Ägypten
Die Herausforderungen der Revolution
von Ivesa Lübben
Die ägyptische Revolution war eine Revolution des Volkes: Sie war nicht geplant, sie hatte keine Führung, es gab keine Avantgarde mit einem klaren Programm und einer revolutionären Strategie. Die Autorin untersucht, warum das, was zunächst die Stärke der Revolution war, in der post-revolutionären Phase immer mehr zu ihrer Schwäche wird.
Keine Revolution entsteht in einem Vakuum – so auch nicht die ägyptische. Ein Bündnis von Jugendorganisationen aus linken und liberalen Jugendbewegungen sowie der Jugend der Muslimbruderschaft1 hatte für den 25. Januar 2011, dem Tag der Polizei – einem offiziellen Feiertag mit staatlichem Festakt – zu einer Demonstration gegen Polizeiwillkür und Folter, für demokratische und soziale Reformen aufgerufen. Diese Demonstration war Teil einer geplanten Eskalationsstrategie auf dem Weg zu Aktionen des zivilen Ungehorsams, durch die die Wiederwahl Mubaraks bzw. eine mögliche Amtsübergabe an seinen Sohn Gamal bei den für den Herbst geplanten Präsidentschaftswahlen verhindert werden sollte.
Diese neue Jugendbewegung knüpfte an anderen Protest- und sozialen Bewegungen an, die sich in den vergangenen Jahren in Ägypten formiert hatten:
Die »Kfiaya« (Genug)-Bewegung, die schon 2005 gegen die Wiederwahl Mubaraks protestiert hatte,
die Richter, die 2007 für eine unabhängige Justiz als Voraussetzung fairer Wahlen auf die Straße gegangen waren,
die Arbeiterkämpfe, die seit den großen Streiks der Textilarbeiter in Mahalla-Kubra im Dezember 2006 nicht mehr abrissen.
„Wir hofften, dass ein paar Tausend dem Aufruf zur Demonstration am 25. Januar [2011] folgen würden, aber es waren Zehntausende oder Hunderttausende. Und während wir noch Parolen nach demokratischen Reformen riefen, forderten die Leute den Sturz des Regimes. Die Menschen waren uns voraus und taten in jedem Moment spontan das Richtige“, sagt einer der Organisatoren.2
Es war die Gemengelage aus Frustration über 30 Jahre Polizeistaat und soziale Ungerechtigkeit gepaart mit der Hoffnung, die der Sturz Ben Alis in Tunesien ausgelöst hatte, und der Euphorie über den unerwarteten Widerhall, auf den der Aufruf zu der Demonstration am 25. Januar gestoßen war, die eine eigene Dynamik der Bewegung generierte. Ohne vorherige Absprachen drängten die Demonstrationszüge auf den zentralen Tahrir-Platz im Herzen Kairos.3 Und spontan setzte sich die Parole durch: Hier harren wir aus, bis das Regime fällt.
Alle hielten sich an die gemeinsame Forderung nach Würde, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Niemand versuchte sich durch eigene Parolen auf Kosten der Bewegung zu profilieren. Christen und Muslime, Jugendbewegungen und unabhängige Arbeiterkomitees, Feministinnen und voll verschleierte Frauen, Kommunisten, Liberale und Muslimbrüder, Fußballclubs und Bauern, die mit Eselkarren in die Stadt kamen, um die Streikenden auf dem Tahrir mit Lebensmitteln zu versorgen. Es gab keine Gruppe, die erpressbar gewesen wäre oder durch eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche zu politischen Zugeständnissen hätte gezwungen werden können. Und es gab keine Organisationsstrukturen, mit deren Zerstörung das Regime der Bewegung das Rückgrat hätte brechen können.4
In der postrevolutionären Übergangsphase, die die Grundlagen des Neuaufbaus legen soll, wird genau dies jedoch zum Schwachpunkt der Revolution. Nach dem Fall Mubaraks gab es weder eine gemeinsame Plattform noch eine Roadmap für den Übergang, und es gab keine Repräsentanten der revolutionären Bewegung, die in Form eines revolutionären Übergangsrats das Land bis zu Neuwahlen hätte regieren können. Stattdessen füllte der Oberste Militärrat, geführt von Verteidigungsminister Tantawi, das Machtvakuum. Tantawi ist der einzige heute amtierende Minister aus der Mubarak-Ära.
Hatten in den Tagen der Revolution die gemeinsame Gegnerschaft zum Regime, die Suche nach einer gerechteren Sozialordnung und der Freiheitswille die Gruppen geeint, so sind die unterschiedlichen Utopien, die Prioritätensetzung während des Übergangs und die Frage nach der Identität inzwischen zur Zerreißprobe für die revolutionäre Bewegung geworden.
„Es gibt kein einiges Volk mehr. Wir sind zu Stämmen geworden, die nichts mehr voneinander wissen – ganz im Gegenteil zu dem, was Gott uns im Koran lehrt, wo es heißt: »Wir haben Euch als Völker und Stämme geschaffen, auf dass Ihr Euch kennenlernen mögt«,“ klagt Muhammed al-Baradei, der ehemalige Präsident der Internationalen Atomenergieorganisation, in einem Interview mit der ägyptischen Tageszeitung al-Shuruq.5 Al-Baradei war Anfang 2010 mit der Ankündigung nach Ägypten zurückgekehrt, er sei bereit, bei der nächsten Präsidentschaftswahl gegen Mubarak anzutreten. Zugleich rief er eine »Bewegung für Wandel« ins Leben, die eine Verfassungsänderung als Voraussetzung für demokratische Wahlen forderte.6
Al-Baradeis post-revolutionäre Erwartungen sind inzwischen gedämpft: Die Anhänger des alten Regimes würden immer noch auf ihren Posten sitzen. Viele einfache Menschen, die die Revolution getragen haben, hätten das Gefühl, nichts gewonnen zu haben – im Gegenteil, die wirtschaftliche Situation werde immer schlechter. Auf Grund der schlechten Sicherheitslage blieben Investitionen und Touristen aus. Der Staat würde seine Reserven zur Deckung der laufenden Ausgaben verbrauchen. Diejenigen, die die Revolution mit initiiert hätten, würden heute vor Militärgerichte gestellt, obwohl sie friedlich für die Verwirklichung der Forderungen der Revolution auf die Straße gingen, während Mubarak und seine Leute, die das Land 30 Jahre ausgeplündert hätten und für den Tod hunderter von Demonstranten verantwortlich seien, vor einem Zivilgericht stehen. Die Militärgerichtsverfahren seien ein gefährlicher Hinweis darauf, dass die Herrschaftslogik des alten Regimes weiter existiert. Die Forderung der Revolution nach Freiheit und Menschenwürde würde dadurch untergraben. Besonders bedenklich stimmt ihn die Ablehnung internationaler Wahlbeobachter durch den Obersten Militärrat mit der gleichen Begründung, mit der diese einst von Mubarak abgelehnt worden waren.7
Die ägyptische Revolution steht vor vielen Herausforderungen.
Das Sicherheitsdilemma
Eine der letzten Amtshandlungen des verhassten Innenministers Habib al-Adli, drei Tage nach Beginn der Demonstrationen, war die Anordnung, die Gefängnistore zu öffnen und die Polizei nach Hause zu schicken. Dies führte zu einer Massenflucht von tausenden von kriminellen Häftlingen, die bis heute in Banden durch das Land marodieren und vor allem in den ärmeren Gebieten Wohnungen ausrauben, Vieh stehlen oder Straßensperren errichten, um Autos zu kapern. Das Schaffen von Chaos in Abwesenheit der Sicherheitsorgane war eine bewusste Strategie des alten Regimes. Man hoffte darauf, dass die Menschen angesichts der unsicheren Sicherheitslage nach der Wiederherstellung des alten Sicherheitsapparates rufen würden. Viele Beobachter vermuten auch, dass untergetauchte Elemente der alten Sicherheitsorgane bis heute Spannungen schüren, z.B. zwischen Muslimen und Christen, um das Land zu destabilisieren.8
Um der Sicherheitslage Herr zu werden, versucht die neue, vom Militärrat ernannte Regierung, die Polizei zu restrukturieren. Dem steht jedoch das tiefe Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Polizei entgegen. Dieses Misstrauen wird noch dadurch gestärkt, dass viele Offiziere und Polizisten, denen Folter und Korruption vorgeworfen werden, nicht entlassen, sondern nur in andere Bezirke versetzt wurden. Es führt aber auch dazu, dass die Polizei handlungsunfähig ist und sich nicht traut, gegenüber Gesetzesbrechern, bei konfessionellen Auseinandersetzungen oder gegen illegale Baumaßnahmen einzuschreiten. So nutzten viele Menschen das Sicherheitsvakuum nach der Revolution, um massiv Ackerland illegal zu bebauen, was dazu führt, dass die Nahrungsmittelversorgung des Landes zunehmend gefährdet ist.9
Die soziale Frage
In den Monaten vor der Revolution haben immer wieder Protestcamps von Belegschaften vor dem Parlamentsgebäude auf die katastrophale Lage der ägyptischen Arbeiter und staatlichen Angestellten, die oft mit Löhnen weit unter dem Existenzminimum und ohne jede soziale Sicherheit auskommen müssen, aufmerksam gemacht. 2010 hatte das Oberste Verwaltungsgericht die Einführung von Mindestlöhnen von umgerechnet 150 Euro angeordnet – ein Beschluss, der nie umgesetzt wurde. Die Verbindung von demokratischen Rechten und sozialer Gerechtigkeit in Form von Mindestlöhnen war ein zentrales Element der Revolution, dessen Einlösung die Menschen aus den Armenvierteln und Arbeiterzentren, ohne deren Unterstützung die Revolution nicht hätte siegen können, erwarten. Bislang hat die Regierung unter Hinweis auf die Wirtschaftslage lediglich umgerechnet ca. 85 Euro in Aussicht gestellt. Aus Protest streiken wieder Arbeiter im ganzen Land, die sich in ihren Erwartungen betrogen fühlen. Aus Sicht der Regierung gefährden sie damit die wirtschaftliche Erholung. Die unabhängige Arbeiterbewegung hat dieses Argument zurückgewiesen. Man könne Mindestlöhne durch die parallele Festsetzung von Höchstlöhnen finanzieren und so die Lohndifferenzen zugunsten einer größeren Verteilungsgerechtigkeit verringern. Dies würde zugleich die wirtschaftliche Basis der Vertreter des alten Regimes vor allem im Staatsektor und öffentlichen Dienst schwächen. Bislang scheut sich das Übergangsregime, die Privilegien der ehemaligen Oberschichten infrage zu stellen und die politische Revolution durch soziale Reformen zu ergänzen. Stattdessen erließ der Militärrat das »Gesetz 34«, nach dem Streiks und Demonstrationen, die die öffentliche Ordnung gefährden und die Produktion behindern, als Kriminaldelikt zu behandeln sind. Seitdem wurden wiederholt Streikführer von Militärgerichten zu Gefängnisstrafen verurteilt.
Unmittelbar nach der Machtübernahme kündigte der Militärrat eine Verfassungsänderung an. Durch die Einsetzung einer unabhängigen Wahlkommission aus Richtern sollte die Voraussetzung für demokratische Wahlen gelegt werden. Die Amtszeit des Präsidenten sollte auf zwei Legislaturperioden beschränkt und eine Kandidatur für die Präsidentschaft für unabhängige Kandidaten erleichtert werden. Damit erfüllte der Militärrat wichtige Forderungen der vorrevolutionären Demokratiebewegung. Gleichzeitig wurde das in spätestens sechs Monaten neu zu wählende Parlament mit der Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung beauftragt. Am 19. März stimmten 77% der Ägypter dieser Änderung zu.
Die politische Polarisierung und der Kampf um die Identität
Ein Teil der revolutionären Jugendgruppen sowie die Linkskräfte lehnten die Verfassungsänderung ab. Sie forderten, dass eine neue Verfassung vor den Wahlen erarbeitet werden sollte, weil die alte Verfassung auch in ihrer modifizierten Form die Grundlagen des alten autoritären Regimes reproduzieren würde. Reformislamisten wie die Muslimbrüder oder die islamische Zentrumspartei hingegen unterstützten die Verfassungsänderung als eine Zwischenlösung auf dem Weg zu einer neuen Verfassung.
Das Referendum führte zu einer Polarisierung der politischen Lager, die bis heute die postrevolutionäre politische Landkarte bestimmt. Dabei überlagerte sich die Frage nach dem Fahrplan der Revolution mit der Diskussion um die Identität des zukünftigen ägyptischen Staates. Mit dem Referendum traten zwei politische Akteure auf die Bühne, die zwar nicht an der Revolution teilgenommen hatten, jetzt aber die revolutionären Lager in ein links-liberal-säkularistisches und ein islamisches Lager teilten: Die Kirche und die ultra-konservative Salafi-Bewegung.10 Die Salafis riefen ihre Anhänger zu »Ja« auf, vorgeblich um die islamische Scharia zu verteidigen – ein etwas abwegiges Argument, weil Artikel 2 der ägyptischen Verfassung, der die Prinzipien der Scharia zur Hauptquelle der Gesetzgebung erklärt, gar nicht zur Disposition stand. Andererseits riefen Kirchen und säkulare Kräfte mit genau dem gleichen Argument zum »Nein« auf. Sie forderten eine neue Verfassung, auf deren Grundlage dann Neuwahlen stattfinden sollten, ohne jedoch zu benennen, wie denn eine durch das Volk legitimierte Verfassungsversammlung zusammengesetzt werden sollte.
Entgegen dem Verfassungsreferendum, das die Erarbeitung einer neuen Verfassung an das nächste Parlament delegiert, reißen die Stimmen aus dem säkularen Lager nicht ab, die aus Angst vor einem Übergewicht islamistischer Kräfte im nächsten Parlament im Namen der revolutionären Legitimität die Festschreibung »überkonstitutioneller Prinzipien« vor den Wahlen fordern. Diese »überkonstitutionellen Prinzipien« sollen die Grundlagen eines modernen demokratischen Staates definieren. Islamistische Kräfte lehnen dieses unter Berufung auf die durch das Referendum geschaffene Volkslegitimität ab.
Trotz dieser Polarisierung hat sich in Form der »Demokratischen Allianz« um die bürgerliche Wafd-Partei und die gemäßigt-islamistische Muslimbruderschaft eine dritte Kraft gebildet, der sich inzwischen über 30 islamische, nasseristische und liberal-konservative neue und alte Parteien und Gruppierungen angeschlossen haben. Die Demokratische Allianz, die angekündigt hat, bei der nächsten Parlamentswahl eine gemeinsame Liste zu bilden, versucht eine Brücke zwischen den beiden Polen zu schlagen. Sie sieht sich einem demokratischen, bürgerlichen Staat auf der Basis der Grundlagen und Werte der Scharia – und nicht einer textualen Interpretation, wie es von den konservativen Salafis gefordert wird – verpflichtet. Die Demokratische Allianz lehnt zwar die Festschreibung dieser Prinzipien vor der Einberufung einer demokratisch legitimierten verfassungsgebenden Versammlung ab, hat sich aber verpflichtet, diese der Verfassung zugrunde zu legen, sollte sie eine Mehrheit bei den nächsten Wahlen erringen.
Das Militär
Nicht nur Kritiker, sondern auch Befürworter des Verfassungsreferendums wunderten sich, dass der Oberste Militärrat auf der Basis der Ergebnisse des Verfassungsreferendums am 31. März eine Verfassungserklärung verkündete, die eine Synthese aus alter Verfassung und den Modifikationen des Referendums darstellte. Warum hat er dann nicht die gesamte Verfassungserklärung zur Abstimmung gestellt? Einer der Gründe dürfte sein, dass sich der Oberste Militärrat in der Verfassungserklärung selber absolute legislative und exekutive Vollmachten eingeräumt hat.11
Auch wenn das Militär während der Revolution von Mubarak zu Hilfe gerufen worden war, weil die Polizei der Situation nicht mehr Herr werden konnte, war es das Militär, das ihn zum Abdanken zwang und in seiner ersten Erklärung an das Volk versprach, die Revolution zu schützen. „Volk und Armee Hand in Hand“, jubelten die Menschen »ihrer« Armee zu.
Aber diese anfängliche Euphorie wurde schnell gedämpft: Alte Seilschaften in den Ministerien wurden nicht angetastet, Prozesse gegen die Spitzen des Regimes immer wieder hinausgezögert und Provinzgouverneure und Lokalverwaltungen nur aufgrund des Drucks der Straße ausgewechselt.
Tatsächlich unterliegen Regierung und Militärrat dem Druck von vielen Seiten:
Da sind die USA, die Ägypten als regionalen Partner in der Nahostpolitik nicht verlieren wollen,
da sind die Saudis, die verhindern wollen, dass der revolutionäre Funke auf die arabische Halbinsel überspringt,
da sind die Anhänger des alten Regimes, die nach wie vor in den Spitzen vieler staatlicher Institutionen sitzen,
auf der anderen Seite ist die Bevölkerung, die verhindern will, dass die Revolution auf halben Wege stecken bleibt.
Statt gemeinsam mit den revolutionären Kräften nach Lösungen zu suchen, fällt das Militär immer stärker in die Repressionsmuster des alten Regimes zurück. Als Demonstranten immer wieder auf den Tahrir zogen und vom Militär die Einlösungen der Forderungen der Revolution forderten, wurden sie am 9. März von Militärpolizisten angegriffen. Viele von ihnen wurden verhaftet und gefoltert, junge Mädchen wurden Jungfernschaftstests unterzogen. Nach Angaben von ägyptischen Menschenrechtsorganisationen wurden in den ersten sechs Monaten über 10.000 Menschen vor Militärgerichte gestellt.12
Viele richtungsweisende Beschlüsse fällt der Militärrat über die Köpfe der Ägypter hinweg und ohne jede Transparenz. Das neue Parteiengesetz erschwert es jungen Menschen, Parteien zu gründen.13 Besonders viele Fragezeichen hat das vom Militärrat im August beschlossene Wahlgesetz hervorgerufen, das eine Kombination von Listenwahlrecht und Direktmandaten vorsieht. Die politischen Bewegungen hatten über alle Lager hinweg ein reines Listenwahlrecht gefordert. Sie befürchten, dass über Direktmandate gerade in den Provinzen Vertreter des alten Regimes über lokale Seilschaften wieder den Sprung ins Parlament schaffen können.
Schlussbetrachtung
Trotz dieser kritischen Betrachtung ist Pessimismus bei der Bewertung des Zwischenstandes der Revolution nicht angebracht. Jede Revolution muss mit Widersprüchen umgehen, ist Rückschlägen ausgesetzt und muss nach Neunanfängen suchen. Die ägyptische Gesellschaft hat diese Herausforderungen angenommen.
Obgleich es monatelange Verzögerung gab, wurde aufgrund des Drucks der Straße im August schließlich das Verfahren gegen Mubarak, seine Söhne und den ehemaligen Innenminister Habib al-Adly eröffnet, die wegen Korruption angeklagt sind und für die Schießbefehle gegen Demonstranten verantwortlich gemacht werden.
Die Ägypterinnen und Ägypter sind selbstbewusst geworden. Sie wissen, dass sie Rechte haben, wie man für diese Rechte kämpft und dass man sie verteidigen muss.
Unter der Machtpyramide des Mubarak-Regimes gab es unendlich viele kleine autoritär geführte Machtpyramiden, die heute infrage gestellt werden. Korrupte Gouverneure werden zum Rücktritt aufgefordert. Die ägyptische Gesellschaft hat einen ungeheuren Schub der Selbstorganisation erfahren. Überall bilden sich Interessenvertretungsorgane, seien es Volkskomitees in den Stadtteilen, unabhängige Gewerkschaften oder Jugendbündnisse. Studenten fordern die freie Wahl von Dekanen und Rektoren. Selbst die Geistlichen der islamischen Azhar-Universität fordern die Demokratisierung ihrer Institution. Anders als im Iran, wo die Geistlichkeit das Land von oben islamisiert hat, haben in Ägypten vor allem junge Geistliche die zivilgesellschaftlichen Forderungen in die theologischen Institutionen getragen. In Kooperation mit Intellektuellen des Landes hat sich die Azhar-Universität in einem Grundsatzdokument zu einem demokratischen Staat freier Bürger bekannt, der sich zu den hohen Prinzipien und Werten der Sharia wie Freiheit und soziale Gerechtigkeit bekennt. Und trotz der Restriktionen des Parteiengesetzes wurden bislang fast zwei Dutzend neue Parteien zugelassen.
Anmerkungen
1) In der westlichen Presse schien es oft so, als hätten überwiegend Facebook-Seiten zu der Demonstration aufgerufen. Facebook war jedoch für die Organisatoren neben traditionellen Flugblättern, Presseerklärungen und Mund-zu-Mund-Propaganda nur ein Mobilisierungsmedium.
2) Interview mit Ahmed Eid von der Jungend der Partei der Demokratischen Front, März 2011.
3) Ähnliche Demonstrationen wie in Kairo fanden auch in anderen Städten Ägyptens statt, v.a. in Alexandrien, Suez, Mahalla al-Kubra. Auch hier beschlossen die Menschen an zentralen Plätzen bis zum Sturz des Regimes auszuharren.
4) Es bildeten sich zwar Gremien wie der Rat der Treuhänder der Revolution (majlis umana al-thaura) oder das Komitee der Weisen der Revolution (lajnat hukama al-tahuara), außerdem verschiedene Revolutionsbündnisse, um das Leben auf dem Tahrir zu koordinieren. Niemand hatte jedoch die Autorität, eigenmächtig im Namen der Revolution zu sprechen oder Beschlüsse zu fassen. Das bekam z.B. der Administrator der wichtigsten Facebook-Seite »Wir sind alle Khaled Sais« zu spüren, als er vorschlug, auf ein Gesprächsangebot mit der Regierung einzugehen. Wael Ghunaim, der bis dahin als Volksheld galt, wurde ausgebuht.
5) Siehe Al-Shuruq 30.und 31.August 2011.
6) Die sieben Forderungen der Bewegung für den Wandel lauteten: 1. Aufhebung des Ausnahmezustandes, 2. Unabhängige richterliche Beaufsichtigung von Wahlen, 3. Wahlbeobachtungen durch lokale und internationale Menschenrechtsorganisationen, 4. Gleicher Zugang zu Medien für alle Kandidaten, 5. Wahlrecht für Auslandsägypter, 6. Das gleiche Recht aller Ägypter, für die Präsidentschaft zu kandidieren, und die Beschränkung der Amtszeit des Präsidenten auf zwei Legislaturperioden, 7. Bereinigung der Wählerlisten.
7) Al-Shuruq, 30. und 31. 8. 2011.
8) Im März kam es zu Angriffen auf eine Kirche in dem Dorf in Atfih. Dorfbewohner erzählten später, dass ehemalige Angehörige der Staatssicherheit unter Hinweis auf eine angebliche Liebesaffäre zwischen einem muslimischen Mädchen und einem Christen die Bewohner zum Angriff auf die Kirche angestachelt hätten. Auch nachdem es kurze Zeit später zu Straßenschlachten zwischen Christen und Muslimen auf der Ring-Road um Kairo kam, sagten Zeugen später, Unbekannte hätten in einer christlichen Nachbarschaft das Gerücht verbreitet, Muslime wollten die Kirche angreifen, während sie in benachbarten muslimischen Wohnvierteln gewarnt hätten, Christen würden planen, die Moschee zu attackieren.
9) Ägypten verfügt nur über sehr begrenzte Ackerflächen. 95% des Landes ist Wüste. Durch Bebauung wurde die landwirtschaftliche Fläche in den vergangenen Jahren stark reduziert. Wenn das Tempo der Bebauung anhält, wird es nach Schätzungen von Agraringenieuren 2030 keine Landwirtschaftsflächen mehr geben.
10) Der so genannte Salafi-Islam orientiert sich in allen Lebensbereichen strikt am Vorbild des Propheten und der ersten islamischen Gemeinde sowie einer textgetreuen Koran-Auslegung, die keinen Raum für zeit- und ortgebundene Interpretationen lässt.
11) Laut Artikel 56 der Verfassungserklärung hat der Militärrat das Recht der Gesetzgebung. Er bestimmt die Grundlinien der Regierungspolitik und legt den Staatshaushalt fest. Er beruft das Parlament und löst es auf. Er kann ein Veto gegen Gesetze einlegen, die das Parlament beschlossen hat. Er repräsentiert den ägyptischen Staat nach innen und nach außen, ernennt die Regierung und die höheren Angestellten im Staat und in der Armee und hat das Recht, Amnestien auszusprechen.
12) Hisham Mubarak Law Center: Yawmiat taht hukm al-askar: waqa’: intihakat wa muhakamat al-madaniyin amama Mahakam al-askariya baad al-thaura (Chronologie der Militärherrschaft – Rechtsverletzungen und Verfahren gegen Zivilisten vor Militärgerichten nach der Revolution). Kairo, August 2011.
13) Zwar dürfen sich Parteien ohne staatliche Lizenz formieren, jedoch müssen sie mindestens 5.000 Gründungsmitglieder haben. Diese Zahl wurde inzwischen aufgrund von Protesten auf 1.000 herunter gesetzt.
Ivesa Lübben ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Nah- und Mitteloststudien der Phillips Universität Marburg.