W&F 2017/2

Die Fluchtkrise

Sozialpsychologische Analysen und Implikationen

von Ulrich Wagner und Patrick F. Kotzur

Mit dem Anwachsen der Geflüchtetenzahlen im Sommer 2015 ging eine Welle der Hilfsbereitschaft durch Deutschland. Gleichzeitig gab es durchgängig auch ablehnende Stimmen, die sich gegen Geflüchtete und für Begrenzungen aussprachen. Dieser Beitrag diskutiert einige sozialpsychologische Mechanismen im Zusammenhang mit der Debatte um Flucht und Geflüchtete sowie politische und gesellschaftliche Implikationen, die sich daraus ergeben.

Die Welt in Kategorien einzuteilen, ist eine wichtige und grundlegende Fähigkeit, die hilft, den Alltag zu gestalten: Wie selbstverständlich ordnen wir Reize unserer Umwelt ein und reagieren entsprechend. Wir stellen z.B. fest: Ein Gegenstand nähert sich, kategorisieren ihn als Auto und bleiben stehen.

Kategorisierung

Kategorisierung ist aber auch eine wesentliche Grundlage von Stereotypisierung, Vorurteilen und Diskriminierung. Kategorisierung, so hilfreich und notwendig sie ist, führt auch zu Fehlschlüssen, z.B. übermäßiger Homogenisierung: Menschen innerhalb einer Kategorie werden als zueinander sehr viel ähnlicher wahrgenommen, als sie tatsächlich sind. »Flüchtlingen« werden gemeinsame Eigenschaften, Stereotype, zugeschrieben, die sie als Einzelpersonen nicht zwangsläufig besitzen. Stereotype über Personengruppen gehen oft auf (negative) Erfahrungen mit Einzelmitgliedern zurück, die wir auf die gesamte Gruppe generalisieren. Manchmal reicht es dafür schon, vom negativem Verhalten eines Gruppenmitglieds gehört oder in der Presse gelesen zu haben.

Stereotype über Gruppen knüpfen häufig an existierende gesellschaftlich geteilte Vorstellungen über Gruppen an, wie das Bild des angeblich bedrohlichen schwarzen Mannes – ein Stereotyp, das vermutlich zur Rechtfertigung der europäischen Eroberung Afrikas entwickelt wurde (Fredrickson 2002). Die (lancierte) Geschichte einer Straftat eines einzelnen afrikanischen Geflüchteten fällt damit auf fruchtbaren Boden; sie deckt sich mit dem, was man sowieso schon zu wissen glaubte, möglicherweise fernab der Realität (vgl. Gehrsitz and Ungerer 2017).

Fazit

Vorsicht bei der Betonung von Gruppenmitgliedschaften, vor allem, wenn es sich um negative Verhaltensweisen Einzelner handelt. Ist es zum Beispiel für Rezipient*innen einer politischen Botschaft oder eines Presseberichts wirklich wichtig zu wissen, ob es sich bei einem Strafverdächtigen um eine Person mit Migrationshintergrund handelt? Ist der Migrationshintergrund für die Einordnung der Tat von Bedeutung (z.B. durch Marginalisierung motivierte Taten) oder nicht (z.B. auf andere Motive rückführbare Straftaten, wie Affekt)? Wenn nicht, sollte darauf verzichtet werden, um negative Folgen unnötiger Generalisierungen zu vermeiden. Der Pressekodex des Presserates forderte bis vor Kurzem sehr richtig, dass die Zugehörigkeit von Verdächtigen und Straftäter*innen zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt werden soll, wenn ein begründbarer Sachbezug zur Tat besteht.

Gruppenmitgliedschaften und Eigengruppenaufwertung

Von besonderer Bedeutung sind Kategorisierungen, bei denen wir selbst einer der Kategorien zugehören. Wir neigen dazu, »unsere« Gruppe auf- und »fremde« Gruppen abzuwerten. Dieses Phänomen der Eigengruppenbevorzugung geht nach der Theorie der sozialen Identität (Tajfel 1978) auf zwei Prozesse zurück: Erstens sind Gruppenmitgliedschaften identitätsstiftend. Zweitens streben wir nach einer positiven Identität. Die Abwertung anderer dient der Aufwertung der eigenen Gruppe und somit uns selbst. Eine Voraussetzung für Eigengruppenbevorzugung ist, dass wir uns mit einer zugeschriebenen Gruppenmitgliedschaft identifizieren (Wagner und Butenschön 2014; Wagner et al. 2012). Eine zweite Voraussetzung ist, dass diese Gruppenzugehörigkeit in einer Situation von Bedeutung, d.h. salient, ist: Ein Gespräch mag ruhig verlaufen, bis die Gesprächspartner*innen feststellen, dass sie unterschiedlichen Nationalitäten angehören. Die saliente Nationalität wird somit urteils- und verhaltenswirksam.

Fazit

Bestimmte Gruppenmitgliedschaften hervorzuheben sollte vermieden werden, da die Gefahr besteht, dass Menschen, die diese Mitgliedschaft nicht teilen, abgewertet werden. Nationalismus birgt genau diese Gefahr.

Ressourcenkonflikte

Kategorisierung wird besonders dann erlebens- und verhaltensrelevant, wenn Gruppenmitglieder glauben, mit anderen Gruppen in Konflikte um materielle oder kulturelle Ressourcen eingebunden zu sein (Sherif and Sherif 1969), z.B. um Wohlstand, Wohnraum, Arbeitsplätze oder auch um »Leitkultur«. Dabei ist die subjektive Wahrnehmung eines Konflikts hinreichend.

Fazit

Auseinandersetzungen um vermeintliche Konflikte um Ressourcen zwischen einheimischer Bevölkerung und Geflüchteten sind zu vermeiden. Sachverhalte sollten richtiggestellt und alternative, sachlich korrekte Narrative gemeinsamen Nutzens angeboten werden, wie z.B. Möglichkeiten des Erhalts gefährdeter Infrastruktur im ländlichen Raum oder der gemeinsamen Entwicklung einer weltoffenen Gesellschaft.

Konditionierung von Emotionen

Beziehungen zwischen Gruppen verschlechtern sich besonders dann, wenn Fremdgruppen mit negativen Emotionen, z.B. Angst, verknüpft werden (Stephan and Renfro 2002). Angst kann durch Einzelereignisse konditioniert werden. Dabei ist es ausreichend, von angstauslösenden Ereignissen nur indirekt zu erfahren, beispielsweise durch Medien (Paterson et al., in prep). Außerdem kann Angst, z.B. vor einem Attentäter, auf andere Menschen generalisieren, die dem Attentäter ähnlich erscheinen, im Fall des Berliner Weihnachtsmarktanschlags 2016 auf andere Geflüchtete. Angst mündet in Vermeidungs- und Rückzugsverhalten und wird damit sowohl für die Ängstlichen als auch für die Gemiedenen problematisch. Angst kann in Hass umschlagen. Dies scheint insbesondere dann der Fall zu sein, wenn sich mehrere Menschen gegenseitig von ihrer Ablehnung gegen Fremde und deren vermeintlichem Fehlverhalten überzeugen. Hass führt zur Attacke und zu Gewalt gegen das Hassobjekt, also gegebenenfalls gegen Menschen, die Geflüchteten ähneln (Wagner and Christ 2007).

Fazit

Angst- und Vermeidungsspiralen können negative Folgen für alle Beteiligten mit sich bringen und Stereotypisierung, Vorurteile und Diskriminierung verstärken. Was hilft? Eine Möglichkeit besteht darin, über die Gründe der eigenen Angst zu reflektieren und sich deren mangelnder Rationalität bewusst zu werden.

Politische Instrumentalisierung

Wir können mit Unsicherheit nur schwer umgehen (Festinger 1954). Deshalb suchen wir nach Antworten, auch auf die Frage, wie mit Veränderungen im Zusammenhang mit der so genannten Flüchtlingskrise umgegangen werden soll. Demagog*innen verstehen es, durch das Streuen von Gerüchten und durch die Übertreibung von Gefährdungslagen die Aufmerksamkeit Verunsicherter auf sich und ihre Argumente zu lenken – um sich dabei gleichzeitig als Lösung für die selbst heraufbeschworene Bedrohung anzubieten.

Zum einen führt das Heraufbeschwören von Bedrohung zu konservativeren Einstellungen und zur vehementeren Ablehnung von Unbekanntem (Burke et al. 2013). Zum anderen wollen wir unsere einmal gefassten Überzeugungen bestätigen (Festinger1954). Wenn wir verunsichert sind, suchen wir daher nicht nach Informationen, die diese Befürchtungen eindämmen könnten, sondern nach solchen, die unsere Erklärungen für die gefühlte Bedrohung bestätigen. Soziale Netzwerke unterstützen die Abkapselung und die Ausgrenzung von Andersdenkenden (Del Vicario et al. 2016), was sich auch in der »Lügenpresse«-Debatte artikuliert.

Fazit

Der Verbreitung falscher Informationen über Fremdgruppen muss entschieden entgegengetreten werden. Politisch Verantwortliche müssen Lösungsstrategien nachvollziehbar begründen und breit kommunizieren.

Gegenmaßnahmen: Sanktionierung, Information und Kontakt

Strafrechtlich relevante Ausgrenzung von Fremdgruppen, wie Hasskriminalität, muss sanktioniert werden. Sanktionierung stößt allerdings an ihre Grenzen, wenn die Ablehnung die Schwelle der Strafbarkeit nicht überschreitet.

Zwei Strategien sind besonders effizient, um gegen Stereotypisierung, Vorurteile und Diskriminierung vorzugehen: Informationskampagnen und Kontaktprogramme. Informationskampagnen sind vor allem dann effektiv, wenn sie empathisch auf die benachteiligte Situation der Ausgegrenzten hinweisen (Lemmer and Wagner, in prep). Kontakt zwischen Mitgliedern von Gruppen, die einander ablehnen, führt ebenfalls effektiv zur Reduktion von Vorurteilen (Pettigrew and Tropp 2006; Lemmer and Wagner 2015), wenn er nicht unter äußerst ungünstigen Bedingungen stattfindet. Kontakt führt zum Abbau negativer Emotionen, vermittelt Kenntnisse über die andere Gruppe und ermöglicht, Empathie zu entwickeln und damit Kategoriengrenzen zu entschärfen.. Kontakterfahrungen erlauben auch einen neuen und aufgeklärteren Blick auf die eigene Gruppe (Pettigrew and Tropp 2008). Es gibt eine Reihe von Kontaktinterventionen, die gezielt Kontakte zwischen Geflüchteten und Einheimischen initiieren, um auf diesem Wege Vorurteile zu reduzieren (Lanphen 2011).

Gerade diejenigen, die fremde Gruppen besonders ablehnen, vermeiden anderslautende Informationen und Kontakte (Kauff et al. 2013). Hilfreich ist daher, wenn die stark Ablehnenden feststellen, dass in ihrem Umfeld durchaus Kontakte mit der jeweils anderen Gruppe gepflegt werden und Offenheit der Gesellschaft zur sozialen Norm gehört (Brune et al. 2016).

Fazit

Gesetzesübertretungen bedürfen der Verfolgung und Sanktionierung. Kampagnen gegen Falschinformationen helfen, der Ausbildung von Übergeneralisierungen entgegenzuwirken. Informationskampagnen gegen abgeschlossene Echoräume im Internet erfordern allerdings einen langen Atem. Kontakte mit Mitgliedern fremder Gruppen helfen ebenfalls, Vorurteile abzubauen. Das setzt Kontaktmöglichkeiten voraus. Notwendig sind z.B. kleine Unterbringungseinheiten für Geflüchtete in den Gemeinden, die Kontakt mit dem Umfeld erlauben. Ghettos sind aus der Perspektive der Kontakttheorie schädlich.

Integration

Integration ist eine Form des Zusammenlebens, die es Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen ermöglicht, gemeinsame Kulturstandards zu entwickeln. Wenn sich lediglich eine Gruppe einer anderen anpassen soll, spricht man von Assimilation (Berry 1997). Die gegenwärtige politische Diskussion dreht sich häufig um die Assimilation von Geflüchteten an die Mehrheitsgesellschaft in Sprache, Bildung und Ausbildung. Die Forderung nach der Einhaltung des Grundgesetzes und der Menschenrechte ist ebenfalls eine Forderung nach Assimilation – nach unserer Auffassung berechtigt. Darüber hinaus gibt es aber einen breiten Spielraum der Gestaltung einer Einwanderungsgesellschaft, die gemeinsam ausgehandelt werden sollte, wie beispielweise Antworten auf Fragen nach der Gestaltung von Religionsunterricht oder von Feiertagen.

Fazit

Die Förderung interkultureller Kompetenz auf allen Seiten ist das hervorragende Bildungsziel. Wir brauchen eine breite gesellschaftliche und politische Diskussion darüber, in welchen Lebensbereichen die Assimilation an einheimische Vorstellungen eine legitime Forderung ist und wo gemeinsam integrative Ziele neu entwickelt werden können.

Radikalisierung

Nährboden für Radikalisierung und Terrorismus sind Gefühle ungerechtfertigter Ausgrenzung, kombiniert mit der politischen oder religiösen Legitimation, gegen diese Ausgrenzung mit Gewalt vorgehen zu dürfen (Moghaddam 2004). Integrationsangebote, welche der Ausgrenzung entgegenarbeiten und die Schaffung einer gemeinsamen sozialen Identität bestärken, gehören daher zu den besten Maßnahmen primärer Prävention von Radikalismus und Terrorismus.

Fazit

Benachteiligung und Diskriminierung müssen reduziert werden, die – gerechtfertigt oder nicht – als Rechtfertigung für Radikalisierung herhalten. Unsicherheiten, wie lange Phasen eines unsicheren Aufenthaltsstatus, sind zu vermeiden. Vorübergehende Aufenthaltsrechte, z.B. zur eigenen Weiterqualifikation, wären auch bei zweifelhaftem Asylstatus eine Maßnahme zur Erhöhung der inneren Sicherheit.

Literatur

Berry, J. (1997): Immigration, acculturation and adaptation. Applied Psychology – An International Review, 46, S. 5-34.

Brune, A.; Asbrock, F.; Sibley, C.G. (2016): Meet your neighbours – Authoritarians engage in intergroup contact when they have the opportunity. Journal of Community & Applied Social Psychology, 26(6), S. 567-580.

Burke, B.L.; Kosloff, S.; Landau, M.J. (2013): Death goes to the polls – A meta-analysis of mortality salience effects on political attitudes. Political Psychology, 34(2), S. 183-200.

Del Vicario, M.; Bessi, A.; Zollo, F.; Petroni, F.; Scala, A.; Caldarelli, G.; Quattrociocchi, W. (2016): The spreading of misinformation online. Proceedings of the National Academy of Sciences, 113(3), S. 554-559.

Festinger, L. (1954): A theory of social comparison processes. Human Relations, 7, S. 117-140.

Fredrickson, G.M. (2002): Racism – A short history. Princeton, NJ: Princeton University Press.

Gehrsitz, M. and Ungerer, M. (2017): Jobs, crime, and votes – A short-run evaluation of the refugee crisis in Germany. Bonn: IZA – Institute of Labor Economics; IZA Discussion Paper No. 19414.

Kauff, M.; Asbrock, F.; Thörner, S.; Wagner, U. (2013): Side effects of multiculturalism – The interaction effect of multicultural ideology and authoritarianism on prejudice and diversity beliefs. Personality and Social Psychology Bulletin. 39, S. 305-320.

Lanphen, J. (2011): Kooperatives Lernen und Integrationsförderung – Eine theoriegeleitete Intervention in ethnisch heterogenen Schulklassen. Münster: Waxmann.

Lemmer, G. and Wagner, U. (2015): Can we reduce prejudice outside the lab? A meta-analysis of direct and indirect contact interventions. European Journal of Social Psychology, 45, S. 152-168.

Lemmer, G. and Wagner, U. (in prep): The benefits of walking in the shoes of an outgroup – A meta-analysis of information interventions to reduce ethnic prejudice.

Moghaddam, F. (2004): Cultural preconditions for potential terrorist groups – Terrorism and societal change. In: Moghaddam, F. and Marsella, A. (eds.): Understanding terrorism. Washington DC: American Psychological Association, S. 103-117.

Paterson, J.; Brown, R.; Walters, M.; Carrasco, D. (in prep): Feeling others’ pain – Indirect effects of hate crime in two victimized communities.

Pettigrew, T. and Tropp, L. (2006): A meta-analytic test of intergroup contact theory. Journal of Personality and Social Psychology, 90, S. 751-783.

Pettigrew, T. and Tropp, L. (2008): How does intergroup contact reduce prejudice? Meta-analytic tests of three mediators. European Journal of Social Psychology, 38, S. 922-934.

Sherif, M. and Sherif, C.W. (1969): Social psychology. New York: Harper & Row.

Stephan, W.G. and Renfro, C.L. (2002): The role of threat in intergroup relations. In: Mackie, D.M. and Smith, E.R. (eds.): From prejudice to intergroup relations. New York: Psychology Press, S. 191-207.

Tajfel, H. (1978): Differentiation between social groups. London: Academic Press.

Wagner, U.; Becker, J.; Christ, O.; Pettigrew, T.; Schmidt, P. (2012): A longitudinal test of the relation between German nationalism, patriotism and outgroup derogation. European Sociological Review, 28, S. 319-332.

Wagner, U. und Butenschön, C. (2014): Zur Entwicklung des Gegenübers – Sozialpsychologische Ursachen von Intergruppenkonflikten. W&F 1-2014, S. 6-9.

Wagner, U. and Christ, O. (2007): Intergroup aggression and emotions: A framework and first data. In: Gollwitzer, M. and Steffen, G. (eds.): Emotions and aggressive behavior. Göttingen: Hogrefe & Huber, S. 133-148.

Ulrich Wagner ist Professor für Sozialpsychologie am Fachbereich Psychologie und am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg.
Patrick F. Kotzur ist Doktorand in der Arbeitseinheit Sozialpsychologie am Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/2 Flucht und Konflikt, Seite 19–21