W&F 2020/3

Die politischen Facetten des Sports

Zwischen Herrschaft und Emanzipation

von Tim Bausch

Der nachfolgende Beitrag thematisiert die politischen Implikationen des Sports. Die damit einhergehende Perspektive wählt die Termini »Herrschaft« und »Widerstand« als begriffliches Fundament. Verschiedene Beispiele, aus ganz unterschiedlichen Sportarten, dienen der Illustration. So wird deutlich, dass Sport sowohl eine Arena mächtiger Interessen als auch widerständiger Praktiken sein kann.

Für viele Menschen ist Sport, vor allem Sportkonsum (etwa bei Fernsehübertragungen und Stadionbesuchen), in erster Linie eine Frage des Vergnügens. Sport dient der Unterhaltung, lässt uns (mit-) fiebern und staunen. Identifikation ist hier ein wesentlicher Mechanismus. Bei den Berg­etappen des Radsportprofis Jan Ulrich, so würde manch einer behaupten, brannten die Oberschenkel einer ganzen Nation. Ich kehre zu diesem Umstand an späterer Stelle zurück. Für andere wiederum ist der Besuch im Fußballstadion eine Weltflucht. Hier können die Fans ihrem Alltag entweichen, hier kann man ein (anderer) Mensch sein.

Vor diesem Hintergrund ist die Verbindung von Sport und Politik für die meisten Menschen vor allem eins: lästig. Sport sei Sport und Politik sei Politik. So setzt sich eine romantische Vorstellung des modernen Sports fest, die nicht getrübt werden möchte. Etwaige politische Verflechtungen werden systematisch ausgeklammert. Doch bei genauerer Betrachtung kommen vielfach politische Implikationen zum Vorschein. Das eingangs skizzierte romantische Bild, Sport als pure Unterhaltung, bekommt einen Beigeschmack. Sport, so die grundlegende Annahme meines Beitrages, ist ein Teilsystem des Gesellschaftlichen und kann über sozio-politische Dynamiken nicht einfach hinwegsehen. Sport, insbesondere der so genannte Breitensport, ist ein sozialer Spiegel und eben kein illusorischer Fluchtraum.

Nun ist das thematische Feld, das damit eröffnet wird, riesig, und die politischen Facetten des Sports können schwerlich in einem einzelnen Artikel beleuchtet werden. Daher nutze ich im Folgenden zwei Begriffe, die meine Betrachtung sowohl stützen als auch eingrenzen: Ich rekonstruiere die politischen Implikationen des Sports unter den Aspekten von Widerstand und Herrschaft. Darunter verstehe ich institutionalisierte Über- und Unterordnungsverhältnisse (Herrschaft) und Formen und Praktiken, die solche Asymmetrien sichtbar machen und herausfordern (Widerstand). Als thematischer Aufhänger dienen die aktuellen antirassistischen Proteste, insbesondere jene, die mit der Bewegung »Black Lives Matter« in Verbindung stehen.

Der Artikel verfolgt im Wesentlichen das Ziel, das eingangs skizzierte romantische Bild zu demaskieren, und zeigt auf, wieso und weshalb Sport eine geeignete Arena für widerständige Praktiken ist. Die Mixtur von Politik und Sport ist offensichtlich unbequem, aber gerade deswegen so effektiv und sinnig. Doch wie lässt sich diese Ambivalenz erklären?

„I can’t breathe!“ – die Sportwelt kniet

Am 25. Mai 2020 wurde der Afroamerikaner George Floyd während einer Polizeikontrolle ermordet. Die Umstände mögen noch nicht vollumfänglich aufgeklärt sein, und die Gerichtsverhandlung steht erst noch bevor. Dennoch verwende ich bewusst die Formulierung »Mord«. Fakt ist, dass George Floyd unmissverständlich seine Luftnot kommunizierte, während der Polizeibeamte Derek Michael Chauvin, der lebensgefährlichen Situation zum Trotz, minutenlang sein Knie auf den Hals von George Floyd drückte. Chauvins Polizeikollegen schauten dem Ersticken George Floyds zu, ohne mäßigend einzugreifen.

Am Tode George Floyds entzündete sich eine anhaltende Protestwelle gegen Polizeigewalt und Rassismus. Die Proteste erreichten auch den Sport, unter anderem American Football, Basketball und den europäischen Fußball. So gingen etwa Spieler von Borussia Dortmund und Hertha BSC einvernehmlich in den Kniefall. Diese Form des Protestes ist in der Welt des Sports kein neues Phänomen, sondern hat bereits Tradition. Im Jahr 2016 ging der damalige Quarterback Colin Kaepernick (American Football) während der Nationalhymne in die Knie. Andere taten es ihm gleich, was US-Präsident Donald Trump höchst erzürnte – auch dazu an späterer Stelle mehr. Unvergessen sind auch die afroamerikanischen Sprinter Tommi Smith und John Carlos, die sich bei den olympischen Spielen 1968 in Mexico City mit erhobener Faust für die Bürgerrechte Schwarzer Menschen einsetzten. Schon dieser Protest erhitzte die Gemüter. Schauen wir uns also zunächst an, wieso derartige Protestformen solch hohe Wellen schlagen.

Sport, Disziplinierung und Momente der Emanzipation

Bringt man im Kontext des Sports den Terminus »Disziplin« ins Spiel, denken die meisten an einen Überbegriff für spezifische Wettkampfarten. Doch hat das Wort Disziplin im Sport noch eine weitere, oftmals weniger beachtete Bedeutung: Sport übt Disziplinierung aus.

Jede Sportart lebt von klaren Regeln. Sport ist ein Regime, das festlegt, was richtig ist und was falsch. Hinzu kommen Normen, die häufig implizit wirken. Ein naheliegendes Beispiel ist die Vorbildfunktion, die von Sportler*innen erwartet wird. Ein anderer normativer Aspekt, der weit seltener öffentlich verhandelt wird, ist die Heteronormativität im (Herren-) Fußball. Kurz, Sport ist ein Regelungs- und Ordnungssystem, das sowohl subtil als auch manifest die betreffenden Strukturen und Prozesse reguliert.

Das Wort »Regime« ist dem lateinischen Wort »regimen« entlehnt, das mit Leitung bzw. Lenkung, aber auch mit Herrschaft übersetzt werden kann. Erst durch diese regulative Dimension ergibt sich die widerständige Möglichkeit einer Kontrastierung. Handelt ein*e Sportler*in entgegen den Konventionen, erzeugt er*sie unweigerlich Aufmerksamkeit. Jeder »Stolperer« bringt die Liturgie des Sportereignisses für einen kurzen Moment aus dem Takt. Besondere dramaturgische »Fenster« sind die unmittelbaren Momente vor und nach dem Spiel. Hinzu kommt der Aspekt des Zeremoniellen, etwa das Einlaufen der Mannschaften, der Anpfiff, das Singen der Nationalhymne, die Siegerehrung etc. Auch hier tritt die Disziplinierung zutage, denn der*die Sportler*in ist Teil eines größeren Ganzen und soll eine gewisse Demut zeigen. Mit Verstößen gegen das Protokoll, wie von Colin Kaepernick, Tommi Smith, John Carlos und anderen praktiziert, emanzipieren sich die Sportler*innen für einen nachhaltigen Augenblick von dem Regime des Sports. Nachhaltig ist dieser Augenblick, weil ikonische Momente gerade im Profisport immer auch medial rezipiert werden.

Die Medialität des Sports

„Sport ist das wohl effektivste Kommunikationsmedium in der modernen Welt. Er umgeht die verbale oder schriftliche Kommunikation und erreicht ohne Umwege Milliarden Menschen weltweit.“ (Mandela in Maguire 2005)

Die von Nelson Mandela angesprochene globale Reichweite des Sports hat konzeptuelle Implikationen. Sport, hier in seiner kommunikativen Dimension verstanden, prägt soziale Wirklichkeit. Dabei funktioniert Sport im Wesentlichen über Bilder. Im Englischen wird dabei zwischen Pictures und Images unterschieden. Während »Pictures« materialisierte Bilder meint, verweist »Images« auf unsere innere Vorstellungswelt, die eben oftmals bildhaft ist. Die Begriffe verhalten sich ko-konstitutiv zueinander. So führen die unzähligen Bilder (Pictures) des Eifelturms unweigerlich dazu, dass dieser auch unsere innere Vorstellungswelt (Images) dominiert. Schließen wir die Augen und stellen uns Paris vor, wird zumindest bei den meisten der Eifelturm eine Rolle spielen.

Das »Sommermärchen« der Fußballweltmeisterschaft 2006 war auch ein Akt der Imagebildung. Die Welt war, so das Motto der Wochen, »zu Gast bei Freunden«. Deutschland bekam die Gelegenheit, eine offene und tolerante Gesellschaft zu präsentieren. Dass keine zehn Jahre später große Teile derselben Gesellschaft im Kontext von Flucht und Migration rassistische Denkweisen offenlegen, ist zynisch zu verzeichnen. Imagebildung dient aber nicht dem Faktischen, sondern der (politischen) Inszenierung. Sport trägt also zur Konstruktion der Wirklichkeit bei und kann durchaus für eine politische Agenda vereinnahmt werden.

Auch kulturelle Aneignungen, wie sie beispielweise in der National Football League zu finden sind, können brisante Folgen haben. Die »Washington Red­skins«, ein amerikanisches Football-Team, musste sich jahrelang den Vorwurf des Rassismus gefallen lassen. Selbst eigene Spieler machten auf das problematische Logo des Vereins, einen karikierten Indianer, aufmerksam (Tagesspiegel 2020). Auch der Name »Redskins« (Rothäute) wurde als rassistisch und abwertend kritisiert. Durch die Medialität des Sports und die damit verbundene Reichweite werden Rassismen häufig normalisiert, in diesem Fall war der Protest aber nicht einzudämmen. Mitte Juli teilte der Verein mit, er habe Namen und Logo aufgegeben (Washington Football Team 2020).

Die Medialität des Sports eröffnet also Raum für Images und gleichermaßen für machtvolle Inszenierungen. Dazu nun mehr.

Brot, Spiele und Inszenierungen

Fußballweltmeisterschaft 2018. Moskauer Luschniki-Stadion. Der französische Präsident sorgt für einen ikonischen Augenblick. Im Endspiel zwischen Frankreich und Kroatien kommt es zu einem französischen Jubelmoment. Emmanuel Macron verlässt seinen Platz auf der Ehrentribüne und setzt seine Freude mit vollem Körpereinsatz in Szene. Das Foto, das um die Welt ging, wurde vom Alexei Nikolsky, einem russischen Fotografen, aufgenommen. Wie spontan und natürlich dieser Jubel war, mag dahingestellt sein. Kaum zu bezweifeln ist, dass Macron sich seiner medialen Aufmerksamkeit bewusst gewesen sein dürfte. Die Szene verdeutlicht: Sportgroßveranstaltungen sind ein glamouröses Parkett, das sich zur Vermarktung der eigenen Person anbietet: Macron, der agile Performer, jung, dynamisch und am Puls der Zeit.

Insbesondere autoritäre Regime, wie die Volksrepublik China und die Russische Föderation, nutzen diesen Umstand, um sich in ein günstiges Licht zu stellen und die realen politischen Verhältnisse schönzufärben. Ein besonders tragisches Beispiel sind die olympischen Spiele 1936 im Deutschen Reich. Nazideutschland konnte sich damals, trotz Kritik von verschiedenster Seite, weltpolitisch inszenieren. Darüber hinaus sind solche Veranstaltungen ein innenpolitisches Kapital, das die eigene Machposition stärkt. Dieses innenpolitische Kapital ist gleichermaßen ökonomischer (bspw. Tourismus) und symbolischer Art (bspw. Überhöhung der kollektiven Identität). Gleichwohl regt sich bei solchen Großveranstaltungen auch vermehrt Widerstand, wie die Kritik an der Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar verdeutlicht. Human Rights Watch (2018), amnesty international (o.D.) und andere Organisationen äußern nachdrücklich Bedenken, verweisen auf die gravierende Missachtung von Menschenrechten und nehmen dabei auch die Sportfunktionäre in die Pflicht.

Schlussbemerkung

Mit der Idee des modernen Sports sind viele humanistische Werte, wie Teamgeist und Fairness, verbunden. Dies verweist auf die gesellschaftspolitische Funktion des Sports. Dabei ist Sport als Kräftefeld zu verstehen. Die Einflussnahme kann von verschiedensten Seiten kommen. Durch die Kommerzialisierung des Sports wirken häufig wirtschaftliche und politische Interessen, die eher eine Gewinnmaximierung denn eine Gemeinwohlorientierung verfolgen. Gerade durch diesen Widerspruch ist (antirassistischer) Widerstand im Sport so effektiv. Dabei wird die Liturgie des Gewöhnlichen durchbrochen, was von den einen als Störung der Ordnung, von anderen als legitimer Protest wahrgenommen wird. So oder so ist Protest im Sport ein Garant für mediale Aufmerksamkeit.

„Mit großer Macht kommt große Verantwortung“, spricht Spider-Man. Was zunächst irritieren mag, trifft auf den zweiten Blick auch auf Profisportler*innen zu.

Aber zurück zum Anfang: Ich zeigte auf, dass für die Begeisterung beim Sport Identifikation ein wesentlicher Mechanismus ist. Sportler*innen sind Held*innen, diese Aussage ist gleichzeitig überspitzt und wahr. Natürlich haben Profisportler*innen keine Superkräfte, sind einfach Menschen, doch mit ihrer Leistung verrücken sie die Grenzen des Machbaren. In diesem Sinne sind Sportler*innen durchaus Personen mit einer heldenhaften Strahlkraft. Daraus entwächst Verantwortung. Sportler*innen erreichen mit ihren Botschaften möglicherweise mehr Menschen als viele Politiker*innen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Sportler*innen mehr Mensch denn Technokrat*innen sind. Sportler*innen fluchen, weinen und flachsen. Mit anderen Worten: Sportler*innen haben eine authentische Aura – und stehen auch deswegen in der Verantwortung, humanistische Werte hochzuhalten. (Dies gilt im Übrigen auch, weil Sportförderung unter anderem aus öffentlichen Geldern kommt und allein deshalb Sport keinem Selbstzweck dienen darf.)

Ich gebe zu, mein Einstieg, Sport sei für die meisten Menschen Sport und eben nicht Politik, war etwas polemisch. Dies mögen mir die Lesenden nachsehen, diente diese Polemik doch der argumentativen Zuspitzung. Der Redlichkeit halber folgen nun ein paar Lichtblicke:

Viele Sportvereine, gerade auch kleinere, sind sich ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung sehr bewusst. So setzt sich der Fußballverein »Carl Zeiss Jena« in Kooperation mit der Umweltorganisation Sea Shepherd für den Schutz der Meere und der Meeresbewohner ein. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat sich bereits an vielen antirassistischen Kampagnen beteiligt. Und als der rechtsextreme Politiker Alexander Gauland (AfD) den Fußballspieler Jérôme Boateng aufgrund seiner Hautfarbe diskriminierte, ließ das Echo nicht lange auf sich warten. PolitikerInnen fast aller Parteien und Fußballspieler fast aller Mannschaften zeigten sich solidarisch mit Jérôme Boateng. Andererseits ist Jérôme Boateng beliebt. Die Kritik an Mesut Özil, die bei seiner Ablichtung mit dem türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdogan aufkam, war vielfach mit Rassismen gespickt (Stichwort: Özil Ölauge). Mesut Özil ist nicht unbedingt »everybody‘s darling«. Das schmälert den Optimismus, der bei der Causa Boateng aufblühte.

So wirft die Welt des Sports Licht und Schatten zugleich. Sport ist, als Teilsystem des Gesellschaftlichen, ein ambivalentes politisches Kräftefeld. Dieser Umstand stützt die argumentative Stoßrichtung meines Beitrages: Politische Manifestationen im Sport stellen keine Entfremdung dar, vielmehr ist die synthetische Trennung von Sport und Politik die eigentliche Entfremdung.

Literatur

amnesty interational (o.D.): Qatar World Cup of Shame – Migrants building a state-of-the-art stadium for the 2022 football World Cup in Qatar are abused and exploited – while FIFA makes huge profits.

Human Rights Watch (2018): Qatar: Censor­ship Ignores Rights, FIFA Rules – 2022 World Cup Host Should Reform Anti-LGBT Laws. 3.8.2018.

Maguire, J. (2005): Power and Global Sport – Zones of prestige, emulation and resistance. London/New York: Routledge.

Tagesspiegel (2020): Washington Redskins und Cleveland Indians – Trump gegen „Namens­änderung, nur um politisch korrekt zu sein“. 7.7.2020.

Washington Football Team (2020): „We’re retiring our old name – and building a new kind of team. For the upcoming season, we’re calling ourselves the Washington Football Team.“

Tim Bausch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehrstuhles für Internationale Beziehungen an der Universität Jena. In seinem Disserationsprojekt arbeitet er zu ästhetischen Widerstandsformen vor dem Hintergrund spezifischer Herrschaftsformen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/3 Der kranke Planet, Seite 39–41