W&F 1993/1

Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik

Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz

von IANUS

Am Wochenende 27.-29. November fand in München eine Fachtagung unter der Themenstellung »Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik – Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz« statt. Die Kurzfassung des auf der Tagung verabschiedeten Memorandums wird im Folgenden abgedruckt.

Die Veranstaltungen wurden getragen vom Berghof Institut (Berlin), dem Bund deutscher Studierenden Pugwash (BdSP), dem Bund demokratischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen (BdWi) dem DGB-Bundesvorstand, Abt. Angestellte, dem Forschungsinstitut für Friedenspolitik (Weilheim), dem Forum Informatikerinnen und Informatiker für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FlFF), der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF/Bonn), der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheitspolitik (IANUS/TH Darmstadt), der Landesastenkonferenz Bayern, dem Münchner Friedensbündnis, der Naturwissenschaftler-lnitiative »Verantwortung für den Frieden«, der Studierendenvertretung der Ludwig-Maximilian-Universität München, der Vereinigung deutscher Wissenschaftler (VdW).

Auf dieser Fachtagung wurde ein Memorandum erarbeitet, das nun in überarbeiteter Form der Öffentlichkeit vorgelegt wird. Die Aussagen des Memorandums sind zusammengefaßt in nachfolgender Thesenliste:

I. Die Ausgangslage nach Ende des Kalten Krieges ist in den fortgeschrittenen Industrieländern durch ein Setzen auf militärtechnologische Innovation und qualitative Aufrüstung gekennzeichet anstatt einschneidende Abrüstungsmaßnahmen und die Überwindung der Konzeption militärischer Intervention zu fördern.

II.1 Dagegen steht, daß die globalen Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, keinesfalls mit militärischen Mitteln angehbar, geschweige denn lösbar sind.

II.2 Es besteht die Notwendigkeit der tiefgreifenden Umsteuerung in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, um qualitative Rüstungskontrolle und die Vermeidung der Weiterverbreitung von waffenrelevantem Wissen und entsprechender Technologie zu organisieren.

III. Beiträge von Forschung und Entwicklung (FuE) zur militärtechnologischen Innovation sind:

  • Offen deklarierte Rüstungsforschung: In Deutschland sind dies FuE-Mittel, die vom Bundesverteidigungsministerium verausgabt werden.
  • Geplante Nutzung ziviler FuE: Hier werden militärische Anforderungen über einen bewußt gesteuerten Vorlauf ziviler FuE-Programme in zusätzlichen, sog. Add-on-Programmen militärischer »Durchentwicklung« befriedigt.
  • Latent militärisch relevante FuE: Das sind Forschungsbereiche, in denen mögliche – wenn auch nicht explizit verfolgte – militärische Anwendungsbereiche mit zivilen Anforderungen eng verwandt sind.

IV. Wachsende Bedeutung erhalten neben der deklarierten Rüstungsforschung die beiden weiteren zivil-militärisch ambivalenten Beiträge zur militärtechnologischen Innovation: Neue militärische Anwendungen werden somit eher aus zivilen Forschungsprojekten entstehen als aus spezieller Militärforschung.

V.1 Eine Grauzone zivil deklarierter, aber militärisch genutzter Forschung und Entwicklung tut sich auf. Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren mehrfach erklärt, daß militärische Anforderungen bereits in zivilen Forschungs- und Technologieprogrammen frühzeitig mitberücksichtigt werden und in Form von »add-on-Programmen« zu militärischen Anwendungen fortentwickelt werden sollen.

V.2 So zeigt sich, daß das Gegenteil der Spin-off Hypothese, die besagt, daß militärische Innovation wesentliche zivile Innovationen befruchten kann, eine relevante These wird: der fortdauernde indirekte Gebrauch zivil deklarierter Wissenschaft fördert entscheidend die militärtechnologische Basis.

VI. Die Problematik der zivil-militärischen Ambivalenz ist weitgehend tabuisiert – nicht nur innerhalb der scientific community. Eine möglichst eindeutige – auch wertende Stellungnahme und Verhaltensweise der beteiligten Wissenschaftler wäre demgegenüber wünschenswert.

VII. Die vermutlich lange praktizierte, nunmehr aber offen ausgesprochene Dual-use Konzeptionierung der Wissenschaftsförderung in unserem Land bedeutet einen Zuwachs militärischen Einflusses auf die Wissenschaftsentwicklung.

VIII. Teilweise ist Ambivalenz sicherlich auch den modernen Naturwissenschaften strukturell eingeschrieben. Dies darf aber nicht zu dem bequemen und fatalen Fehlschluß verleiten, hier sei prinzipiell keine fruchtbare aufklärende Gegenaktivität denkbar. Wir sind davon überzeugt, daß die zivil-militärische Ambivalenz im Fortgang der Wissenschaftsentwicklung, in einem sozialen Reifungsprozeß der Wissenschaft, weitgehend auflösbar ist.

IX. Arbeit in ambivalenten Forschungs- und Technologie-Feldern erhöhen die latenten Gefahren der horizontalen und vertikalen Proliferation, der Weiterverbreitung von waffenrelevanter Technologie (auch im Bereich von Massenvernichtungswaffen) und der militärtechnologischen Innovation im nationalen und internationalen Maßstab.

X.1 Die Wissenschaft soll sich auf ihre humanitären Ursprünge besinnen. Folgerichtig soll militärtechnologische Innovation eingeschränkt und die Weiterverbreitungsproblematik an der Wurzel angegangen werden. Dazu müssen Maßnahmen ergriffen werden, die bereits in der Forschungs- und Entwicklungsphase wirksam werden.

X.2 Die Ambivalenz- und Dual-use-Problematik kann nur durch Schaffung von völliger Transparenz offengelegt werden.

X.3 Dies bedeutet innerwissenschaftliche Ambivalenzanalyse, die Etablierung unabhängiger, interdisziplinärer Wissenschafts- und Technikfolgenforschung, die Offenlegung der forschungs- und technologiepolitischen Planungsgrundlagen, ein Ende der Geheimforschung mit öffentlichen Mitteln und die Forderung nach einer deutschen Version eines »Freedom of Information Act«.

XI. Maßnahmen zur Kontrolle über militärtechnologische Innovation und Wege zur Umsteuerung in Wissenschaft und Forschungs- und Technologiepolitik werden vorgeschlagen. Vierzehn Vorschläge betreffen 1. die Beschränkung deklarierter Rüstungsforschung, 2. die politische Kontrolle über bestehende Militärtechnologie, 3. die Herauslösung militärisch relevanter Projekte aus der Geheimforschung, 4. neue Rüstungskontrollverträge, 5. die qualitative Beschränkung von relevanten Forschungsanstrengungen, 6. ein internationales Verbot der Erforschung neuartiger Waffensysteme, 7. den einseitigen Verzicht auf militärisch relevante Forschungs- und Technologieprogramme, 8. die Analyse der zivilmilitärischen Ambivalenz von Forschungs- und Technologieprojekten, 9. neue Leitlinien der FuT-Politik, 10. eine neue Praxis von Förderentscheidungen im Bereich von Forschung und Entwicklung, 11. die Notwendigkeit der innerwissenschaftlichen Aufklärungsarbeit, 12. Konsequenzen für Forschung und Lehre an den Hochschulen, 13. die Notwendigkeit der Erstellung von Kriterienkatalogen zur Bewertung von Forschungs- und Technologievorhaben und 14. die Notwendigkeit von Forschungskonversion.

XII. Voraussetzung für das Gelingen solcher Anstrengungen ist die eindeutige Artikulierung des politischen Willens, daß nach Ende der Ost-West-Blockkonfrontation der technologisch dominierte Rüstungswettlauf tatsächlich zu einem Ende kommen soll.

XIII. Eine weitere wesentliche Voraussetzung ist eine tiefgreifende Demokratisierung unserer Gesellschaft. Neue Formen gesellschaftlicher Mitbestimmung in den Hochschulen, in den Forschungseinrichtungen (auch der Industrie), in der Forschungsförderung und innerhalb staatlicher Forschungs- und Technologiepolitik müssen aufgefunden werden, müssen gewollt und praktiziert werden.

XIV. Wissenschaft, Politik, Industrie und Öffentlichkeit sind gleichermaßen gefordert, wenn die verschwenderische militärtechnologische Innovation zum Ende kommen soll und neue Prioritäten in der Zukunftsplanung für Forschung und Technologieentwicklung gesetzt werden sollen.

XV. Daher wenden wir uns an die Wissenschaft, die Politik, die Wirtschaft und die Öffentlichkeit gleichermaßen, um für die Problematik der zivil-militärischen Ambivalenz unter der angegebenen Zielsetzung zu sensibilisieren. Dieses Memorandum kann nur ein Anstoß sein. Ein Anstoß, der zu einer innerwissenschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Debatte führen soll. Die Wahrnehmung der Problematik und die vorgeschlagenen Handlungsmöglichkeiten sollen zu einer Veränderung und zu einer Umsteuerung führen.

Darmstadt, 21.12.1992

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1993/1 Zivil und militärisch, Seite