W&F 2013/2

Die Logik der Staatsränder

Laudatio zur Verleihung des Christiane-Rajewsky-Preises

von Claudia von Braunmühl

Die Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) schreibt seit zwanzig Jahren den Christiane-Rajewsky-Preis aus. Der Preis richtet sich an jüngere WissenschaftlerInnen oder Initiativen, die einen herausragenden Beitrag zur Friedens- und Konfliktforschung geleistet haben. Beim AFK-Kolloquiums 2013 wurde der diesjährige Preis an Maximilian Lakitsch vergeben. Die Laudatio bei der Preisverleihung hielt Claudia von Braunmühl.

[…]

Die Arbeit, die wir heute mit dem Christiane-Rajewsky-Preis auszeichnen, war – auf unterschiedliche Weise – für alle in der Jury eine Herausforderung. Die am Institut für Philosophie der Universität Graz vorgelegte Dissertation trägt den Titel »Unbehagen im modernen Staat. Über die Grundlagen staatlicher Gewalt«.1 Ihr Autor, Maximilian Lakitsch, nimmt das Thema der im letzten Jahr preisgekrönten Arbeit – die Bedeutung von und der Umgang mit Staatsgrenzen2 – auf seine Weise mit den Mitteln der politischen Philosophie auf und betreibt in der Tat sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung.

Die Arbeit sucht nach einer Erklärung für die Gleichzeitigkeit von Charakteristika eines modernen Staates – Souveränität, Legitimität und rechtlicher Regelungsraum – und staatlichem Handeln, das als grausames Willkürhandeln allen Legitimität zugeordneten Merkmalen zuwider laufen kann, ohne die Legitimität des solchermaßen handelnden Staates im Kern zu erschüttern. Maximilian Lakitsch nähert sich dieser widersprüchlichen Gleichzeitigkeit über den Begriff des Staatsrandes. Ich zitiere aus seiner Zusammenfassung:

„Welchen modernen Staat der Welt man auch betrachtet, man wird immer Manifestationen des Staatsrandes finden. Ohne den Ausschluss von Menschen, die einen Staatsrand konstituieren, kann keine Gruppe von Menschen mit einer Rechtsordnung vereint werden, um eine Rechtsgemeinschaft zu bilden. […] Agiert die Staatsgewalt im Bereich der Rechtsgemeinschaft, so ist sie an die Rechtsordnung gebunden. […] Agiert die Staatsgewalt im Bereich des Staatsrandes, so ist sie an keinerlei Rechtsordnung und Prinzipien gebunden. Hier agiert sie jenseits der Erfordernisse von Legitimität – sie übt a-legitime Gewalt aus. […] Stoßen uns manche Handlungen des Staates […] vor den Kopf und breiten ihr Unbehagen aus, so ist das dem Donnergrollen von nebenan aus dem Staatsrand geschuldet, den man immer vernehmen wird, so lange es moderne Staaten gibt.“ (S.222/223)

Die philosophischen Grundlagen für diese Lesart der politischen Wirklichkeit findet Maximilian Lakitsch bei Walter Benjamin, Carl Schmitt und Giorgio Agamben; die politische Realität, die seine Rezeption dieser Theorien beglaubigt, an unterschiedlichen Orten in Zeit und Raum.

Die drei Autoren sind klug gewählt. Obgleich extrem verschieden, sind doch alle drei geeignet, das Thema des Auftretens von staatlichen Gewaltakten und der Formierung von Staatsrändern, an denen dies ohne Erschütterung staatlicher Legitimität geschieht, theoretisch zu fundieren. Die Kernthese lautet, dass in die Konstitution, ja die Legitimität eines Staates notwendig Gewalt gegen Menschen und die Reduzierung von Menschen auf das »nackte Leben« eingeschrieben ist. Die Kritik von Lakitsch an staatlicher Gewalt beschränkt sich nicht auf den Nachweis von Ausgrenzungsmechanismen oder die Wegnahme von Rechten von Staatenlosen, sie beruft sich auch nicht auf naturrechtliche oder vertragstheoretische Grundlagen. Die Aussage ist sehr viel drastischer: Der Rechtsstaat muss innerhalb seines Gefüges Gewalt als »rechtsetzend« anerkennen (Benjamin), er muss die Ausnahmezustände der Lager zur Normalität erklären (Schmitt), und er braucht den »homo sacer« (Agamben), der konstitutiv für die Grundlegung souveräner Macht und ihrer Rechtsordnung und gleichzeitig Nicht-Teil der Gemeinschaft ist, also letztendlich Legitimität der Legalität unterordnet.

Genau hier gewinnt der Begriff des Staatsrandes seine Bedeutung. „Der Staatsrand ist für einen modernen Staat [also] ein staatliches Konstitutivum.“ (S.144) Er bedeutet nicht einfach eine Grenze zwischen Innen und Außen und verdankt sich nicht einem gleichsam vorvertraglichen mythischen Gründungsereignis. Vielmehr wird er in fortlaufender Neu-Konstituierung von Staatlichkeit immer wieder gewalttätig ins Werk gesetzt. Der Staatsrand wird bewohnt von den Ausgeschlossenen; die in ihm lebenden Menschen gehören nicht zur Rechtsgemeinschaft. Den an die Staatsränder Verwiesenen begegnet die reine Staatsgewalt „ohne jegliches Verhältnis zu irgendwelchen Verhaltensregeln oder Prinzipien“ (S.145); diesen Menschen bleibt nichts als das nackte Leben.

Die politische Realität, die die von Maximilian Lakitsch ausgewählten Theorien empirisch beglaubigt, zeigt er an unterschiedlichen Beispielen auf: Die Verdrängung und Zwangsassimilierung der Ureinwohner in Nordamerika und Australien, der Völkermord an den Armeniern im späten osmanischen Reich, die Vernichtung der Juden in Europa, der erzwungene Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei, die ethnischen Säuberungen im zerfallenden Jugoslawien, die Ausgrenzung und Ausweisung von Sinti und Roma in diversen Ländern Europas, Flüchtlingslager, Abschiebehaft und Abschiebung von Flüchtlingen im Schengen-Europa, nicht zuletzt auch in Deutschland und Österreich, das Elend an der Außengrenze der EU, eingehend geschildert und analysiert in der im letzten Jahr preisgekrönten Arbeit von Silja Klepp, und schließlich der Konflikt zwischen Israel und Palästina. In all diesen gewalttätigen Vorgängen wirkt, so Maximilian Lakitsch, die „Logik der Staatsränder als primäre Ursache“ (S.179).

Wie kann eine Arbeit, deren Kernthese dem modernen Staat wesensmäßig die Möglichkeit umfassender und dauerhafter Einhegung der Staats-Gewalt und also Friedensfähigkeit abspricht, wie kann eine solche Arbeit mit dem Nachwuchspreis der deutschen Friedens- und Konfliktforschung ausgezeichnet werden?

Der Theorieansatz von Maximilian Lakitsch nimmt essentielle Ambivalenzen von Staatlichkeit in den Blick und zwingt uns zu genauerem Denken bei der zur Gewohnheit gewordenen Rede von der Staatsgewalt. Er erinnert daran, dass der Staat weder ein a priori und aus sich heraus an Menschenrechten und Gemeinwohl orientierter Akteur noch eine neutrale Instanz ist. Aus der Analyse der Praxis an den Staatsrändern gewinnt Maximilian Lakitsch – durchaus erschreckende – Einsichten, die zur Konfrontation mit der Ambivalenz staatlich organisierter gesellschaftlicher Gefüge zwingen. Indem er die unausgewiesenen Voraussetzungen moderner Staatlichkeit offen legt, fordert er die Friedensforschung eindrücklich auf, theoretisch und praktisch ihre eingeübten Denk- und Vorgehensweisen zu überdenken. Die Arbeit verweist auf die Notwendigkeit solcher Auseinandersetzung, gibt deren Instrumente und Verfahrensweisen aber nicht vor.

Es blieb in der Diskussion der Jury aber auch ein Unbehagen, das mit der Entscheidung, dieser Arbeit bzw. ihrem Autor den diesjährigen Preis zu verleihen, nicht vollends beigelegt war. Die wichtigsten Einwände und Fragen sollen hier dargelegt werden. Wir haben sie – der Christiane-Rajewsky-Preis dient ja immer auch der Aufnahme eines Gesprächs – wir haben sie Maximilian Lakitsch mitgeteilt und sind gespannt auf seine Antwort.

Ein Blick in die biographischen Daten von Maximilian Lakitsch sagt uns, dass er sich in seinem Studium intensiv mit interkulturellen und interreligiösen Fragen auseinandergesetzt hat. Er hat in damit thematisch verwandten Zusammenhängen auf UN- und zivilgesellschaftlicher Ebene gearbeitet. Er ist heute wissenschaftlicher Mitarbeiter im Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung in Stadtschlaining. Wir meinen, in diesen Daten ein friedenspolitisches Engagement erkennen zu können, ein Engagement, dessen Wegweiser wir in der auf explizite Handlungsorientierung verzichtenden Arbeit je nach Leseweise gar nicht oder nur undeutlich gefunden haben. Lieber Preisträger, wir bitten um Lesehilfe.

Weitere Fragen: Liefert sich die Arbeit nicht den Theorien ihrer Denk-Väter aus, indem sie deren Welt-Konstruktionen als gleichsam objektive Wahrheit nimmt und nun die dazu passenden Realitäten sucht und findet, andere, möglicherweise nicht minder geschichtsmächtige, aber ausblendet?

Trifft die behauptete Norm-Ungebundenheit des modernen Staates an seinen Rändern wirklich zu? Sind die Bemühungen hin zu einem menschenrechtsbasierten internationalen Konstitutionalismus wirklich so gering einzuschätzen. Sind sie nicht Teil eines zivilisatorischen Prozesses, sondern eher wesenswidrige Sisyphos-Anstrengungen?

Und schließlich das doch auch ein wenig vereinnahmungsverdächtige, die Arbeit durchziehende »Wir«: Wem gilt es? Das Unbehagen, das »wir« haben, ist es nicht vielleicht das »Behagen« von anderen? Wer also ist »Wir«?

So viele Fragen: Jede durchaus ernst zu nehmen. Sie sind aber keine prinzipieller Einwand oder Infragestellen, sondern Ausdruck des Anstoßes zu Beunruhigung und Nachdenken, der von dieser Arbeit ausgeht. Mit ihren von Theorie und Empirie bekräftigten Reflektionen über Staatsgewalt vergegenwärtigt sie uns die prekären, ambivalenten staatspolitischen Grundlagen, mit denen Friedensbestrebungen sich notwendigerweise auseinandersetzen müssen. Damit liegt sie im Kern, man möchte fast sagen, im Kern des Kerns, von Friedens- und Konfliktforschung. Dafür möchte ich Ihnen, lieber Maximilian Lakitsch, im Namen der AFK diesen Preis überreichen.

Anmerkungen

1) Dissertation von Maximilian Lakitsch: »Unbehagen im modernen Staat. Über die Grundlagen staatlicher Gewalt«. Erscheint im Mai 2013 bei Transcript.

2) Dissertation von Silja Klepp: »Europa zwischen Grenzkontrolle und Flüchtlingsrecht: Eine Ethnographie der Seegrenze auf dem Mittelmeer«. Bielefeld: Transcript, 2011.

Prof. Dr. Claudia von Braunmühl ist unabhängige entwicklungspolitische Gutachterin sowie Beraterin und Honorarprofessorin für Internationale Politik am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der FU Berlin.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2013/2 Kriegsfolgen, Seite 39–40