W&F 2004/1

Die Folgen des Kosovo-Krieges

von Norbert Mappes-Niediek

Die mehr als vier Jahre Abstand haben an den Debatten zum Kosovo-Krieg nichts verändert; die Argumente der Gegner und der Befürworter der NATO-Intervention sind allenfalls noch starrer geworden. Nur einige wenige Nebel von damals haben sich ein wenig gelichtet. Vom 1999 viel diskutierten »Hufeisen-Plan«, den der ungeschickte deutsche Verteidigungsminister Scharping der Öffentlichkeit präsentiert hatte, ist heute nicht mehr die Rede. Selbst hohe Militärs geben hinter vorgehaltener Hand zu, dass dieser angebliche Geheimplan zur Massenvertreibung der Albaner bloß ein Instrument der Desinformation war. Die Gegner der Intervention dagegen nehmen von ihren fixen Ideen von damals nicht so leicht Abschied. Zur Gewissheit hat sich verfestigt, der Westen habe damals ganz Serbien besetzen wollen und seine Absicht in einen »Annex B« des in Rambouillet verhandelten Autonomieplanes für das Kosovo versteckt. Wem es gelingt, in einem nebelfreien Moment einen scharfen Blick zurück auf die Ereignisse des Jahres 1999 und ihre Folgen zu werfen, der muss heute zu einer zweifach gespaltenen Bilanz kommen. Erstens: Die Folgen für die Weltpolitik sind, soweit sie sich überhaupt schon erkennen lassen, negativ gewesen; die Folgen für die Region dagegen waren überraschend positiv. Zweitens: Auch für die Region war der Krieg ein gefährliches Abenteuer, das vergleichsweise glücklich ausgegangen ist.

Mit dem 78-tägigen Bombardement Jugoslawiens von März bis Juni 1999 haben alle beteiligten NATO-Staaten sowohl die UN-Charta als den NATO-Vertrag, der Out-of-area-Einsätze an eine entsprechende Resolution des Weltsicherheitsrates bindet, und die Deutschen darüber hinaus ihr Grundgesetz gebrochen. Dass der Buchstabe der UN-Charta für Weltmächte nicht das alleinige Maß ihres Handelns ist, ist in der Charta mit ihrem Veto-Recht schon angelegt. Gegen den Bruch des NATO-Vertrages erhob sich kein Kläger. Wie relativ seine Bestimmungen sind, ist allen Mitgliedern dieses machtpolitisch verfassten Klubs seit jeher bewusst. Am irritierendsten von den drei Rechts- und Vertragsbrüchen ist der Umgang der Deutschen mit ihrem Grundgesetz. Einmal ernsthaft auf die Probe gestellt, wurde es zur Makulatur. Ausgerechnet in einem Land, das sich mehr als jedes andere auf seine Verfassung beruft, wo die Politiker sich oft hinter den Verfassungsrichtern verstecken und dessen Bürger unter Politik gern den Rechtsvollzug eines unwandelbaren Gesetzes verstehen, ist Außenpolitik offenbar dem rechtlichen Zugriff entzogen.

Die Kosovo-Intervention, durch keine Resolution des Sicherheitsrats gedeckt, hat den Vereinten Nationen weiter Legitimität entzogen. Dieser Prozess der Delegitimierung hat nicht erst im Kosovo begonnen. Die Rolle der strategischen Agentur im ex-jugoslawischen Krisenmanagement hatte die UNO schon im Winter 1994/95 politisch an die informelle Balkan-Kontaktgruppe und militärisch an die USA abgeben müssen. Dem Sicherheitsrat kam von da an nur noch zu, der Politik der Groß- und Regionalmächte einen möglichst weiten Rahmen zu stecken. Die Intervention wegen des Kosovo war dann der Präzedenzfall für den Angriff auf den Irak durch die USA und Großbritannien. Wie im Kosovo kam die Weltorganisation auch im Irak erst nachträglich wieder ins Spiel. Im Kosovo durfte sie sich noch unauffällig unter die Akteure mischen und so tun, als wenn sie von Anfang an dabei gewesen wäre. In den Irak kam sie schon am Nasenring. Welche Spätfolgen daneben der Bruch über die Kosovo-Frage für die Stimmung der Welt- und Atommacht Russland hat, lässt sich noch nicht richtig absehen. Die Nichteinmischung der Amerikaner in der Tschetschenienfrage ist kein beruhigendes Signal. Offenbar entstehen schon wieder – wenn auch geographisch stark veränderte – Einflusszonen, die, wie im »Kalten Krieg«, der UNO keinen Platz lassen.

Nach offiziellen jugoslawischen Angaben, die noch vom Milosevic-Regime erhoben wurden, sind bei dem Bombardement zwischen dem 24. März und dem 9. Juni 1999 3.300 Menschen getötet worden, darunter 1.500 Zivilisten. Einen Streit gab es nur um die Zahl der getöteten Soldaten: Belgrad verringerte die offizielle Zahl später wieder, offenbar aus Sorge um die Moral der Truppe; die NATO dagegen schätzte die Verluste der jugoslawischen Armee, vielleicht ebenfalls aus Propaganda-Gründen, auf 5.000 Mann. Die Massenvertreibungen der Kosovo-Albaner – zwischen 800.000 und 900.000 Menschen wurden für eine Zeit außer Landes getrieben – und die Repression gegen die Daheimgebliebenen dürften an die 10.000 Menschenleben gekostet haben. Den wirtschaftlichen Schaden des Krieges hat die damals oppositionelle Belgrader Expertengruppe G-17 in einem Gutachten gleich nach dem Ende des Bombardements auf 29,6 Milliarden Dollar geschätzt. Allein 23,2 Milliarden davon entfallen allerdings auf den schwierigen Posten »entgangenes Bruttoinlandsprodukt«. Gegenüber dem Vorjahr sank die Wirtschaftstätigkeit in Jugoslawien im Jahr 1999 um mehr als 40 Prozent, die Industrieproduktion sogar um 44 Prozent.

Was wäre passiert, wenn die NATO nicht interveniert hätte? Viele halten diese Frage zu Unrecht für unzulässig oder für zynisch. In Wirklichkeit kommt man an ihr nicht vorbei, wenn man die Intervention historisch einordnen und für zukünftige Entscheidungen auswerten will. Die Annahme, der bewaffnete Konflikt zwischen der albanischen »Kosovo-Befreiungsarmee« UCK und anderen Formationen der albanischen Minderheit auf der einen und der serbischen Polizei und der jugoslawischen Armee auf der anderen Seite sei schon befriedet und wäre ohne die NATO-Intervention bald zu Ende gewesen, ist jedenfalls verfehlt. Die relative Ruhe des Winters 1998/99 hatte das Kosovo weniger der Stationierung von OSZE-Beobachtern zu verdanken als der üblichen Winterwaffenruhe, die auch in Bosnien in jedem Jahr mehr oder weniger eingehalten wurde. Auch ohne das Massaker von Racak im Januar 1999 war klar, dass der bewaffnete Konflikt mit der Schneeschmelze weitergehen würde. Dem Kosovo drohte ein bosnisches Szenario: Ein jahrelanger, zäher Krieg auf kleiner Flamme, mit relativ starren Fronten, begleitet von ständigen Verhandlungen, Autonomie- und Friedensplänen, die immer wieder halb vereinbart und in letzter Minute dann doch abgelehnt worden wären, unter ohnmächtiger Aufsicht von UN- oder OSZE-Beobachtern, mit indirekter Versorgung der kämpfenden Armeen durch den UNHCR und humanitäre Agenturen, bei mal offener und dramatischer, mal schleichender Massenflucht der Bevölkerung. Die Zahl der Toten und dauerhaft Vertriebenen hätte bei diesem Szenario am Ende sicher weit höher gelegen.

Schon im Winter 1998/99 war es vorwiegend die UCK, die den Waffenstillstand immer wieder brach und überzogene Gegenreaktionen von Polizei und Armee gezielt provozierte. Es entwickelte sich ein festes Muster, das aus vielen Guerillakriegen bekannt ist: Um die Partisanen in den Wäldern von ihrem Nachschub abzuschneiden, mussten serbische Armee und Polizei die Zivilbevölkerung in den Dörfern terrorisieren und mit brutalen »Strafmaßnahmen« einschüchtern. Das hätte sich ohne die NATO-Intervention sicher so fortgesetzt. Die UCK und mit ihr die gesamte albanische Volksgruppe verfolgte das Ziel, den Konflikt zu internationalisieren und die Weltgemeinschaft zur Intervention zu drängen. Für eine Einigung am Verhandlungstisch stand es extrem schlecht: Milosevic war innenpolitisch in Bedrängnis und hätte sich mit einem Referendum gegen ausländische Einmischung im Kosovo auch noch politisch eingemauert; die albanische Seite stand zu dicht vor dem Ziel der Unabhängigkeit, um sich jetzt noch mit einer halben Lösung abfinden zu lassen. Dass die Albaner, die UCK eingeschlossen, in Rambouillet trotzdem ein Autonomiestatut unterschrieben und auf das Ziel der Unabhängigkeit de facto verzichteten, lag am gewaltigen Einsatz der damaligen US-Außenministerin Madeleine Albright und an der Unerfahrenheit der albanischen Unterhändler.

Aus diesem Szenario haben Kritiker den Schluss gezogen, dass der Westen die falsche Seite bombardiert hätte: Die größere Schuld hätte ja auf der Seite der Kosovo-Albaner gelegen. Diesem Schluss liegt ein dreifaches Missverständnis zu Grunde. Erstens hätte der Westen, selbst wenn er gewollt hätte, die andere, albanische Seite gar nicht bombardieren können. Guerillas lassen sich aus der Luft nicht bekämpfen. Zweitens war es nicht der Sinn des Bombardements, Jugoslawien für seine »Schuld« zu »bestrafen«. Die Regierung in Belgrad war vielmehr deshalb das Hauptangriffsziel der Intervention, weil sie den Schlüssel für die Lösung des Konflikts verwahrt hielt. Kriegsziel war es, Belgrads Souveränität über das Kosovo aufzuheben oder zu neutralisieren. Dieses zweite Missverständnis wurde vom Westen auch noch genährt, wenn in der Propaganda die serbischen Gräuel übertrieben dargestellt und der Charakter der UCK geschönt wurde, so dass den Bürgern im Westen der Krieg als moralische Strafaktion erscheinen musste. Drittens lebte die albanische Minderheit tatsächlich unter einer unerträglichen Unterdrückung, die früher oder später immer wieder zu bewaffneten Konflikten geführt hätte.

Das Ziel, Belgrad die Herrschaft über das Kosovo abzunehmen, wurde tatsächlich erreicht. Alle albanischen Flüchtlinge kehrten aus den Nachbarländern zurück. Die Stationierung der internationalen Friedenstruppe Kfor macht Kriege zwischen Albanern und Serben auch in der näheren Zukunft unwahrscheinlich.

Gegen diesen Erfolg steht ein Misserfolg: Die serbische Bevölkerungsgruppe wurde entweder in die Flucht getrieben, oder sie wanderte ab, oder sie lebt heute in »ethnisch reinen« Enklaven, zuweilen unter starken Sicherheitsproblemen. Diesen Prozess kann man aber nicht umstandslos als »ethnische Säuberung« werten und gegen die Massenvertreibung der Albaner im Frühjahr 1999 rechnen. Ein nicht geringer Teil der serbischen Bevölkerung in vorwiegend albanischer Umgebung hat das Kosovo bereits mit dem Abzug der Armee verlassen. Die Spannungen zwischen Albanern und Serben währten zum Zeitpunkt der Intervention schon fast 20 Jahre. In dieser Zeit hatten die meisten serbischen Familien Söhne zur Polizei oder zur Armee gegeben. Nach den Massenentlassungen der Albaner aus dem öffentlichen Dienst 1990 waren vor allem Kosovo-Serben in die freien Positionen gerückt; die serbische Minderheit hatte ihre Interessen mit denen des Staates eng verbunden. Von den verbliebenen Serben wurden von Mitte 1999 bis Mitte 2000 viele durch gezielte Morde in der Nachbarschaft in die Flucht getrieben. Die Täter waren meistens junge »Nachkriegshelden«, die während des kurzen Guerilla-Krieges nicht zum Zuge gekommen waren und sich nachher an wehrlosen alten Leuten schadlos hielten. Die albanische Öffentlichkeit war zum Mitleid mit Serben, die zu Opfern wurden, noch nicht fähig und weigerte sich, der Polizei bei der Aufdeckung dieser Verbrechen zu helfen. Eine albanische Staatsautorität, die diese De-facto-Vertreibung hätte orchestrieren können, gab es damals nicht. Die UNO-Zivilverwaltung stand dem Phänomen hilflos gegenüber. So traurig der Exodus der Serben aus dem Kosovo auch ist: Eine gezielte Massenvertreibung durch »die« Albaner war er nicht. Die Versuche, die geflüchteten Serben wieder anzusiedeln, scheitern fast alle. Dabei lässt sich erkennen, dass die Gründe für die Abwanderung vielschichtig waren: Viele Serben haben berechtigte Angst vor Ausschreitungen, aber viele wollen auch nicht in einem albanisch dominierten Gemeinwesen leben.

Zu den Passiva der Bilanz wird auch gerechnet, dass die Intervention für das Kosovo-Problem keine dauerhafte Lösung gestiftet hat. Noch immer ist der Status des Gebiets ungeklärt, und viele offene Rechts- und Eigentumsfragen behindern den Aufbau. Streng genommen darf man dieses Problem der Intervention aber nicht anlasten. Wenn über eine Militäraktion Völkerrecht gesetzt würde, wäre die Rolle der Vereinten Nationen endgültig marginal. Dass es keine Lösung gibt, reflektiert vielmehr die Paralyse der Weltorganisation, die auch nach überstandenen Krieg nicht in der Lage ist, die verbliebenen, entschärften Probleme zu lösen. Obwohl sich die Haltung Russlands durch die Intervention nicht verhärtet hat, hat der Sicherheitsrat für das Gebiet keinen Fahrplan. Alle Orientierungen, die der UNO-Generalsekretär und sein Vertreter im Kosovo ausgeben, entspringen nur der Verlegenheit.

Während des Bombardements war die Befürchtung aufgekommen, die Position von Slobodan Milosevic in Belgrad würde selbst bei einer Niederlage Jugoslawiens noch stärker werden. Tatsächlich richtete sich der Zorn der Bevölkerung im Frühjahr 1999 gegen die Mächte, die die Bomben warfen, und nicht gegen das eigene Regime. Im Herbst 1999 gelang es dem Regime sogar, eine gewisse Aufbaustimmung zu verbreiten. Nach der Winterpause 1999/2000 war es damit aber schon wieder vorbei. Vor allem in bürgerlichen, nationalserbischen Kreisen und in der serbisch-orthodoxen Kirche wuchs die Überzeugung, dass Serbien mit Milosevic nicht mehr aus der Sackgasse kommen würde. Den ganzen Sommer über gelang es der Opposition, besonders dem späteren Premier Zoran Djindjic, immer besser, die zerstrittenen Oppositionsparteien zu einen, wichtige gesellschaftliche Kräfte auf ihre Seite zu ziehen und Skeptiker innerhalb des Regimes zur Neutralität zu bewegen. In der Rückschau erschien der Kosovo-Krieg vielen Serben, die die Haltung ihrer Regierung unterstützt hatten, als das letzte Gefecht des Slobodan Milosevic, sein Rücktritt als die überfällige Konsequenz der Niederlage. Den Streit um das Kosovo hatte Milosevic sich als Pfand aufgehoben, das er bei Bedarf gegen die Unterstützung seines mürbe gewordenen Volkes eintauschen konnte. Als das Pfand verloren war, hatte er nichts mehr zu bieten. Heute sind die zerstrittenen Regierungsparteien in Belgrad zwar gegenüber dem Kosovo völlig manövrierunfähig – jeder, der sich von der starren Position der Regierung wegebewegte, würde von allen anderen gesteinigt. Aber hinter vorgehaltener Hand geben alle zu, dass das demokratische Serbien mit den Problemen des Kosovo hoffnungslos überfordert wäre und noch schlechter funktionieren würde als sowieso schon. Der Regimewechsel in Belgrad hat die permanente Kriegsgefahr auf dem Balkan deutlich entschärft. Wenn der Regimewechsel eine Folge der NATO-Intervention war, gehört die Beruhigung mit auf die »schwarze Seite« der Bilanz.

In der Rückschau auf den Kosovo-Konflikt sehen die meisten Serben sich auch heute noch im Recht. Nur ein radikaler Themenwechsel von den »patriotischen« auf soziale Fragen macht es möglich, dass wenige pazifistische und etliche nationalistische Parteien heute in Belgrad gemeinsam regieren. Das Gefühl nationaler Scham und Schande wegen der in serbischem Namen verübten Kriegsverbrechen ist noch immer auf kleine Gruppen beschränkt und steht hinter dem verbreiteten Opfer-Mythos weit zurück. Das Haager Kriegsverbrechertribunal wird in Serbien ebenso als prinzipiell antiserbisch empfunden wie in Kroatien als antikroatisch. Das Ressentiment gegen den Westen, das in Serbiens öffentlicher Meinung seit jeher einen festen Platz hat, ist durch den Kosovo-Krieg natürlich nicht kleiner, aber auch nicht größer geworden. Das Gefühl, man habe mit einem gerechten Anspruch kapituliert und müsse sich nun beugen und unterordnen, lässt sich leichter ertragen, wenn es mit einer mentalen Redimensionierung der eigenen Nation zusammenfällt: Mag der Anspruch auch berechtigt gewesen sein – mit dem untauglichen Versuch, der ganzen Welt zu widerstehen und selbst die Warnungen des verbündeten Russland zu überhören, hatte Milosevic sich auf Kosten seines Volkes übernommen. Der national orientierte Ex-Präsident Kostunica hatte zu Beginn seiner Amtszeit im Winter 2000/01 demonstrative Nähe zu den Europäern gezeigt und den Amerikanern deutlich gezürnt. Er gab die Haltung bald auf, weil sie lächerlich wirkte. Der Beitritt zur Europäischen Union gilt vielen Serben als illusionär, aber offene Gegnerschaft gegen die Perspektive gibt es nicht. In den letzten Monaten hat die Regierung Zivkovic Anstalten gemacht, sich in den europäisch-amerikanischen Konfliktpunkten – Irak, Internationaler Gerichtshof – mehr der US-Position zuzuwenden. Die öffentliche Meinung in Belgrad lässt es geschehen.

Auch die Befürchtungen, die Intervention würde das prekäre Gleichgewicht der regionalen Mächte durcheinander bringen, haben sich nicht bewahrheitet. Rumänien und Bulgarien, die beide skeptisch gegen die Intervention waren, überboten sich schon im Irak-Krieg wieder gegenseitig in ihrer Loyalität zu den USA. Bei der mazedonischen Bevölkerungsmehrheit war nach dem Kosovo-Krieg die Abneigung gegen die USA und die NATO stark; der Westen wurde als Verbündeter der Albaner wahrgenommen. Die Abneigung hat aber letztlich nicht verhindert, dass die USA eine wichtige Rolle bei der Vermittlung im mazedonischen Konflikt des Jahres 2001 spielen konnten und die NATO sogar Truppen stationieren durfte. Am problematischsten war die Wirkung der Intervention auf extremistische Albaner. Sie fühlten sich stark, übernahmen im Schlepptau der ahnungslosen NATO-Truppen die Macht in den Gemeinden im Kosovo und ließen sich erst mit Mühe und nach Monaten wieder aus den Rathäusern vertreiben. Etliche Extremisten begannen sogleich nach der Befreiung des Kosovo Konflikte in den Albanergemeinden Südserbiens und in Mazedonien anzuzetteln. Die Besatzungsmächte im Kosovo, besonders die USA, zögerten lange, bis sie gegen dieses Treiben vorgingen. Zum einen fürchteten sie bei Racheanschlägen der Extremisten die Solidarität der kosovo-albanischen Bevölkerung, zum anderen wurden sie auch in dieser Frage wieder Opfer ihrer eigenen Propaganda, nach der die Ziele der albanischen Kämpfer sich bloß auf die politische Lage im Kosovo richteten. Die angebliche »großalbanische« Option, die in der serbischen Kriegspropaganda eine große Rolle gespielt hatte, blieb aber Schimäre. Großalbanisch orientierte Parteien erzielten bei den Kosovo-Wahlen Ergebnisse im Promille-Bereich. Die großalbanische Fraktion einer ominösen »Albanischen Volksarmee« (ANA oder AKSh abgekürzt) in Mazedonien versucht seit zwei Jahren vergeblich, Kämpfer für ihre Sache zu mobilisieren.

Wenn die Folgen der Kosovo-Intervention für die Welt negativ, für die Region aber unter dem Strich positiv waren, so deutet das noch einmal auf den längst diagnostizierten Reformbedarf der Vereinten Nationen hin. Die Souveränität Jugoslawiens war für die Weltöffentlichkeit ein deutlich geringerer Wert als die Vermeidung eines jahrelangen Bürgerkriegs. Nur nach den Maßstäben von Regierungen, die ebenfalls Bürgerkriege gegen Minderheiten führen wollen, und nach den Regeln der UNO-Charta ist es anders herum.

Spricht das alles für die Wiederholbarkeit solcher Interventionen? Wenn der Erfolg den Befürwortern auch nachträglich Recht geben mag, so tut er es doch auf wenig überzeugende Weise. Die Strategen der NATO hatten den Verlauf des Krieges irrig kalkuliert. Man glaubte, nach falsch ausgewerteten Erfahrungen aus Bosnien, Belgrad werde schon nach wenigen nächtlichen Luftangriffen nachgeben. Stattdessen reagierte Belgrad mit einer massenhaften Vertreibung der albanischen Bevölkerung. Mitte April gerieten etliche Regierungen von NATO-Staaten zu Hause unter Druck, weil ihre Luftstreitkräfte mangels Erfolg zunehmend zivile Ziele zu bombardieren begannen. Um die zunehmend skeptische Öffentlichkeit bei der Stange zu halten, wurden die zivilen Opfer verharmlost und die Gräuel der serbischen Kriegspartei noch übertrieben. Warum Belgrad schließlich doch kapitulierte, ist bis heute ungeklärt. Eine plausible Annahme geht davon aus, dass die Drohung mit Bodentruppen der entscheidende Faktor war.

Versetzt man sich heute in die Entscheidungssituation vom März 1999 zurück, so lässt sich der Beschluss zum Eingreifen heute besser als damals rechtfertigen. Dass es aber überhaupt zu einer solchen Situation kam, ist nicht allein die Schuld des Slobodan Milosevic, sondern auch Folge einer verfehlten Krisenlösung. Es lohnt, sich noch ein wenig weiter als bis ins Frühjahr 1999 zurückzuversetzen. Der erste verhängnisvolle Fehler geht zurück in die frühen neunziger Jahre, als die Außenpolitik der EU noch ganz und gar in ihrer bürokratischen Phase steckte, die Union sich aber irrtümlich schon für fähig hielt, die Probleme des auseinanderfallenden Jugoslawien zu lösen. Jugoslawien, so diagnostizierte damals eine Juristenkommission unter dem französischen Ex-Justizminister Robert Badinter, zerfiel gerade in seine sechs Republiken; sie seien die legitimen Nachfolger des föderativen Staates. Das »Badinter-Gutachten« führte dazu, dass das heterogene Bosnien kurz darauf nach einem EU-typischen, bürokratischen Automatismus als selbstständiger Staat anerkannt wurde, das homogenere Kosovo, weil es keine Republik war, aber nicht. Die letzte Chance auf eine friedliche Lösung wurde Ende 1995 beim Abkommen von Dayton vertan, das den bosnischen Krieg beendete. Damals beschlossen die Unterzeichnerstaaten, den so genannten äußeren Wall der Sanktionen gegen Jugoslawien, seinen Ausschluss aus den internationalen Finanzinstitutionen, trotz des Friedens in Bosnien nicht aufzuheben. Eine der Bedingungen für die Aufhebung dieser Sanktionen war ein Autonomiestatut für das Kosovo. Die US-Unterhändler von Dayton haben gegen spätere Kritik zu Recht eingewandt, es sei unmöglich gewesen, das Problem Kosovo in Dayton gleich mit zu lösen; man hätte sich auf Bosnien konzentrieren müssen. Der eigentliche Fehler war aber ein anderer: Der Westen hätte die Sanktionen gegen Jugoslawien nach Dayton ersatzlos aufheben, das Regime Milosevic rehabilitieren und derselben Konditionalität unterstellen müssen wie das Tudjman-Regime in Kroatien. Solange Serbien unter Sanktionen stand, konnte Belgrad, selbst wenn es das gewollt hätte, die albanische Minderheit nicht integrieren. Von den Albanern aber verlangte der Westen, sich einem Regime zu fügen, das derselbe Westen als Paria behandelte. Dass diese Lage irgendwann zur Explosion führen würde, war schon damals klar. Schon im Sommer 1996, kaum ein halbes Jahr später, trat die »Befreiungsarmee« UCK auf den Plan. Mag uns die Erfahrung mit dem Kosovo auch an einigen friedenspolitischen Überzeugungen irre werden lassen, eine wenigstens bestätigt die Erfahrung glanzvoll: Der Krieg im Kosovo war nicht die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln, sondern wieder einmal die Folge ihres Versagens.

Norbert Mappes-Niediek arbeitet seit Beginn der Kriege im früheren Jugoslawien als freier Südosteuropa-Korrespondent für deutsche Zeitungen und Rundfunkanstalten

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2004/1 Kriegsbilanzen, Seite