W&F 2010/1

Die ersten Atombomben

Die Motive der beteiligten Wissenschaftler

von Karl Lanius

Der Abwurf der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 markiert den Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte der Menschheit (Einstein). Um Motive und Reaktionen der Menschen zu verstehen, die an der Entwicklung, der Fertigung und dem Einsatz der Bombe mitwirkten, muss man die Zeit näher betrachten, in der sie entstand. Zweifellos sind der Bau der Bombe und die Machtergreifung Hitlers untrennbar miteinander verknüpft - nicht nur durch den Zweiten Weltkrieg, den die Aggression des Dritten Reiches auslöste, sondern auch durch den Exodus der Wissenschaftler in Folge der Rassenpolitik.

Das erste antijüdische Gesetz des »Dritten Reiches« wurde bereits am 7. April 1933 erlassen, rund zwei Monate nach der »Machtübernahme«. Das Gesetz ordnete an, Beamte nicht-arischer Abstammung in den Ruhestand zu versetzen. Die erste Durchführungsverordnung definierte jeden als nicht arisch, der von jüdischen Eltern oder Großeltern abstammte. Es genügte, wenn ein Eltern- oder Großelternteil jüdisch war. Universitäten waren Einrichtungen des Staates - Professoren waren Beamte. Universitäten wie Berlin und Frankfurt verloren jeweils ein Drittel des Lehrkörpers. Rund ein Viertel der Physiker Deutschlands verloren ihre Stellung und damit ihren Lebensunterhalt. Um zu überleben, mussten sie emigrieren.

Einstein, der prominenteste Wissenschaftler Deutschlands, ein engagierter Pazifist, verließ Deutschland bereits 1932. Auch einige der dort arbeitenden ungarischen Physiker gingen vor 1933. Sie wussten aus eigenem Erleben in ihrer Heimat, was vom herannahenden Faschismus zu erwarten war. Sie deuteten die Zeichen der Zeit richtig. Wichtigstes Zielland der Emigranten waren die Vereinigten Staaten. Rund hundert der aus Deutschland flüchtenden Physiker fanden hier Arbeitsplätze und eine neue Heimat.

Briefwechsel mit Folgen

Noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wanderten junge Physiker durch Europa, um hervorragende Gelehrte ihres Faches als Lehrer aufzusuchen. Damit knüpften sie an die Tradition von Handwerkern und Scholaren an. So formte sich eine überschaubare internationale Gemeinschaft von Wissenschaftlern, die - mittels Briefen, wissenschaftlichen und persönlichen Kontakten und Freundschaften gut vernetzt und in ständigem Kontakt - in unbekannte Naturbereiche vordrangen. Basis dafür waren Meinungsfreiheit und völlige Offenheit in der Kommunikation. Revolutionierende Entdeckungen und Ideen verbreiten sich auf diese Art sehr schnell.

Von Berlin, wo Otto Hahn und Fritz Straßmann kurz vor Weihnachten 1937 die Spaltung des Urankerns unter Neutronenbeschuss beobachteten, gelangte die Nachricht über den Nachweis der Kernspaltung über Schweden und Dänemark schließlich in die USA. Ein zentraler Diskussionspunkt unter den Physikern war die Geheimhaltung ihrer Untersuchungen. (Es sei daran erinnert, dass im März 1939 Böhmen und Mähren mit dem »Segen« Frankreichs und Englands zum deutschen Protektorat wurden.)

Die engagierten ungarischen Physiker in den USA, Leó Szilárd, Eugene Wigner und Edward Teller, forderten eine strikte Geheimhaltung. Dagegen stand die Ansicht Niels Bohrs. „Er setzte sich seit Jahrzehnten für den Aufbau einer internationalen Gemeinschaft der Forscher ein, die innerhalb ihrer beschränkten Wirkungssphäre ein Modell für eine zukünftige friedliche, politisch geeinte Welt abgeben könnte. Das oberste, stets gefährdete Verfassungsprinzip dieser Gemeinschaft war Offenheit; Offenheit war eine funktionale conditio sine qua non, genauso wie etwa die Meinungsfreiheit für eine demokratische Gesellschaft. Völlige Offenheit erforderte völlige Aufrichtigkeit: Der Forscher berichtete über alle seine Resultate, die erfreulichen wie die unerfreulichen, und zwar dort, wo alle anderen sie nachlesen könnten; nur so konnte der Prozess der beständigen wechselseitigen Fehlerkorrektur funktionieren.“ 1

Im Sommer 1939 wandten sich die ungarischen Physiker an Einstein. Sie veranlassten ihn zu einem Brief an Franklin D. Roosevelt, in dem er den Präsidenten der Vereinigten Staaten auf die Möglichkeit zur Schaffung einer Atombombe hinwies und vorschlug, das bis dahin sehr bescheidene nukleare Forschungsprogramm der USA auszuweiten. Die Gedanken, die die ungarischen Physiker bewegten, als sie Einstein zu seinem Schreiben veranlassten - und auch die Feder führten -, charakterisierte Wigner nach dem Abwurf der Bomben auf Japan mit den Worten: „Obwohl keiner von uns [in der Anfangsphase] den Behörden gegenüber viel darüber sagte - sie hielten uns auch so schon für Träumer -, hofften wir, die Entwicklung von Atomwaffen könne über die Abwehr einer unmittelbar drohenden Katastrophe hinaus noch eine andere Wirkung zeitigen. Wir erkannten, dass, wenn einmal atomare Waffen entwickelt wären, keine zwei Nationen mehr in Frieden zusammenleben könnten, ohne dass nicht eine gemeinsam bevollmächtigte höhere Instanz die Oberaufsicht über ihre Militärapparate ausüben würde. Wir rechneten damit, dass diese Kontrollinstanzen, wenn sie über genügend Macht verfügten, um Atomkriege zu verhindern, auch in der Lage sein würden, mit allen anderen Kriegen Schluss zu machen. Diese Hoffnung war für unser Vorgehen ein fast ebenso wirksamer Ansporn wie die Angst, wir könnten feindlichen Atombomben zum Opfer fallen.“ 2

Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen. Erst am 11. Oktober wurde Roosevelt über den Inhalt des Einsteinschen Briefes informiert. Der Präsident veranlasste die Bildung eines beratenden Ausschusses für Uran-Fragen. Der Ausschuss empfahl dem Präsidenten, ausreichende Mittel für eine gründliche Erforschung bereitzustellen. Im Vordergrund der Untersuchungen sollte die Prüfung der Möglichkeit einer kontrollierten Kettenreaktion stehen, z.B. als Energiequelle für Unterseeboote. Der Bau einer Bombe aus Uran schien den meisten Physikern, Politikern und Militärs zu dieser Zeit lediglich eine ferne Utopie zu sein.

Bis zum Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion im Juni 1941 schleppte sich das amerikanische Programm mühsam dahin, ständig durch Auseinandersetzungen mit bürokratischen Zweiflern behindert. Anfang Oktober 1941 überreichten die Briten der amerikanischen Regierung einen Bericht über ihre Untersuchungen. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass der Bau einer Bombe aus Uran-235 machbar sei.

Atomwaffenprogramm in den USA

Roosevelt veranlasste daraufhin die Bildung einer »Top Policy Group«, zu der neben dem Vizepräsidenten auch der Kriegsminister und der Generalstabschef zählten. Damit wurde den Wissenschaftlern jedes Mitspracherecht über den Einsatz der zu entwickelnden Waffen genommen, deren Bau sie vorgeschlagen hatten. „Ein Wissenschaftler konnte sich nun also entscheiden, ob er mithelfen wollte, Kernwaffen zu bauen, oder nicht. Der Preis, der als Eintrittsgeld für die Aufnahme in den zunehmend separat existierenden und mit dem öffentlichen Staat nur durch die Person und die alleinige Autorität des Präsidenten verbundenen Geheimstaat zu zahlen war, lautete: Aufgabe jedes weiterführenden, außerwissenschaftlichen Autoritätsanspruchs. Bei vielen war die Entscheidung durch Patriotismus motiviert, jedoch lassen die Äußerungen der Physiker dieser Zeit ein anderes Motiv als das wichtigere erscheinen. Dieses Motiv war die Angst: Angst vor einem deutschen Sieg, Angst vor einem durch Atombomben unverwundbar gemachten Tausendjährigen Reich. Und vielleicht noch tiefer als solche Angst war ein gewisser Fatalismus verwurzelt. Die Bombe hockte in ihrem Versteck in der Natur, wie sich in den Zellen des menschlichen Körpers die Chromosomen verstecken. Und wie man sie aus diesem Versteck herausholen konnte, das würde jede Nation irgendwann herausfinden können. Deshalb ging es nicht nur um einen Wettlauf mit dem Deutschen Reich. (...) Noch hatten die Vereinigten Staaten sich nicht entschieden, die Atombombe zu bauen. Jedoch hatte man sich nun unwiderruflich dazu entschlossen, die Möglichkeiten des Baus ausführlich zu erforschen. Diese Entscheidung traf ein Mann - Franklin D. Roosevelt - im Geheimen und ohne den Kongress oder die Gerichte zu befragen. Seiner Ansicht nach handelte es sich um eine militärische Entscheidung, und er führte schließlich den Oberbefehl.“ 3

Am 7. Dezember 1941 erfolgte der japanische Luftangriff auf Pearl Harbor: Die USA befanden sich ab jetzt im Krieg. Die Arbeiten an der Atombombe wurden deutlich forciert. Im September 1942 übertrug der Kriegsminister die Leitung der Arbeiten - das so genannte Manhattan-Projekt - an Brigadegeneral Leslie R. Groves.

Über folgende Etappen führte unter seiner Leitung der Weg nach Hiroshima und Nagasaki:

Inbetriebnahme des ersten Uran-Graphit-Reaktors;

Schaffung eines geheimen, streng bewachten zentralen Laboratoriums in der Wüste Neu Mexikos, dessen Leitung dem theoretischen Physiker Robert Oppenheimer übertragen wurde;

Bau der industriellen Anlage zur Trennung des zum Bombenbau erforderlichen Uran-235 aus natürlichem Uran;

Errichtung von drei Kernreaktoren zur Erzeugung von Plutonium, dem zweiten zum Bombenbau geeigneten Element;

Errichtung von vier riesigen chemischen Trennanlagen zur Separierung des Plutoniums aus den hochradioaktiven Brennstäben der Kernreaktoren.

Die Forschungs-, Entwicklungs- und industriellen Fertigungsanlagen, die rund zwei Milliarden US-Dollar gekostet hatten, mündeten in eine erste Testexplosion am 16. Juli 1945 in der Wüste von Nevada. Auf Befehl des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Harry S. Truman, Nachfolger des wenige Monate zuvor verstorbenen Roosevelt, folgte der Bombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki im August.

Stolz und moralische Konflikte

Einer der jüngeren Emigranten, der Physiker Victor Weisskopf, der von Beginn an in Los Alamos arbeitete, schreibt in seiner Autobiographie: „Heute bin ich mir nicht ganz sicher, ob mein Entschluß, mich an diesem ungeheuren - und ungeheuerlichen - Vorhaben zu beteiligen, allein auf der Befürchtung beruhte, die Nazis würden uns zuvorkommen. Es war vielleicht ganz einfach der Drang, an der bedeutsamen Arbeit teilzuhaben, die meine Freunde und Kollegen taten. Sicherlich spielte auch ein Gefühl des Stolzes mit, an einem einzigartigen, sensationellen Unternehmen mitzuwirken. Zudem bot es Gelegenheit, der Welt zu zeigen, wie kraftvoll, einflußreich und pragmatisch die esoterische Wissenschaft der Kernphysik sein konnte.“ 4

Mit dem Abwurf der Atombomben war für Weisskopf das Ziel der Arbeiten erreicht. Neben vielen anderen verließ er Los Alamos, um sich wieder der Grundlagenforschung zuzuwenden: „Wir waren stolz auf unsere Leistung, dennoch belastete uns die Erkenntnis, daß wir die Verantwortung trugen für die Herstellung der vernichtendsten Waffe, die je ersonnen wurde. Wir lebten mit dem Bewußtsein, daß unsere Arbeit den Tod von mehreren hunderttausend Menschen unter grauenhaften Umständen herbeigeführt hatte - in der gewaltigen Hitze verbrannt und durch Radioaktivität getötet oder verstümmelt. Wir hatten den erhofften Frieden errungen. Doch mit dem Sieg der Alliierten und dem Ende des Krieges kam eine Reihe von Widersprüchen und moralischen Konflikten, für deren Überwindung manche von uns viele Jahre brauchten.“ 5

Nur in wenigen Ausnahmefällen beteiligten sich emigrierte Physiker lediglich eingeschränkt am Bau der ersten Atombomben. Der deutsche Physiker Klaus Fuchs floh 1933 nach England, um als Kommunist einer drohenden Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. 1941 wurde er aufgefordert, sich an den britischen Untersuchungen zum Bau einer Atombombe zu beteiligen. Er zählte zu den britischen Wissenschaftlern, die von 1943 bis 1946 in Los Alamos am Bau der ersten Atombomben teilnahmen. Zeitgleich mit seiner Zustimmung zur Teilnahme entschloss er sich zur Weitergabe von Informationen an die Sowjetunion, da auf ihr die Hauptlast des Überlebenskampfes gegen die mörderische Aggression Deutschlands ruhte.

Der polnische (und jüdische) Physiker Józef Rotblat befand sich vor dem Überfall Deutschlands auf Polen zu Forschungszwecken an der Universität Liverpool, wo er sich mit kernphysikalischen Arbeiten befasste. Sie führten ihn 1943 nach Los Alamos. Im November 1944 erfuhren die Wissenschaftler, die am Manhattan-Projekt arbeiteten, dass Deutschland weit von der Fertigstellung einer Atombombe entfernt war. Er verließ daraufhin als einziger Los Alamos und kehrte nach England zurück. Nach dem Abwurf der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki wurde er zu einem der prominentesten Gegner der atomaren Aufrüstung.6

Anmerkungen

1) Rhodes, R. (1990): Die Atombombe. Berlin, S.291.

2) Wigner, E.P. zitiert in: Rhodes, R., a.a.O., S.306.

3) Rhodes, R., a.a.O., S.380f.

4) Weisskopf, R. (1991): Mein Leben. München, S.151.

5) ebenda, S.183.

6) Eine ausführlichere Diskussion von Verantwortung im Kontext der Atombombe und des Klimawandels findet sich in: Karl Lanius, Verantwortung, überarbeitete Fassung vom 20.4.2007; www2.hu-berlin.de/leibniz-sozietaet/debatte/verantwortung3.pdf.

Karl Lanius, emeritierter Professor für Physik, leitete viele Jahre das Institut für Hochenergiephysik der Akademie der Wissenschaften. 1969 wurde er Ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Er zählte zu den Gründungsmitgliedern der Leibniz-Sozietät. Seit 1991 beschäftigt er sich mit nichtlinearen Prozessen in Natur und Gesellschaft.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2010/1 Intellektuelle und Krieg, Seite 24–26