von nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa und Asien ist unterzeichnet. Wird es weitere Rüstungskontrollabkommen geben, und welchen Inhalts müßten sie sein? Von einer Antwort auf diese Frage wird die politische Entwicklung Europas mitbestimmt werden.
Europas Entwicklung war in den vergangenen Jahrzehnten durch eine anhaltende, politisch sterile Rüstungskonkurrenz geprägt. Will man zu einer fruchtbaren Kooperation zwischen Ost und West in Europa gelangen, muß man zuallererst diese Rüstungskonkurrenz überwinden. Hierfür sind weitere weitreichende Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen erforderlich. Kämen sie zustande, so wäre das Ergebnis nicht die Überwindung des Systemantagonismus in Europa, doch dessen Entmilitarisierung. Das wäre ein großer Schritt nach vorne, ein Schritt in Richtung auf neue Formen der Konfliktbearbeitung.
Das erste Europa betreffende Rüstungskontrollabkommen hat in vielerlei Hinsicht Vorbildcharakter: Es setzt bei militärischem Gerät an, das in der öffentlichen Diskussion als politisch besonders sensibel hervorgehoben wurde; es zielt auf die Beseitigung neuesten Geräts; es vereinbart ungleiche Kürzungen auf beiden Seiten; und es enthält Vorschriften über beispiellose Methoden von Vor-Ort-Inspektionen. In allen vier Dimensionen geht das Abkommen über bisherige Rüstungskontrollvereinbarungen hinaus. Hinter ein solches Ergebnis sollte man in Zukunft nicht zurückfallen. Das heißt, neue Rüstungskontrollgespräche sollten vor politisch sensiblen Fragen nicht zurückschrecken; auch in Zukunft sollte neuestes Gerät beseitigt werden; das Prinzip asymmetrischer Kürzungen sollte als eine sinnvolle Option betrachtet werden; und weitreichende Vor-Ort-Inspektionen sollten den Prozeß der Vertrauensbildung bekräftigen. Allerdings kann auch dieses Abkommen nicht verhindern, daß das zu beseitigende Gerät durch anderes ersetzt wird. Käme es zu solchen Kompensationen, so wäre der Effekt der getroffenen Vereinbarung erheblich begrenzter, als es zunächst den Anschein hatte. Es läge ein weiteres Beispiel für »Aufrüstung durch Rüstungskontrolle« vor. Solche Kompensationsversuche sind naheliegend: Sie erwachsen aus Militärapparaten geradezu instinktiv. Denn ein Denken in militärischen Optionen und Gegenoptionen und über den vorstellbar schlimmsten Fall führt dazu, anhaltend Lücken im militärischen Eskalationsspektrum zu entdecken, die es dann zu schließen gilt. Lücken werden dabei als potentieller militärischer Gefahrenherd, nicht als Chance für einen beiderseitigen politischen Lernprozeß oder als Ausgangspunkt für Vertrauensbildung gesehen. Allein schon, weil solche kompensierenden Reaktionen erwartbar sind, sind weitere Abkommen in naher Zukunft erforderlich, um die politischen Ergebnisse des ersten Abkommens zu sichern.
Sie sind auch erforderlich, um einen sich abzeichnenden Prozeß politischer Entspannung durch angemessene Maßnahmen auf militärischer Ebene zu untermauern. Ein solches Zusammenspiel von politischer Entspannung und effektiven Rüstungskontroll- und Abrüstungsschritten fehlte in der ersten Phase der Entspannung in Europa während der späten sechziger und der siebziger Jahre. Politische Entspannung konnte sich damals nicht verläßlich stabilisieren. Dazu war die Kluft zwischen ersten Schritten der Entspannungspolitik und den Prämissen überkommener Sicherheitspolitik, also der Abschreckungspolitik, zu groß. Denn Rüstungskonkurrenz folgte weiterhin trotz Entspannung eigenen Imperativen.
Diesen konzeptuellen Fehler gilt es heute zu verhindern: Man braucht eine neue Sicherheitspolitik, von der eine positive und konstruktive Rückkoppelung auf den Entspannungsprozeß ausgeht. Andere Hindernisse gibt es ohnehin genug. Erforderlich ist eine vertrauenschaffende Sicherheitsstruktur; sie muß das Ziel von Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen sein. Das ist eine ganz neue Aufgabe, die bisher noch gar nicht versucht wurde.
Die eingangs gestellte Frage, ob es weitere Abkommen geben wird und welchen Inhalts diese sein müßten, ist also um die Frage zu vertiefen, wie eine entspannungs- und kooperationsförderliche Sicherheitsstruktur in Europa aussehen müßte und welche Rüstungskontrollabkommen ihr den Weg bereiten könnten.
Vertrauenschaffende Sicherheitsstrukturen
Das Prinzip einer neuen vertrauenschaffenden Sicherheitsstruktur in Europa ist einfach zu beschreiben: Es geht darum, eine Angriffsunfähigkeit der Militärapparate herbeizuführen. Eine solche Umorientierung muß auf beiden Seiten vorgenommen werden. Nach aller Erfahrung kann dies nur in Absprache, d.h. mit weiteren Rüstungskontrollschritten geschehen. Einseitige Maßnahmen sind der Größe des Problemes nicht angemessen.
Sicherheitsstrukturen, die Angriffsfähigkeiten nicht ausschließen, sind von Natur aus instabil. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Angriffsfähigkeit als Mittel der Verteidigung, also im Sinne angedrohter Gegenoffensive, begriffen wird. Auch eine solche Offensivfähigkeit ist problematisch. Denn auch sie provoziert fast unausweichlich über kurz oder lang auf der Gegenseite parallele Maßnahmen. Dann entsteht unausweichlich zweiseitige Offensivfähigkeit. Liegt eine solche vor, wird die Lage besonders instabil. Überdies führt Offensivfähigkeit im Krisenfall zu spezifischen Instabilitäten: zur Gefahr eines frühzeitigen und vorwegnehmenden (präemptiven) Schlages, mit dem einer vergleichbaren Aktion des Gegners rechtzeitig zuvorgekommen werden soll. Auch diese Zwänge sind bei zweiseitiger Offensivfähigkeit äußerst schwerwiegend.
Es gilt also, die Fähigkeiten der Militärapparate zu Angriffen mit kurzer militärischer Vorbereitungszeit zu beseitigen und damit auch die Gefahr vorwegnehmender Schläge in Krisenzeiten. Wenn diese Beobachtung das eigentliche Gefahrenmoment in einer labilen, weil auf einseitiger oder zweiseitiger Offensivfähigkeit aufbauenden Sicherheitsstruktur berührt, kann die praktische Schlußfolgerung nur lauten: Aufbau einer zweiseitigen Defensivfähigkeit als Grundlage einer stabilen vertrauenschaffenden Sicherheitsstruktur.
Mit Defensivfähigkeit auf beiden Seiten käme es zu militärischer Entspannung. Niemand hätte mehr militärische Übergriffe oder gar groß angelegte Invasionen, gleichgültig aus welchen Motiven sie betrieben würden, zu befürchten. Die militärischen Bedrohtheitsvorstellungen können verschwinden. Politische Phantasie bekäme neue Spielräume.
Umorientierung auf Defensivfähigkeit
Heute wird in politischen und militärischen Analysen eine Trennung zwischen politischen Absichten und militärischen Fähigkeiten gemacht. Derzeit unterstellen beide Gegenspieler in Europa der Gegenseite friedliche politische Absichten. Gelegentliche Rückfälle in alte politische Klischees bleiben Ausnahmen. Aber eine solche an und für sich positive Einstellung kann auf militärischer Ebene nicht voll zum Tragen kommen. Denn auf beiden Seiten wird in Analysen der bestehenden militärischen Fähigkeiten vom schlimmsten Fall ausgegangen. Nüchtern wird gefragt, was der jeweils andere Militärapparat – das gegnerische Bündnis – im Falle einer Krise und schon gar eines Krieges militärisch ausrichten könnte. Konsequent denkt man dabei in Kategorien militärischer Möglichkeit, nicht politischer Wahrscheinlichkeit. Solange aber unterstellte politische Absichten und unterstellte militärische Fähigkeiten so drastisch auseinanderfallen, wie das derzeit noch der Fall ist, kann es Vertrauen nicht geben. Der Prozeß politischer Vertrauensbildung wird laufend durch Verweis auf militärische Tatbestände unterlaufen. Politische Entspannung bleibt anhaltend von der militärischen Flanke her gefährdet.
Die praktische Aufgabe besteht also darin, die militärischen Fähigkeiten deutlich auf eine ausschließliche Defensivfähigkeit umzuorientieren. Die dabei entstehenden Anpassungsschwierigkeiten sind nicht unerheblich: Wo heute eher eine offensive Struktur vorliegt, selbst wenn sie nur auf den Fall der Verteidigung ausgerichtet ist, wird die Anpassung grundlegender sein als im Falle einer defensiven Struktur, die mit offensiven Komponenten durchsetzt ist.
Es ist nicht sinnvoll, in eine grundsätzliche Debatte über die mehr oder weniger vorliegende Offensiv- oder Defensivfähigkeit der bestehenden Militärapparate einzutreten. Eine solche Debatte würde nur zu Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen führen. Ein politisch steriler Diskurs wäre die Folge. Ihn hat es lange genug gegeben. Zwar kann es sinnvoll sein, wenn beide Seiten ihre hauptsächlichen Befürchtungen hinsichtlich des gegnerischen militärischen Potentials äußern: Je präziser die Aussagen, umso nützlicher könnten sie sein. Dann lassen sich Überlegungen über Schwellenwerte anstellen, unterhalb derer das unterstellte Gefahrenpotential verschwinden würde.
Nützlicher jedoch ist es, von wenigen einfachen politischen Vorstellungen weiterer Rüstungskontroll- und Abrüstungsschritte auszugehen, die aus übergeordneten friedenspolitischen Gründen wünschbar erscheinen.
Erste Zielvorstellung: Entflechtungszone
Eine erste Zielvorstellung kann in einer Entflechtungszone gesehen werden. Die Bündnisstrukturen blieben dabei, wie bei allen nachfolgenden Überlegungen, aufrechterhalten.
Wenn es richtig ist, daß in kriegerischen Aktionen mit kurzer Vorwarnzeit ein besonderes Gefahrenmoment von offensivfähigen Militärapparaten liegt, so könnte eine Entflechtungszone, Gegenstand einer weiteren Rüstungskontrollmaßnahme, ihm wirksam entgegentreten. In einer solchen Zone wäre schweres mobiles Gerät, einschließlich Brückenlegegerät, verboten. Vor allem müßten die Kampfpanzer 50 – 100 km von der Frontlinie zurückverlagert werden. Das wäre eine sichtbare und überprüfbare Maßnahme zur Entspannung. Sie wäre weit mehr wert als der in den Wiener MBFR-Gesprächen fünfzehn Jahre lang ergebnislos angestrebte symbolische Truppenabbau.
Eine solche Entflechtung könnte mit der Beseitigung der vorne gelagerten nuklearfähigen Artillerie gekoppelt werden. Die Zurückverlegung von Munitionsdepots und Vorratslagern für Kraftstoffe könnte den Vorgang unterstreichen. Auch könnte frühzeitig schweres Gerät nicht nur zurückverlagert, sondern auch abgebaut werden. Doch der wesentliche Punkt ist, daß ohne vorne stationiertes schweres und mobiles Gerät Angriffe aus dem Stand nicht möglich sind. Diese Möglichkeit prinzipiell zu beseitigen, ist der Sinn einer Entflechtungszone. Zumindest könnte sie ein erster Schritt in diese Richtung sein. Eine solche Zone könnte die in Bedrohungsanalysen meist dramatisierten Bedrohtheitsvorstellungen nachdrücklich beruhigen helfen. Sie wäre eine spektakuläre Maßnahme der Vertrauensbildung.
Die Entflechtungszone selbst wäre übrigens nicht entmilitarisiert: leicht bewaffnete Truppenkontingente und eindeutig defensives Gerät wären erlaubt. Also keine Panzer, aber Panzerabwehrwaffen, keine schwere Artillerie, aber leichte Infanterie, und insbesondere vielfältige Hindernisse. Vertreter der neutralen und nicht blockgebundenen Staaten Europas könnten als Inspekteure gute Dienste leisten.
Auf beiden Seiten durchgeführt, entstünde somit eine Sicherheitszone von 100 – 200 km Breite, weshalb ein Angriff aus dem Stand nicht mehr möglich wäre. Die erneute Verlagerung von schwerem Gerät nach vorne könnte nicht verheimlicht werden. Eine solche Bewegung würde Kriegsabsichten signalisieren. Die militärische Lage wäre also um einiges transparenter als heute, die Entflechtungszone könnte zum Grundstein einer neuen Sicherheitsstruktur werden.
Eine solche Sicherheitszone muß jedoch in einem größeren Zusammenhang gesehen werden. Auf ihn bezieht sich eine zweite Zielvorstellung.
Abbau von schwerem mobilem Gerät
Bei ihr geht es um den drastischen Abbau von schwerem mobilem Gerät, insbesondere wiederum von Kampfpanzern, nunmehr allerdings in einem größeren Gebiet. In Frage kommt der Raum zwischen Atlantik und Ural. Hier wären gleiche Obergrenzen solchen Geräts auf niedrigem Niveau anzustreben. Ein Richtmaß könnten beispielsweise je 10.000 Panzer auf beiden Seiten sein. Diese Zahl erscheint erschreckend hoch, doch hat sie erhebliche Implikationen. Denn sie würde mehr als die Halbierung des NATO-Potentials, also einen Abbau um mehr als 10.000 Panzer bedeuten. Auf östlicher Seite wäre ein Abbau in der Größenordnung von vier Fünfteln des bestehenden Panzerpotentials erforderlich; das sind Kürzungen in der Größenordnung von 40.000 Stück.
Der Vorteil einer solchen Zielsetzung besteht darin, daß sie erhebliche Kürzungen auf beiden Seiten impliziert. Man vermeidet damit, daß angesichts einer ungleichen Ausgangslage, nur eine Seite Militärpotential abzubauen hätte. Bei aller auch dann noch bestehenden Asymmetrie in der Größenordnung des Abbaus gäbe es doch eine Symmetrie in der Sache. Erreichte man einmal ein gleiches Niveau, würden weitere Kürzungen zu gleichen Prozentsätzen auf beiden Seiten vorstellbar.
Ergänzende Zielsetzungen sind denkbar: Beispielsweise der Abbau von Fluggerät (Flugzeugen, Raketen, Marschflugkörpern, Hubschraubern), mit dem der anderen Seite tiefe Schläge versetzt werden können (»deep strike capabilities«). Hier bieten sich besonders niedrige Niveaus an, beispielsweise weit weniger als 50 % des Potentials derjenigen Seite, die jeweils heute über weniger an solchem Gerät verfügt.
An die oben geforderte Entflechtungszone könnte sich eine Zone anschließen, in der im Laufe der Zeit besonders intensive Kürzungen vorgenommen würden, so daß es von der Entflechtungszone ohne schweres Gerät einen gleitenden Übergang zur größeren Zone allgemeiner Kürzungen geben würde. Wie in der Entflechtungszone, so wären auch in der Übergangszone unzweideutige Verteidigungsmaßnahmen ausdrücklich erlaubt.
Die vorgeschlagenen Maßnahmen unterscheiden sich von den früher verhandelten und von den aktuell diskutierten. Erst neuerdings gibt es auch in Darlegungen offizieller Positionen, so vor allem auf der Seite des Warschauer Paktes, gewisse konzeptuelle Annäherungen.
Neue Ansatzpunkte für Verhandlungen
Die früher verhandelten Maßnahmen, beispielsweise in den langwierigen MBFR-Gesprächen, konzentrierten sich auf die Kürzung der militärischen Personalbestände in einem begrenzten Raum. Sie scheiterten nicht nur an der Datenfrage. Wären sie erfolgreich gewesen, hätte sich die militärische Lage möglicherweise nicht wesentlich entspannt. Denn eine drastische Kürzung von offensivfähigem Gerät war nämlich nicht, zumindest nicht am Anfang, vorgesehen. – Die derzeitige NATO-Position schlägt gleiche Obergrenzen etwas unterhalb des heute verfügbaren NATO-Potentials vor. Das würde vor allem einen asymmetrischen Abbau östlicherseits erforderlich machen, im übrigen jedoch die Struktur der Streitkräfte beibehalten. Doch ein im wesentlichen einseitiger Abbau dürfte mit dem Warschauer Pakt nicht verhandelbar sein, und die Aufrechterhaltung der überkommenen Streitkräftestruktur ist nicht sinnvoll. Denn im Ergebnis würde Offensivfähigkeit nur auf niedrigerem Niveau eingependelt. Die alten Befürchtungen, ob zu Recht oder Unrecht bestehend, blieben aufrechterhalten. – Die Warschauer Pakt-Staaten gingen lange Zeit von einem rein prozentualen Abbau aus; neuerdings wird jedoch öfter auf die Möglichkeit asymmetrischer Kürzungen verwiesen: Wer mehr hat und vorne liegt, soll mehr abbauen. Bemerkenswerterweise wurde seit zwei Jahren in politischen Verlautbarungen mehrfach auf das Ziel hingewiesen, vor allem die für einen Überraschungsangriff erforderlichen Mittel abzubauen. Offensichtlich wurde durch die Berater des neuen Generalsekretärs der KPdSU, Gorbatschow, eine jahrelange wissenschaftliche und politische Diskussion, die vor allem in der Bundesrepublik, in England und Skandinavien stattfand, konstruktiv aufgegriffen. Diese Diskussion hatte in den achtziger Jahren in verschiedenen Foren, beispielsweise der Pugwash-Konferenz, eine Ost-West-Plattform gefunden.
So spricht der Jaruzelski-Plan vom Mai 1987 in seinem zweiten Punkt vom „allmählichen Abzug und Abbau gemeinsam vereinbarter konventioneller Waffensysteme, in erster Linie der Waffensysteme mit der größten Zerstörungskraft und Präzision, die zum überraschenden Angriff dienen könnten“. In einer Erklärung vom 29. Mai 1987 fordern die Mitglieder der Warschauer Vertragsorganisation „die Verminderung der Streitkräfte und konventionellen Rüstung in Europa auf ein Niveau, auf dem jede Seite sowie für Angriffsoperationen überhaupt verfügt“. Verlangt wird weiterhin „der gegenseitige Abzug der gefährlichsten Art von Angriffswaffen aus der unmittelbaren Berührungszone beider militärischer Bündnisse, sowie die Verringerung der Konzentration der Streitkräfte und Rüstungen in dieser Zone auf einen vereinbarten minimalen Stand“.
Ob damit nur eine Ausdünnung oder schon eine tiefgreifende Umstrukturierung der Streitkräfte auf Angriffsunfähigkeit gemeint ist, muß offenbleiben und wäre in offiziellen Konsultationen herauszufinden. Aber um solche Konsultationen sinnvoll führen zu können, wäre eine vergleichbare Zielsetzung westlicherseits erforderlich. Der selbstgerechte Hinweis, man sei schließlich selbst gar nicht offensivfähig, und nur der Warschauer Pakt verfüge über eine Invasionsfähigkeit, blockiert den Ost-West-Diskurs, nachdem die östliche Seit verschiedentlich bemerkenswerte konzeptuelle Vorstöße, wie die zitierten, gemacht hat. „Gegenstand der Konsultationen“, so heißt es in der zitierten Deklaration vom 29.5.1987, „könnten auch entstandene Ungleichgewichte und Asymmetrien bei einzelnen Arten von Rüstungen und Streitkräften sowie die Suche nach Möglichkeiten ihrer Beseitigung sein, und zwar auf dem Wege der Verminderung durch denjenigen, der jeweils vorne liegt, in dem Verständnis, daß diese Verminderungen zu immer niedrigeren Niveaus führen“. Das könnte prinzipiell genauso von westlichen Politikern formuliert sein, und es gibt also keinen Grund, die Konsultationen, die noch für 1987 vorgeschlagen wurden, weiter auf die lange Bank zu schieben.
Es müßte nicht schwierig sein, sich auf einer solchen Plattform zu treffen. Die NATO unterstellt dem Warschauer Pakt die Fähigkeit zur raumgreifenden Offensive, also Invasionsfähigkeit; der Warschauer Pakt fordert die Beseitigung von Mitteln für Überraschungsangriffe und Angriffsoperationen. Beide Seiten könnten nunmehr mit militärischen Details ihre Beschwerdepunkte ausweisen: Welche Waffensysteme und welche Merkmale der Streitkräftestruktur der jeweils anderen Seite werden als besonderes militärisches Gefahrenpotential eingestuft? Vielleicht ließe sich dann auf solcher politischer Plattform auch in der offiziellen Diskussion allmählich das Konzept einer breiten Entflechtungszone und beidseitiger Defensivfähigkeit verankern.
Das neue sicherheitspolitische Denken in der Sowjetunion eröffnet hierfür eine Chance, die sich noch vor wenigen Jahren so nicht bot. Wie weit dieses neue Denken, das ohne Zweifel vorliegt, sich in operative Planungen für weitreichende Rüstungskontroll- und Abrüstungsschritte, insbesondere für Schritte in Richtung auf eine beidseitige Defensivstruktur übersetzt und im eigenen Militärapparat durchsetzen läßt, kann nur in ernstgemeinten Gesprächen herausgefunden werden. Der von der Sowjetunion und den Warschauer Paktstaaten zugespielte Ball, kaum erwartet und ungläubig zur Kenntnis genommen, wurde bisher vom westlichen Bündnis nicht angemessen und eher kleinmütig aufgegriffen. Gefordert sind auch westlicherseits Vorstellungen über größere als nur kosmetische Veränderungen. Die in Bewegung geratene Rüstungskontrollszenerie durch hinhaltendes Taktieren zu blockieren, macht also keinen Sinn.
Vernachlässigt eine solche auf konventionelle Stabilität und Angriffsunfähigkeit ausgerichtete Perspektive nicht die weitere nukleare Abrüstung?
Der Zusammenhang zur nuklearen Abrüstung
Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die nukleare Artillerie kurzer Reichweite, also nukleare Gefechtsfeldwaffen, frühzeitig und umfassend abgebaut werden sollten. Wenn Nuklearwaffen als politische Waffen begriffen werden, macht insbesondere die nukleare Artillerie kurzer Reichweite keinerlei Sinn. Sie ist ein Überbleibsel aus einer frühen Zeit, als Nuklearwaffen dieser Art für nichts anderes gehalten wurden, als für effiziente konventionelle Waffen. Damals glaubte man, Nuklearwaffen könnten besonders wirkungsvoll an die Stelle fehlender konventioneller Waffen treten. Dieser Glaube ist immer noch nicht ganz ausgestorben. So kam es seinerzeit zur Konventionalisierung gerade der Nuklearwaffen geringerer Reichweite.
Eine solche Rollenzuweisung liegt heute noch immer vor. Ansonsten machte es keinen Sinn, die Nuklearartillerie zu modernisieren. Diese Modernisierung ist derzeit leider in vollem Gange. Sie gilt es zu stoppen, denn sie widerspricht den hier umrissenen sinnvollen Rüstungskontrollschritten.
Nuklearwaffen mittlerer und größerer Reichweite werden höchstwahrscheinlich in einem ersten Anlauf neuer Rüstungskontrollvereinbarungen nicht zu beseitigen sein. Das ist weniger gravierend, als gewöhnlich unterstellt wird. Denn Nuklearwaffen sind stumpfe Instrumente, wenn sie nicht vom drohenden Einsatz konventionellen Personals und Geräts untermauert werden. Mit Nuklearwaffen allein lassen sich keine fremden Territorien besetzen. Anders ausgedrückt: Diese Systeme werden schrittweise funktionslos, wenn es zum Abbau von Offensivfähigkeit kommt.
Viele sehen in der Existenz von weiterreichenden Nuklearwaffen und in der Nuklearstrategie überhaupt robuste Instrumente der Kriegsverhütung. Doch auch für die Verfechter einer solchen Perspektive kann ein weiterer Abbau von Nuklearwaffen in der Folge einer sich herausbildenden konventionellen Stabilität und konventioneller Angriffsunfähigkeit akzeptabler sein als neuerliche isolierte Schritte nuklearer Abrüstung.
Man kann also getrost das Augenmerk auf die konventionelle Seite des weiteren Rüstungskontrollprozesses legen, ohne dadurch die Problematik der in Europa noch dislozierten Nuklearwaffen sträflich zu vernachlässigen. Zwischen Fortschritten in der konventionellen Stabilität und Angriffsunfähigkeit und der Entfunktionalisierung der noch bestehenden weitreichenden Nuklearwaffen besteht ein innerer, ein fast automatischer Zusammenhang: Je größer die Fortschritte im einen Bereich, umso überflüssiger die verbleibenden Nuklearwaffen.
Die Perspektive, die es zu entwickeln galt, ist also klar: Auseinanderrücken der Militärblöcke in Europa durch Schaffung einer Entflechtungszone, in der schwere mobile Geräte, vor allem Kampfpanzer, nicht erlaubt wären. Drastische Kürzungen von schwerem mobilem Gerät und von Geräten, die für tiefe Schläge in das gegnerische Hinterland erforderlich sind, in einem Raum vom Atlantik bis zum Ural. Allmähliche Herausbildung einer doppelten Angriffsunfähigkeit und beidseitiger Defensivfähigkeit. Frühzeitige Beseitigung der Nuklearartillerie kurzer Reichweite. Schrittweiser Abbau von eurostrategischen Nuklearwaffen mittlerer und größerer Reichweite als Folge einer sich stabilisierenden konventionellen Struktur und konventioneller Angriffsunfähigkeit.
So könnte eine Sicherheitsstruktur entstehen, die den politischen Entspannungsprozeß unterfüttern würde. Wirtschaftliche und wissenschaftliche Kooperation könnten dann vertieft werden, menschliche Kontakte wären erleichtert. In Europa würden dann allerdings immer noch erhebliche Probleme übrigbleiben: der Antagonismus unterschiedlicher Gesellschaftssysteme, die Anpassungsschwierigkeiten europäischer Staaten und Gesellschaften an die veränderte Lage. Solche Anpassungsschwierigkeiten wären wahrscheinlich im Osten aus Gründen der dort existierenden starren politischen Struktur erheblicher als im Westen. Doch beide Teile müßten von militärischen Feindbildern Abschied nehmen, ohne ideologische Freunde werden zu können. Vielleicht käme dann die Kultur des Streits zum Tragen, eine neue Form des Konfliktaustrages. In einem solchen entmilitarisierten Umfeld könnte der Wettstreit der Systeme erst eigentlich beginnen.
Prof. Dr. Dieter Senghaas lehrt Internationale Politik und internationale Gesellschaft an der Universität Bremen.