Die politische Konstruktion Jugoslawiens
von Nenad Zakošek
Westlichen Beobachtern mag die jugoslawische Wirklichkeit als ein hoffnungsloser, enttäuschender Sonderfall vorkommen. Aus der Perspektive epochaler Umwälzungen in den Gesellschaften des realen Sozialismus und hoher demokratischer Erwartungen, die die osteuropäischen »sanften Revolutionen« geweckt haben, erscheint das jugoslawische Chaos als ein zivilisatorischer Rückschritt, als eine schwer verständliche Explosion separatistischer Nationalismen, die eine liberale und demokratische Lösung der Krise der realsozialistischen Gesellschaft verhindern.
Wo es um die Überwindung fundamentaler sozialer und wirtschaftlicher Probleme geht, die die ruinierten realsozialischen Regime hinterließen, um Aufgaben also, die man nur im Rahmen eines »gemeinsamen europäischen Hauses« bewältigen zu können glaubt, werden auf dem Balkan obsolete Kämpfe um die Verwirklichung nationalstaatlicher Konzeptionen ausgetragen, die ins 19. und nicht ins 21. Jahrhundert gehören. Eine solche libertär-demokratische Auffassung macht es sich allerdings zu einfach (diese Art von Simplifizierung haben – bezeichnenderweise – schon Marx und Engels in ihrer Einschätzung der revolutionären Ereignisse von 1848 in der Habsburger Monarchie demonstriert). Der Zerfall Jugoslawiens ist nicht einfach das Ergebnis irrsinniger politischer Strategien exotischer Nationalisten, größenwahnsinniger Separatisten und nationalistisch verführter Massen. Er ist vielmehr und vor allem eine Folge fundamentaler Fehler in der politischen Konstruktion des jugoslawischen Staates (die allerdings in der Tat auch die vorhin genannten Phänomene produzieren).
Jugoslawien hat sich niemals wirklich als ein Staat konstituiert
Es ist ein Faktum, daß sich Jugoslawien in seiner siebzigjährigen Geschichte niemals wirklich als ein Staat konstitutiert hat, zumindest nicht im Sinne der modernen europäischen politischen Tradition. Fürwahr: Vom Standpunkt der Realpolitik, des pragmatischen Völkerrechts, aber auch der marxistischen instrumentellen Auffassung des Staates als eines »Gewaltapparates« ist Staat ein jeder Herrschaftsverband, der lange genug effektive Kontrolle über ein Territorium (und seine Bevölkerung) ausübt, um von anderen ihm ähnlichen völkerrechtlichen Subjekten als solches anerkannt zu werden. Worauf diese Kontrolle gegründet ist, ist von zweitrangiger Bedeutung. Ganz im Gegenteil dazu ist für die innere, politische Sicht das Verhältnis von Bürgern und Herrschaftsgewalt entscheidend. Die gesamte moderne europäische politische Philosophie seit Locke und Rousseau denkt den Staat als politische Gemeinschaft oder Vereinigung seiner Bürger, die auf dem freien Willen und gegenseitiger Verbundenheit der Bürger beruht (womit sie ihrerseits auf die spezifisch moderne Weise die antike Formel der Polis bzw. Civitas wiederholt). Worin kann aber dieser Wille und die Verbundenheit der Bürger begründet sein? Ist es nur – wie Hobbes dachte – die rationale Einsicht, daß man ohne den Rahmen eines souveränen Staates nicht zivilisiert leben kann, sondern in einen »Kriege aller gegen alle« zurückfällt? Es war Hegel, der zeigen zu können glaubte, daß eben nicht jede Bürgervereinigung sich als Staat konstituieren kann, sondern vielmehr nur die politische Gemeinschaft der Bürger, die auf einer durch Tradition präparierten sittlich-kulturellen Grundlage eines Volkes beruht.
Die Geschichte westeuropäischer Staaten zeugt von der Richtigkeit dieser Auffassung. Alle modernen Staaten konstituierten die geistige Unterlage des bürgerlichen Gemeinsinns durch langandauernde und oft widersprüchliche Prozesse nationaler Integration und Demokratisierung. In den meisten früh entstandenen europäischen Nationalstaaten wie Frankreich, England oder Spanien ging die Bildung zentralstaatlicher Gewalt im Absolutismus der Entwicklung ziviler politischer und kultureller Verbindungen unter den Bürgern voraus. Aber nationalintegrative Prozesse waren immer eine notwendige Ergänzung der absolutistischen Integration: Die Entstehung einer nationalen Sprache, der Aufbau eines allumfassenden Bildungssystems und die Entwicklung der bürgerlichen Öffentlichkeit formierten die geistig-kulturelle Grundlage der politischen Integration, die für die letztere nicht minder wichtig war als die wirtschaftliche, rechtliche und administrative Unifizierung und Integration des Staates. Dieser Verlauf der nationalen Integration machte es möglich, daß durch die Konstituierung demokratischer politischer lnstitutionen im 19. und 20. Jahrhundert die quasi-natürliche ethnische Gemeinsamkeit von der nationalen politischen Gemeinschaft getrennt wurde: Die letztere wurde durch – dem Anspruch und der Tendenz nach – allgemeine, unparteiische und universalistische Institutionen vermittelt. Unter diesen Bedingungen war es möglich, daß das Nebeneinander von majoritären und minoritären kulturellen, ethnischen oder religiösen Gemeinschaften durch eine allumfassende politische Gemeinsamkeit der Bürger überwölbt wurde: Die prägnantesten Beispiele dafür sind etwa die Vereinigten Staaten von Amerika oder die Schweiz. Darüber hinaus ermöglichte die Demokratisierung dieser bürgerlichen Nationalstaaten nicht nur die Pazifikation ethnischer oder religiöser Konflikte, sondem auch die Einbeziehung aller sozialen Klassen in die demokratische politische Gemeinschaft.
Im Gegensatz zu diesem Muster nationaler und politischer Integration in Westeuropa – und Amerika gehört historisch dazu – ist der mitteleuropäische und balkanische Raum durch »verspätete Nationen« und »verspätete Nationalstaaten« charakterisiert. Man kann in gewissem Sinne sagen, daß die Konstituierungsprozesse der Nationen und der bürgerlichen politischen Gemeinschaften als auch ihre Demokratisierung »defekt« blieben. Hier ging die nationale Integration in der Regel der staatlichen Konstituierung voraus, so daß die Nation als eine Kategorie erlebt wird, die eher durch Tradition und Kultur als durch Politik bestimmt ist: Dadurch erhält sie eine quasi-natürliche »schicksalhafte« Qualität, die keine Verbindung hat zu universalistischen Institutionen und öffentlichen Arenen des Konflikts und politischer Intermediation. Diese Variante nationaler Integration ist daher auch demokratisch defizient: Statt einer breiten zivilen Sphäre und demokratischer Einbeziehung aller sozialen Klassen fördern sie autoritäre politische Solutionen.
Der erste jugoslawische Staat – die ideologische Zwangsvereinheitlichung
Gerade eine solch defiziente nationale und politische Integration war zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Lage südosteuropäischer Völker, die das heutige Jugoslawien bilden, charakteristisch. Das gilt auch für die zwei südslawischen Völker, die in dieser Region die am meisten entwickelten politischen Institutionen hatten Kroaten und Serben innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie als auch Serben im jungen serbischen Staat. In noch größerem Maße gilt dies für andere Völker, die in den jugoslawischen Staat einbezogen wurden. Aus dieser Situation der unvollendeten nationalstaatlichen Konstituierung heraus wurden konkurrierende, zum Teil aber auch komplementäre, nationale Programme der Kroaten, Serben und anderer südslawischer Völker formuliert. Diese Programme führten 1918 zur Formierung des ersten jugoslawischen Staates. In dem neuen Staat stellte sich aber heraus, daß unter dem Deckmantel der jugoslawisch-integralistischen Ideologie (die auch als jugoslawischer Unitarismus apostrophiert wird) eigentlich das großserbische nationalstaatliche Programm verwirklicht wurde. Unrealisiert blieben die nationalintegrativen und staatskonstituierenden Programme der Kroaten, Slowenen und anderer Völker im neuen Staat (wobei man bemerken muß, daß die Ideologie des jugoslawischen Integralismus auch die Vollendung der serbischen nationalen Integration behinderte). Gerade das war der fundamentale Konstruktionsfehler des ersten jugoslawischen Staates: Die ideologische Zwangsvereinheitlichung innerhalb eines zentralistisch organisierten staatlichen Rahmens hat es unmöglich gemacht, das »erste Jugoslawien« als die politische Gemeinschaft seiner Bürger aufzubauen. Dieser Konstruktionsfehler führte schließlich zum Zerfall des jugoslawischen Staates.
Pseudoföderalismus sowjetischen Typs nach 1945 – das »zweite Jugoslawien«
Die politische Konstruktion des »zweiten Jugoslawiens« von l945 beruhte auf dem Pseudoföderalismus sowjetischen Typs und auf der Ideologie des sozialistischen jugoslawischen Patriotismus. Diese ideologische Konstruktion gründete die politische Integration des jugoslawischen Raumes auf dem Mythos von der »natürlichen« Verbundenheit und Solidarität südslawischer Völker (was schon automatisch die ideologische Ausgrenzung der nichtslawischen Kosovo-Albaner implizierte), auf der »Klassensolidarität« des jugoslawischen Proletariats und auf dem Kult des charismatischen Staatsgründers und Einheitsstifters Tito. Die 45jährige Nachkriegsgeschichte Jugoslawiens hat erneut gezeigt, daß eine derartige ideologische Begründung des Staates – neben dem realen Repressionsapparat, der ihn ebenfalls zusammenhielt – die wirkliche politische Integration verhindert, weil sie nicht die Konstituierung einer politischen Gemeinschaft der Bürger ermöglicht. Mit dem Zerfall dieses realsozialistischen ideologischen Rahmens zerbrach erneut auch die politische Konstruktion Jugoslawiens. Es ist genau dieser Prozeß, dessen Zeugen wir heute sind: Die Sezessionsbewegungen, die nationalistischen Konflikte, die Zusammenstöße der noch verbliebenen zentralistischen und angewachsenen zentrifugalen Kräfte. Die Zerfallsprozesse der letzten Jahre haben auch deutlich die Brüchigkeit der erwähnten ideologischen Konstruktion gezeigt: Neben einer verschwindenden Minderheit von Intellektuellen betrachten heute Jugoslawien als »ihren Staat« nur noch die Überreste des zentralen realsozialistischen Apparats – die Armeeführung und seine kürzlich ins Leben gerufene neostalinistische Partei – und die Anhänger des extremen serbischen Nationalismus von Slobodan Milosevic. Aber wenn dem so ist, dann ist das »zweite Jugoslawien« im modernen Sinne eben ein Pseudostaat.
Konstituierung der Republiken innerhalb ihrer bestehenden Grenzen
Welche Konsequenz ergibt sich aus dieser Einsicht? Vor allem dies, daß eben die politische Konstruktion Jugoslawien ein abgeleitetes Problem ist. Diese Konstruktion ist nicht möglich ohne eine zivilisierte Vollendung der nationalen und politischen Integration – also gewissermaßen der politischen Subjektivierung – aller jugoslawischen Völker. Daraus leite ich auch meine erste These ab: Soll es eine liberal-demokratische Konstruktion Jugoslawien geben, im Sinne der Prinzipien, die für das »gemeinsame europäische Haus« gelten sollten, so setzt das voraus, daß sich die bestehenden jugoslawischen Republiken – und zwar innerhalb ihrer bestehenden Grenzen – als politische Gemeinschaften ihrer Bürger konstituieren. Die Grenzen sollten in ihrer jetzigen Form nicht nur deswegen anerkannt werden, weil sie zum Teil sehr lange historisch verankert sind (gerade die zur Zeit am meisten umkämpfte kroatisch-bosnische Grenze, wo sich auch die serbische »Kraina« befindet, ist mehr als zweihundert Jahre alt), sondern noch mehr deswegen, weil gewaltsame Veränderungen von Grenzen – wohlgemerkt: in national gemischten Gebieten – die Möglichkeit des politischen Gemeinsinns verschiedener nationaler Gruppen destruieren. Erst auf der Grundlage einer solchen Konstituierung der bestehenden Republiken könnte Jugoslawien durch freiwillige Vereinigung von unten integriert werden – eine Vereinigung, die auf ökonomischem Interesse und politischem Willen beruht (also den gleichen Prinzipien, die die Integration Europas begründen).
Kann man aber sinnvollerweise erwarten, daß die bestehenden Republiken als politische Gemeinschaften ihrer Bürger konstituiert werden – besonders angesichts der Tatsache, daß keine von ihnen national homogen ist? Hierzu meine zweite These:
Die föderalistische Vereinigung der Republik – Abkehr von den nationalen Mythen
Die Konstituierung der Republiken als Nationalstaaten – gerade jener der zwei größten Völker, Serben und Kroaten – müßte auf dem liberalen Prinzip der föderalistischen Vereinigung beruhen. Ich bin überzeugt, daß Serbien und Kroatien – wie auch alle anderen jugoslawischen Republiken außer Slowenien – wegen ihrer regionalen und ethnischen Heterogenität nur als föderalistisch, zusammengesetzte Staaten zu politischen Gemeinschaften ihrer Bürger werden können. Ohne eine solche föderalistische Struktur (die leider von der jetzt dominierenden nationalistischen Partei völlig außer Acht gelassen wird), kann Kroation offensichtlich nicht seine historisch gewachsenen Regionen und die serbische Minderheit politisch integrieren. Für Serbien gilt das sogar noch mehr (auch wenn seine jetzigen Machthaber es heftig ablehnen): Denn wie sonst kann man sich die freiwillige und gleichberechtigte Integration jener Albaner, Ungarn, Moslems und Kroaten denken, die ein Drittel seiner Bürger ausmachen?
Der Staat setzt als politische Gemeinschaft politisches Vertrauen und einen Grundkonsens voraus, der alle seine Bürger zu integrieren vermag. Dies ist keineswegs eine libertäre Utopie, sondem eine fundamentale Voraussetzung des modernen demokratischen Staates. Erst auf dieser Grundlage wird Demokratie überhaupt möglich: als der Wettbewerb politischer Parteien, die Anwendung der Mehrheitsregel, die Anerkennung gemeinsamer politischer und rechtlicher Institutionen. Ohne diese Voraussetzung erstickt die Demokratie in ständiger Mobilisierung homogener nationaler Gruppen und Konfrontation ihrer nationalen Programme. Aber kann eine solche politische Lösung in Jugoslawien durchgesetzt werden? Ja, der erste Schritt dazu wäre schon die Abkehr von dem jugoslawischen Mythos (um Jugoslawien als eine freiwillige Interessengemeinschaft zu gewinnen). Der zweite Schritt würde aber verlangen, daß man sich auch von den nationalen Mythen abwendet, die in ihrer größenwahnsinnigen Gewaltsamkeit gegen andere auch die eigene zivilisierte Zukunft zerstören. Die Schlüsselfrage, die mich existenziell berührt, aber auf die ich keine Antwort habe, heißt: Gelingt diese Abwendung vor dem Krieg oder erst danach?
Nenad Zakošek ist Politikwissenschaftler, er lebt in Zagreb (Kroatien). Sein Beitrag entnahmen wir den Stachligen Argumenten, Sept. 91, Zeitschrift der Grünen/AL Berlin.