W&F 2000/2

Die ökologische Zeitbombe

Der Atommüll der Nordmeerflotte

von Ulrike Kronfeld-Goharani

Jahrzehnte lang wurden weltweit nukleare Sprengköpfe und Reaktoren produziert ohne dass man wusste, wie ausgedientes nukleares Material sicher entsorgt werden kann. Erklärt wurde dies in Ost und West mit der Logik des Kalten Krieges. Nuklearsektoren unterlagen absoluter Geheimhaltung und waren öffentlicher Kritik und Kontrolle vollständig entzogen. Die Risiken kannte man nicht genau und dementsprechend unzureichend waren vielerorts die Sicherheitsstandards, wenn es sie überhaupt gab. Zu den Regionen, die von den Folgen dieser Politik besonders stark betroffen sind, zählt die Kola-Halbinsel in Nordwestrussland. Wiederholt wies der Euro-Arktische Barentsrat (BEAC) daraufhin, dass die nukleare (Un-)Sicherheit und der radioaktive Müll in Nordwestrussland ein wachsendes Umwelt- und Sicherheitsproblem darstellen.

Zu den Problemgebieten zählt die russische Halbinsel Kola, die im Westen an Norwegen und Finnland, im Norden an die Barentssee und im Süden an das Weiße Meer grenzt. Auf Kola, wo sich die Stützpunkte der Nordmeerflotte befinden, lagern große Mengen nuklearen Abfalls und alte, außer Dienst gestellte Schiffe und U-Boote des Militärs, letztere zum Teil noch mit ihrem nuklearen Brennstoff an Bord. Der Atommüll, der sich seit Inbetriebnahme der ersten atomar betriebenen Schiffe in rund 40 Jahren angesammelt hat, wächst durch den Betrieb der Flotte noch immer an, obwohl nach wie vor große Probleme in Bezug auf das Managen, Aufbereiten und Lagern des alten und des neuen Mülls bestehen. Zwar hatte Russland 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion erklärt, das Problem des atomaren Mülls verantwortlich in Angriff zu nehmen, ist aber aufgrund der schlechten finanziellen Situation, die nicht nur die Kosten für das Müll- und Entsorgungsproblem, sondern die Funktionsfähigkeit der gesamten Nordmeerflotte betrifft, kaum dazu in der Lage. Nach Ansicht der neuen finnischen Präsidentin Tarja Halonen sollten daher die Umweltprobleme in der ökologisch sensiblen arktischen Region weltweites Interesse finden:

„Die Größe des Problems erfordert permanente multilaterale Anstrengungen, Entwicklung internationaler Finanzierungseinrichtungen und eine nicht nachlassende Aufmerksamkeit“.1

Ohne internationale Hilfe und finanzielle Unterstützung könnte in der Region eine ernste Situation entstehen. Die norwegische Umweltorganisation Bellona spricht in diesem Zusammenhang von einem »Tschernobyl in Zeitlupe«.2

Die Nordmeerflotte –
Stolz der sowjetischen Marine

Der Aufbau der Nordmeerflotte begann mit Ende des II. Weltkriegs, während dessen Verlaufs die strategische und taktische Bedeutung des U-Boot Einsatzes deutlich geworden war. Die Sowjetunion begann mit dem Ausbau der Kola-Halbinsel in Nordwestrussland, die, obwohl nördlich des Polarkreises gelegen, einen eisfreien Zugang zum Weißen Meer und zur Barentssee bietet. Es wurden zahlreiche Schiffswerften errichtet, die mit dem U-Boot Bau begannen. Nach und nach wurde die Kola-Halbinsel zu einem der größten Waffenarsenale der Welt ausgebaut. Mitte der 50er-Jahre begann die Entwicklung nuklear angetriebener Boote. Das erste russische Atom-U-Boot, die »Leninsky Komsomol«, lief 1957 vom Stapel. Seitdem wurden vier Generationen von Atom-U-Booten entwickelt, eine große Zahl davon in den Schiffswerften auf Kola oder in Severodvinsk. Bis 1995 wurden 245 Atom-U-Boote der Marine übergeben und zwei Drittel davon dem Kommando der Nordmeerflotte unterstellt.

Parallel mit der Errichtung großer Schiffswerften entstanden große U-Boot-trainingslager in Paldiski (heute Estland), Sevastopol (heute Ukraine) und Sosnovy Bor bei St. Petersburg. In Sevastopol befand sich das größte und modernste Ausbildungszentrum; dort konnten hochmoderne Computer- und Reaktorsimulationen durchgeführt werden. Mehr als 500 Offiziere wurden jährlich dort ausgebildet. Die Ausbildung galt als lang und schwierig. Doch wer es endlich geschafft hatte, U-Bootfahrer zu werden, den erfüllte nicht nur Stolz, sondern der erhielt auch eine Reihe von Privilegien: Das Gehalt nach Dienstgrad plus Verpflegungsgeld ergaben eine Summe, von der sich relativ gut leben ließ. Wer der Nordmeerflotte angehörte, hatte allen Grund, stolz und selbstbewusst zu sein.

Der lange Abschied
von der Sowjetunion

Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion scheinen die Kreml-Chefs das Interesse an dem einstigen Prestigeobjekt verloren zu haben. Jelzins Abrüstungsverhandlungen mit den USA und die angespannte wirtschaftliche Lage Russlands haben die Nordmeerflotte in schwieriges Fahrwasser manövriert.

1994 flossen der Nordmeerflotte nur 35% der Mittel zu, die eigentlich für Wartung und Unterhalt bestimmt waren. Der größte Anteil davon wurde für nach zu zahlende Löhne und andere Personalkosten aufgewendet. 1995 war der gesamte Jahresetat der Nordmeerflotte wegen der hohen Inflation bereits nach sechs Monaten aufgebraucht. Löhne konnten monatelang nicht ausgezahlt, Materialien und Ersatzteile nicht eingekauft und Reparaturen nicht ausgeführt werden. Von der Finanzmisere sind auch die Instandhaltung und Ausrüstung der Schiffswerften und die Wartung der Boote betroffen. U-Boot-Bau findet heute nur noch in einer (Severomorsk) von ehemals vier Schiffswerften statt. Die Boote werden aus Kostengründen mit weniger und zum Teil schlechter ausgebildetem Personal besetzt, fahren kürzere Einsätze oder bleiben im Hafen liegen. Dadurch reduziert sich die praktische Ausbildung und das Sammeln von Erfahrungen im Umgang mit einer heiklen Technologie. Insgesamt haben die Qualität und Kompetenz der U-Boot-Crews erheblich abgenommen. Das Risiko für Unfälle wächst stetig.

Hinzu kommt die schwindende Motivation der Marineangehörigen wegen der Gehaltsmisere und der schlechten sozialen Bedingungen. Offiziere wurden bisher in den Ferien grundsätzlich nicht bezahlt und mussten immer wieder Verzögerungen bei der Auszahlung der Gehälter hinnehmen. Als Folge davon sind immer weniger von ihnen bereit ihre Fünfjahresverträge zu verlängern und verlassen die Marine. Nachschub durch neu ausgebildete Offiziere gibt es nur wenig pro Jahr, denn ausgebildet wird nur noch in Sosnovy Bor.

Auch der Prestigeverlust der Flotte macht vielen ehemaligen Offizieren zu schaffen. Sie verstehen nicht mehr, warum sie viele Jahre ihres Lebens für die Flotte verbracht haben und sind erfüllt von Wehmut und auch Wut. Sie machen Gorbatschows Reformprogramm und Jelzins Abrüstungsverhandlungen für die Misere der Flotte verantwortlich.3

Der hohe Sozialdruck, die Finanzmisere der Nordmeerflotte und eine ungewisse Zukunft sind Ursachen dafür, dass es immer wieder zu Streiks und Zwischenfällen kommt. Im September 1995 unterbrach die Energiegesellschaft Kolenergo die Energieversorgung des Marinestützpunktes Gadzhievo, nachdem monatelang der Strom nicht bezahlt worden war. Auf vier U-Booten fielen die Kühlsysteme aus und ein Inferno konnte nur verhindert werden, weil der Strom nach 40 Minuten wieder floss, nachdem der Befehlshaber der Nordmeerflotte bewaffnete Soldaten zur Energiestation geschickt hatte. Am 9. November 1997 streikten Arbeiter auf einer Reparaturwerft in Polyarny, nachdem sie monatelang keine Gehälter bezogen hatten und drohten mit der Parole: »We will arrange another Chernobyl«. Es stellt sich die Frage, ob und wie lange noch der Befehlshaber der Nordmeerflotte diese beunruhigenden Zwischenfälle unter Kontrolle hat, ohne dass es eines Tages zu einem schwerwiegenden Unfall kommt.

Das verdrängte Problem: der sorglose Umgang mit dem Atommüll

Mit dem Einsatz der Atom-U-Boote begann auch das Problem des radioaktiven Abfalls. Doch in der Ära des Kalten Krieges galt das Hauptinteresse dem Entwurf und der Konstruktion von Atom-U-Booten und verschiedenen Raketensystemen. Dagegen spielte die Entsorgung von Nuklearmüll ebenso wie der Aufbau von Infrastruktur an den Stützpunkten und auf den Schiffswerften nur eine untergeordnete Rolle. Die Geschwindigkeit, mit der neue U-Boot-Typen entworfen, gebaut und in Dienst gestellt wurden, war so hoch, dass die Entwicklung dazugehöriger Wartungs-, Reparatur- und Versorgungseinrichtungen um fünf bis acht Jahre hinterherhinkte. Während das erste Atom-U-Boot bereits 1957 vom Stapel lief, wurden die ersten Einrichtungen zur Handhabung und Lagerung radioaktiven Abfalls erst Anfang der 60er-Jahre fertiggestellt. Dieses Problem begleitete die Entwicklung aller nachfolgenden U-Boot-Generationen und besteht bis heute. Im Marinestützpunkt Nerpichya wurden zum Beispiel die Dockanlagen für die modernen Typhoon-U-Boote nicht vollständig ausgebaut und für die Docks benötigte Kräne nie errichtet.4

Dass der sicheren Handhabung und Lagerung radioaktiven Mülls nur untergeordnete Bedeutung zugemessen wurde, drückte sich auch in dem Mangel an technischen und ökonomischen Ressourcen aus, die von der Marine für diesen Zweck bereitgestellt wurden. Viele Einrichtungen für das Management radioaktiven Abfalls wurden zwar konstruiert, aber nur auf den Reißbrettern. Wurden Mittel für den Bau einer bestimmten Anlage bewilligt handelte es sich häufig nur um einmalige Aufwendungen. Waren diese verbraucht blieb die Anlage in dem (unfertigen) Zustand zurück, in dem sie sich gerade befand. In Andreeva Bay, wo sich die größte Lagerstätte für verbrauchten Nuklearbrennstoff befindet, wurde 1960 zwar mit dem Bau einer Wiederaufbereitungsanlage für flüssigen Atommüll begonnen, das Vorhaben aber nie zu Ende geführt.

Umweltschutzmaßnahmen und Sicherheitsvorkehrungen für die Marineangehörigen und die Bevölkerung in der Region hatten nur eine untergeordnete Bedeutung. Anfangs gab es überhaupt keine Vorsichtsmaßnahmen um die Bevölkerung und insbesondere die Arbeiter zu schützen. Auch wurden keine Vorkehrungen getroffen um U-Boote irgendwann abwracken zu können.

Als Folge dieser Politik befinden sich heute 18 % aller in der Welt existierenden Reaktoren in dieser Region. Die Kola-Halbinsel und Severodvinsk am Weißen Meer verfügen mit ca. 300 Reaktoren über die höchste Konzentration nuklearer Reaktoren in der Welt.5

Das Ausmaß
des nuklearen Abfalls

Der Gebrauch, die Unterhaltung und die Außerbetriebnahme von Reaktoren erzeugt nuklearen Abfall. Im Normalbetrieb fallen große Mengen bei der Auffüllung von U-Boot-Reaktoren mit neuem Brennstoff an. Die ersten russischen Atom-U-Boote wurden nach sieben bis zehn Jahren mit neuem Brennstoff ausgerüstet, je nach Anreicherungsgrad des benutzten Uran 235 und Einsatzdauer des Reaktors. Modernere U-Boote werden bereits nach drei bis fünf Jahren mit neuem Brennstoff aufgefüllt, sodass heute in wesentlich kürzeren Abständen nuklearer Müll erzeugt wird. Bei Brennstofferneuerungsarbeiten entstehen 155 bis 200 Kubikmeter feste und flüssige Anteile nuklearen Abfalls.

Jährlich fällt in Russland nuklearer Müll von 20 Atom-U-Booten an. Lagerkapazitäten sollen dagegen nur für den Abfall von drei Booten vorhanden sein. Insgesamt müssten Jahr für Jahr rund 30.000 Kubikmeter flüssiger und 6.000 Kubikmeter fester Atommüll entsorgt werden. Hinzu kommt ein beträchtlicher Anteil aus Reparaturarbeiten an beschädigten oder havarierten U-Booten.

Der nukleare Abfall der Nordmeerflotte wurde in der Vergangenheit auf der Kola-Halbinsel gelagert, im Meer versenkt oder zur Wiederaufarbeitung nach Mayak transportiert, einer von insgesamt drei Wiederaufarbeitungsanlagen6 in Russland, die sich im 3.000 Kilometer von der Kola-Halbinsel entfernten Tscheljabinsk im Ural befindet.

Die fünf Militärbasen der Nordmeerflotte auf der Kola-Halbinsel liegen zwischen Zapadnaya Litsa im Westen und Gremikha im Osten. An allen Stützpunkten befinden sich Lagerkapazitäten für festen und flüssigen Nuklearmüll. Gremikha und Andreeva Bay sind die Hauptlagerkapazitäten für verbrauchte Brennelemente. Obwohl es Politik der ehemaligen Sowjetunion war, aus Furcht vor einer zukünftigen Uranknappheit möglichst den gesamten verbrauchten Brennstoff wieder aufzubereiten und erneut einzusetzen, wurden Andreeva Bay und Gremikha bis heute nicht an das Eisenbahnnetz angeschlossen, sodass ein Transport mit speziellen Schiffen in Häfen mit Eisenbahnanschluss erforderlich ist um verbrauchte Brennelemente nach Mayak zu transportieren. Seit Anfang der 90er-Jahre hat die Marine allerdings immer weniger Transporte nach Mayak geschickt, weil sie die Kosten sowohl für den Transport als auch die Wiederaufarbeitung immer schlechter finanzieren konnte.

Fester radioaktiver Müll wird an elf verschiedenen Plätzen entlang der Kola-Halbinsel sowie in Severodvinsk gelagert. Alle Lagerkapazitäten sind voll, einige von ihnen in sehr schlechtem bautechnischen Zustand. An einigen Stellen wird fester radioaktiver Müll unter freiem Himmel ohne besondere Schutzvorkehrungen gelagert. Es bereitet keine großen Schwierigkeiten radioaktiven Schrott, der für viele ein lohnenswertes Geschäft bedeutet, zu entwenden.

Flüssiger radioaktiver Abfall, der vor allen Dingen bei der Brennstofferneuerung der noch in Dienst gestellten U-Boote anfällt, wird in allen Marinebasen gelagert, zum Teil in unterirdischen Tanks auf dem Land, an Bord von Versorgungsschiffen oder in Schwimmtanks. Einige der Tanks befinden sich auch in sehr schlechtem Zustand. Ein Teil des neu anfallenden flüssigen Atommülls wird in die Wiederaufbereitungsanlage der zivilen Eisbrecherflotte in Murmansk gebracht. Allerdings ist die Kapazität der Anlage zu gering und sind die Kosten der Wiederaufarbeitung für die Nordmeerflotte zu hoch.

Die größte Lagerstätte für verbrauchten Nuklearbrennstoff liegt in Zapadnaya Litsa in Andreeva Bay, nur 40 Kilometer von der Norwegischen Grenze entfernt. In Norwegen ist die Furcht vor radioaktiven Verseuchungen groß zumal sich Befürchtungen, dass an vielen Stellen auf der Kola-Halbinsel mit spaltbarem Material grob fahrlässig umgegangen wird, mit Bekanntgabe des Bellona-Reports bestätigt haben.

In Andreeva Bay sollen ca. 21.000 verbrauchte Brennelemente, der Inhalt von etwa 90 Reaktoren, in drei überalterten, innen mit Stahlplatten versehenen Betontanks und bedeckt von einer ca. 4 Meter dicken Wasserschicht gelagert sein. Im Februar 1982 traten in zwei der Betonbecken Leckagen auf. Ein halbes Jahr lang trat hochgradig kontaminiertes Wasser aus, zeitweilig bis zu 30 Tonnen pro Tag, und entwässerte in den nur 350 Meter entfernten Litsa Fjord. Weitere 200-220 Brennelemente, verpackt in Containern, sollen seit 36 Jahren unter freiem Himmel stehen.

Ähnlich wie in Andreeva Bay wurden auch in Gremikha Reaktorkerne in Betonbecken abgesenkt und mit Wasser bedeckt. Auch hier traten Leckagen auf. 1982 wurde entdeckt, dass der Wasserstand in einem von insgesamt vier Tanks sank und kontaminiertes Wasser austrat. 1984 wurden drei der Becken entleert, die Brennelemente geborgen, nach Murmansk verschifft und von dort mit dem Zug nach Mayak transportiert. 95 beschädigte Brennelemente wurden in den vierten Pool umgelagert, wo sie sich bis heute befinden sollen. Auch in Gremikha gibt es ein Areal, wo auf einem relativ ungeschützten offenen Gelände Container mit verbrauchten Brennelementen unter freiem Himmel stehen. Zur Zeit soll die Nordmeerflotte über kein Schiff mit geeigneten Vorrichtungen an Bord verfügen, um die überalterten Container aus Gremikha fort zu schaffen. Auch der nukleare Abfall der mit Flüssigmetall gekühlten Reaktoren wurde hier gelagert.

Radioaktive Verschmutzungs-
quellen im Meer

Ein nicht unbeträchtlicher Teil des anfallenden Nuklearmülls wurde als Folge der dargestellten Politik im Meer versenkt. Von 1959 bis 1991 versenkten die russische Marine und die russische Eisbrecherflotte festen und flüssigen Nuklearmüll, darunter auch Reaktorbestandteile und verbrauchte Brennelemente.7 Die Hauptversenkungsgebiete (siehe Grafik) befanden sich vor der Küste der Atomtestinsel Nowaja Semlja (1), in der Barentssee (2 und 3) und vor der Küste der Kola-Halbinsel (4 und 5).

Im Kara-Meer vor Novaja Semlja sollen 16 Reaktoren auf Grund liegen, darunter mindestens sechs, die noch Brennelemente enthalten. Insgesamt sollen ca.17.000 Atommüllcontainer mit flüssigem und anderem radioaktiven Müll vor der Insel ins Meer gekippt worden sein. Zwölf Atom-U-Boote und drei atombetriebene Eisbrecher wurden vor der Küste von Nowaja Semlja versenkt, ebenso wie 1964 die »N. Baumann«, die 1.500 bereits undichte Atommüll-Behälter geladen hatte.8 1984 wurden vom Eisbrecher »Lepse« weitere Atommüll-Container abgeworfen, die zunächst nicht sinken wollten. Mit Hilfe von Geschosssalven wurden sie undicht geschossen und zum Sinken gebracht. Die Container sollen jetzt in 200 Metern Tiefe liegen.

Im Hafen von Murmansk liegt die aus den 60er-Jahren stammende »Lepse«, die heute als Zwischenlager für ca. 630 zum Teil beschädigte Brennelemente dient. Da im Umfeld der »Lepse« bereits erhöhte Strahlenwerte im Meerwasser gemessen wurden, sind dringend Maßnahmen erforderlich, die eine Zunahme der Kontamination der Umwelt verhindern. Auf internationaler Ebene bemüht sich besonders Norwegen, nicht zuletzt aus Furcht vor einer radioaktiven Verseuchung der reichen Fischgründe in der Barentssee, in Kooperation mit der EU um eine schnelle Lösung für das Problem »Lepse«.

Neben dem Atommüll, der im Normalbetrieb der Flotte anfällt, entsteht eine erhebliche Verschmutzung durch Unfälle auf Atom-U-Booten oder bei den anfallenden Reparatur- und Wartungsarbeiten in den Werften.

Einer der bekanntesten Atom-U-Boot Unfälle ist der Fall der »Komsomolets«, die 1989 vor der norwegischen Bäreninsel sank. Die »Komsomolets«, die für das russische Militär als das sicherste und größte Jagd-U-Boot aller Zeiten galt, maß 122 Meter Länge und 12 Meter Breite und war 7.000 Tonnen schwer. An Bord sollen sich ein gerissener Reaktor mit zehn Tonnen leicht- und eineinhalb Tonnen hochangereichertem Uran sowie zwei korrodierende Torpedo-Sprengköpfe mit jeweils 25 Kilogramm Plutonium befinden. An der Stelle, wo die »Komsomolets« liegt, die sich in 1.700 Metern Tiefe auf dem untermeerischen Kontinalabhang befindet, gleiten ständig dichte Bodenwassermassen aus dem flachen Schelfmeer Barentssee in das ozeanische Tiefseebecken im Westen ab. Die Folgen für die Umwelt sind hier unabsehbar.

Zusammenfassung

Der U-Boot-Bau und der Betrieb der Nordmeerflotte waren und sind höchst risikoreich. In der Vergangenheit kam es immer wieder zu U-Boot-Havarien oder Zwischenfällen bei Wartungs- und Reparaturarbeiten. Trotz außer Dienst Stellung einer großen Zahl alter U-Boote im Rahmen von START I und II ist das Risiko nuklearer Unfälle nicht kleiner, sondern eher größer geworden. Hauptursache ist die schwierige ökonomische Situation Russlands, wovon auch die Unterhaltung der Nordmeerflotte, die gesamte Zulieferindustrie in der Region und die Zukunft einzelner Stützpunkte betroffen sind. Schlechter gewartete U-Boote, geringer qualifizierte Mannschaften und ein Mangel an zahlreichen Ausrüstungsgegenständen und Ersatzteilen erhöhen das Risiko für weitere Nuklearunfälle, ebenso wie die Zunahme von Streiks der Marineangehörigen oder Kurzschlusshandlungen Einzelner, die dem Sozialdruck nicht mehr gewachsen sind.

Aus ökonomischen und sicherheitstechnischen Gründen kann Russland sich die Nordmeerflotte in der bisherigen Größe nicht mehr leisten und müsste sie stillegen oder zumindest drastisch verkleinern, wesentlich stärker noch als es im Rahmen von START I und II seit 1989 bereits erfolgt ist.9

In Bezug auf das Problem des Nuklearmülls benötigt Russland internationale Unterstützung. Auf der Kola-Halbinsel sind alle Speicherungskapazitäten für festen und flüssigen Nuklearmüll sowie verbrauchte Brennstoffstäbe erschöpft und befinden sich zum Teil in einem technisch äußerst schlechten Zustand. Gleichzeitig wächst der Nuklearmüll durch den Betrieb der Flotte unaufhörlich weiter an. Nationale und internationale Maßnahmen sind dringend erforderlich, um weitere Nuklearverseuchungen oder Unfälle zu vermeiden. Diese werden zur Zeit stark behindert durch die Weigerung der Marine, unabhängigen ExpertInnen den Zugang zu besonders risikoreichen Orten wie Andreeva Bay oder Gremikha zu gewähren.

Klare Verifikationsmechanismen zur Kontrolle internationaler Vereinbarungen in Bezug auf die Lagerung oder Wiederaufbereitung militärischen Nuklearabfalls zwischen den Weltmächten sind notwendig, damit auch Russland an seiner überkommenen Geheimhaltung nicht länger festhält und unabhängigen ExpertInnen Zugang gewährt, um sich ein Bild vor Ort zu machen, und finanzielle Mittel zur Sicherung der Lebensgrundlage aller Menschen zur Verfügung stellt.

Ort Einrichtung Quellen für radioaktive Kontamination
Zapadnaya Litsa
Bolshaya,
Lopatka,
Nerpichya, Andreeva Bay
Militärbasis - 26 einsatzbereite Atom-U-Boote
- 1 stillgelegtes Atom-U-Boot mit Nuklearbrennstoff an Bord
- 1 stillgelegtes Atom-U-Boot ohne Nuklearbrennstoff
- 23.260 verbrauchte Brennelemente
- 2.000 m3 flüssiger Atommüll
- 6.000 m3 fester Atommüll
Vidyayevo Ura Bay Militärbasis - 4 einsatzbereite Atom-U-Boote
- 1 Reaktor der Nurka-Klasse
- 14 stillgelegte Atom-U-Boote mit Nuklearbrennstoff an Bord
- mind. 3 m3 flüssiger Atommüll
- fester Atommüll
Gadzhievo Skalisti Militärbasis - unbekannte Anzahl von Atom-U-Booten
- 200 m3 flüssiger Atommüll
- 2.037 m3 fester Atommüll
- gelegentlich: Versorgungsschiffe mit Nuklearbrennstoff
und flüssigem Atommüll an Bord
Saida Bay Lagerstätte - 12 U-Bootrümpfe mit ihren Reaktoren
Severomorsk Militärbasis - 2 nuklear angetriebene Zerstörer
Gremikha Militärbasis - einige einsatzbereite Atom-U-Boote
- 15 stillgelegte Atom-U-Boote
- 300 m3 fester Atommüll
- 2.000 m3 flüssiger Atommüll
- 795 verbrauchte Brennelemente
- 9 Reaktorkerne von Atom-U-Booten
mit Flüssigmetall gekühlten Reaktoren
Nerpa Schiffswerft - 2 Atom-U-Boote, die außer Dienst gestellt werden
- gelegentlich: Versorgungsschiffe mit verbrauchtem
Nuklearbrennstoff und flüssigem Atommüll
- 200 m3 fester Atommüll
- 170 m3 flüssiger Atommüll
Shkval
Polyarny
Schiffswerft - 1 Atom-U-Boot zur Instandsetzung / Wartung
- 1 Versorgungsschiff mit Nuklearbrennstoff an Bord
- 1 Versorgungsschiff mit flüssigem Atommüll an Bord
- 7 stillgelegte Atom-U-Boote mit Nuklearbrennstoff an Bord
- Lagerstätte für festen Nuklearmüll
- 150 m3 flüssiger Atommüll
Sevmorput Schiffswerft - 1 stillgelegtes Atom-U-Boot mit Nuklearbrennstoff an Bord
- 1 stillgelegtes Atom-U-Boot ohne Nuklearbrennstoff
- gelegentlich: Versorgerschiffe mit flüssigem Atommüll
- Lagerstätte für festen Atommüll
Severodvinsk Schiffswerft - 12.539m3 fester Atommüll
- 3.000 m3 flüssiger Atommüll
- 4 Atom-U-Boote zur Instandsetzung / Wartung
- 12 stillgelegte Atom-U-Boote mit Nuklearbrennstoff an Bord
- 4 Reaktorblöcke von außer Dienst gestellten Atom-U-Booten
Überblick über den Nuklearmüll in den Militärbasen der Nordmeerflotte. (Quelle: Nilsen, Thomas / Kudrik, Igor / Nikitin, Alexandr (1996): The Russian Northern Fleet. Sources of Radioactive Contamination – a short summary and presentation of the Bellona report.)
Versenkungsgebiete im Meer
(Bildquelle: www.bellona.no)

Anmerkungen

1) Nordischer Ministerrat, Nr. 1, 1998, S. 3.

2) Die Bellona-Stiftung ist eine unabhängige Umweltorganisation, die 1986 in Norwegen gegründet wurde. Zu den Zielen von Bellona zählt es, Probleme der Umweltverschmutzung, der Degradation und umweltbedingte Gefahren für die menschliche Gesundheit zu bekämpfen. Die Organisation bemüht sich die Öffentlichkeit in umfassender Weise über Umweltprobleme und daraus resultierende Gefahren zu informieren. Mit ihrem 1996 erschienenen Bericht, dem »Bellona-Report«, hat die Organisation wesentlich dazu beigetragen, auf die Probleme in Nordwestrussland aufmerksam zu machen. Der vorliegende Text stützt sich weitgehend auf Angaben des Bellona-Reports: The Northern Fleet.

3) Nordmeerflotte, ARTE, 28.10.1999.

4) Nilsen, Thomas / Kudrik, Igor / Nikitin, Alexandr (1996): The Russian Northern Fleet. Sources of Radioactive Contamination, Bellona-Report, Kapitel 1: The Northern Fleet, http://www.bellona.no/e/russia/nfl/nfl1.htm

5) Nach Angaben von Bellona verfügt die Nordmeerflotte über insgesamt 339 Reaktoren. Baklanov und Bergmann (1999) geben ca. 296 Reaktoren an für 2 Schlachtschiffe und insgesamt 154 Atom-U-Boote, wobei sie sowohl die in Betrieb befindlichen als auch die außer Dienst gestellten Boote berücksichtigen. Ferner geben sie an, die Nordmeerflotte verfüge über 8 nuklear angetriebene Eisbrecher und 5 Schiffe seien mit nuklearem Abfall beladen. (Baklanov, Alexander / Bergmann, Ronny (1999): Radioactive Sources in the Barents Euro-Arctic Region. Are there reasons to be concerned?, NEBI Yearbook 1999. Springer Verlag, Copenhagen, S. 172.

6) Zwei weitere befinden sich bei Krasnoyarsk und Tomsk.

7) Official Documentation and Information from Norway ODIN (1998): The Norwegian Ministry of Environment, »Radioactive pollution in northern ocean areas«, http://odin.dep.no/html/english/publ.html

8) ODIN, a.a.O; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Juli 1992.

9) Nach Angaben von Bellona waren 1989 noch 196 Atom-U-Boote im Einsatz (Nord- und Pazifikflotte gemeinsam), 1996 nur noch 109, davon 67 bei der Nordmeerflotte. Bis zum Jahr 2003 soll die Gesamtzahl auf 80 reduziert werden, Bellona-Report, Introduction, 1996.

Dr. Ulrike Kronfeld-Goharani ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Schleswig-Holsteinischen Institut für Friedenswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/2 Russland – Zerfall einer Supermacht, Seite