Die Grenzen des Westens
von Jürgen Scheffran
Seit der Gründung vor 35 Jahren begleitet »Wissenschaft und Frieden« kritisch die Beziehungen ziviler und militärischer Forschung und Technik, ein Schwerpunkt dieses Hefts. Die Weltpolitik war 1983 geprägt durch die nukleare »Nach«rüstung. Damals konnte mit viel Glück ein Atomkrieg verhindert werden. Seitdem hat sich die Welt verändert. Der Ost-West-Konflikt endete 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer, als der Ostblock wie in einer Kettenreaktion verschwand. Die Sowjetunion löste sich 1991 auf.
Aus dem Chaos ging der Westen als Sieger hervor, allen voran die Hegemonialmacht USA. Die Chance, eine friedliche, atomwaffenfreie und gerechte Weltordnung zu errichten, wurde vertan. Der herrschende Machtblock setzte auf NATO-Expansion, Widerstand gegen Abrüstung, Militärinterventionen und die neoliberale Globalisierung. Während das westliche Modell bis heute dominant und attraktiv erscheint, realisiert sich das Versprechen von Wohlstand, Freiheit und Demokratie für die meisten Menschen nicht.
Hat der Westen seine Grenzen erreicht? Krisenerscheinungen sind unübersehbar und global vernetzt: Hunger und Unterentwicklung, Gefälle zwischen Arm und Reich, Klimawandel und Umweltzerstörung, Flucht und Terrorismus, Kriege und Rüstungsspiralen. Der Arabische Frühling hat gezeigt, dass Kaskadeneffekte Regionen destabilisieren und auch Europa treffen.
Ursachen und Folgen wurden in dieser Zeitschrift vielfach analysiert, so in einem Editorial des Autors vor 20 Jahren: „Zunehmend wird offenkundig, daß nach einem Jahrhunderte währenden Siegeszug die Grenzen des wachstumsorientierten Entwicklungsmodells erreicht sein könnten. Dessen Prinzip, die permanente Grenzüberschreitung, läßt sich nicht beliebig fortsetzen. Dennoch wird nun mit der Globalisierung und Liberalisierung der Weltökonomie der Versuch unternommen, die weltumspannenden Ströme von Gütern, Kapital, Finanzen, Technologie und Kommunikation weiter zu beschleunigen, weil nur durch mehr Wachstum das Wirtschaftskarussell sich weiter dreht.“ (W&F 1-1998)
Und 2003 wurden die Folgen für Krieg und Frieden beschrieben: „Es geht den USA um die langfristige Absicherung ihrer Hegemonie, um die Schaffung eines von ihnen dominierten Weltmarkts und um die Privatisierung aller gewinnträchtigen Bereiche. Wer dagegen die Globalisierungsdynamik und damit verbundene Kriege als Kampf der Demokratien um mehr Demokratie begreift, übersieht die vorherrschende ökonomische Dimension und die Tatsache, dass im Rahmen der Globalisierung sich immer mehr Reichtum in den Händen weniger privater Akteure konzentriert, die durch keinerlei demokratische Strukturen kontrolliert werden.“ Die Konsequenz: „An der gesellschaftlichen Basis wächst damit ein Potential der Verarmten und Verzweifelten, der Missachteten und Empörten heran, das einen Nährboden für jede Form der Radikalität bietet. Durch Vernetzung kann die Unzufriedenheit auf der lokalen Ebene in nationale, ja globale Netzwerke der Gewalt einbezogen werden.“ (Editorial W&F 3-2003)
Die Mobilisierung dieser Unzufriedenheit erleben wir durch Trump, Putin, Erdogan und andere. Könnte es dem Westen ergehen wie 1989 dem Osten? Für Bundespräsident Steinmeier ist die Welt aus den Fugen geraten. Heinrich August Winkler, der die »Geschichte des Westens« schrieb, fragt in seinem jüngsten Werk: „Zerbricht der Westen?“ Und der frühere Außenminister Joschka Fischer befürchtet in seinem Buch den „Abstieg des Westens“. Dabei wird die Mitverantwortung an der Krise kaum thematisiert. NATO-Expansion, Kosovo-Intervention, Hochtechnologiekrieg, Raketenabwehr und Weltraumrüstung haben zu dem Zerwürfnis mit dem früheren Partner Russland maßgeblich beigetragen und den neuen Kalten Krieg eingeleitet, schon vor dem Machtantritt von Wladimir Putin im Jahr 2000.
Zunehmend werden Widersprüche erkennbar, z.B. dass der ökonomische den politischen Liberalismus untergräbt. In den USA wird das durch Trumps Wild-West-Politik ausgelöste »Chaos in der liberalen Ordnung« beklagt, das die westliche Allianz spalte (wie beim Iran-Abkommen) und den Einfluss Chinas vergrößere. Es dürfte kaum helfen, als Reaktion den Neoliberalismus auszuweiten, was Emmanuel Macron in Frankreich gegen massive Widerstände versucht. Das Modell »Germany First« (mit Niedriglöhnen, Hartz-IV und Schwarzer Null) zu europäisieren, dürfte nicht zielführender sein als Trumps Handelskrieg und »America First«. Dies wurde deutlich in der Wirtschaftskrise 2008, als Staaten enorme Summen zur Rettung von Finanzinstitutionen ausgaben. Heute dienen staatliche Mittel dazu, Konflikte einzudämmen und von den Zentren fern zu halten.
Eine kritische Betrachtung darf nicht den Blick für Alternativen verstellen, von der friedlichen Konfliktbearbeitung über Rüstungskontrolle und Abrüstung bis zum Klimaschutz. Auch hierzu hat »Wissenschaft und Frieden« vieles beigetragen. Eine Idee wäre die Schaffung eines Friedensministeriums, das anlässlich der Verleihung des Göttinger Friedenspreises vorgeschlagen wurde.
Ihr Jürgen Scheffran