W&F 2000/2

Die russische Militärreform

von Karl Harms

Die Notwendigkeit einer Reformierung des gigantischen russischen Militärapparats wurde bereits zu tiefsten Sowjetzeiten erkannt, seit dem Beginn der Perestroika heftig diskutiert, dann aber auf Grund der chaotischen Zustände im Lande und eines sich rasch verändernden politischen Umfelds – mehr von der Not getrieben, als von einem klaren Konzept – mal zögerlich, mal sprunghaft in die Tat umgesetzt. Der Hauptwiderspruch aller Reformbemühungen besteht von Anfang an in der Tatsache, dass sich Russland keine Riesenarmee mehr leisten will, dem Staat aber die Mittel für eine ausgewogene und planvolle Reform fehlen.

Bei einer näheren Betrachtung des bisherigen Verlaufs der russischen Militärreform lassen sich in etwa folgende Etappen feststellen:

  • Die erste Etappe begann ungefähr 1987 (Beginn der öffentlichen Diskussion über eine Militärreform). Die Anfänge der Reform erlitten schon bald schwere Rückschläge durch die Auflösung des Warschauer Vertrages, den unvorbereiteten Rückzug der Sowjetarmee aus den osteuropäischen Staaten, den Zerfall der Sowjetunion u.a.m. Diese Etappe kann als die Etappe des chaotischen Niedergangs der Streitkräfte und der Rüstungsindustrie bezeichnet werden.
  • Die zweite Etappe begann 1997, dem Jahr, in dem der neu gebildete Verteidigungsrat schmerzhafte Rahmenbedingungen für die Reform festlegte, die nicht von Wunschträumen, sondern von dem tatsächlichen Zustand der Wirtschaft und der Staatsfinanzen ausgingen. Diese Etappe kann man als den Versuch werten, Ordnung in den chaotischen Niedergang zu bringen, wenige machbare Reformschwerpunkte zu bestimmen und auch durchzusetzen.
  • Eine dritte Etappe könnte durch die im Januar 2000 veröffentlichte neue »Konzeption der nationalen Sicherheit der russischen Föderation« begonnen haben. Unter günstigen Voraussetzungen, d.h. klares Konzept, straffe Führung, minimale Erholung der Wirtschaft und der Staatsfinanzen, wäre das die Etappe der Stabilisierung. Nach vorsichtigen Schätzungen könnte diese Etappe vier bis sechs Jahre dauern bevor ein behutsames, vor allem qualitatives Anwachsen des russischen Militärpotenzials beginnen würde und die Streitkräfte mit einem klaren Auftrag sowie einer gefestigten Struktur den ihnen vom Staat zugewiesenen Platz in der Gesellschaft einnehmen könnten.

Es würde über den Rahmen eines Artikels weit hinausgehen, wollte man den bisherigen Verlauf der russischen Militärreform mit allen Widrigkeiten und Konflikten objektiver und subjektiver Art beschreiben wollen. Deshalb werden im weiteren nur die entscheidenden, wirklich tragenden Ergebnisse der bisherigen Reformbemühungen dargelegt.

Eine veränderte Grundstruktur der Streitkräfte

Die Sowjetarmee bestand aus folgenden Teilstreitkräften: Landstreitkräfte, Seestreitkräfte, Luftstreitkräfte, Truppen der Luftverteidigung des Landes und Raketentruppen strategischer Bestimmung.1 Darüber hinaus unterstanden dem Verteidigungsminister direkt die Luftlandetruppen und die Kosmischen Streitkräfte, die nicht als Teilstreitkräfte bezeichnet wurden.

Im Rahmen der unabdingbaren quantitativen Kürzungen in allen Teilstreitkräften ergab sich die Notwendigkeit einer Vereinfachung der Führungsstrukturen, der Überwindung jeglicher strukturellen Doppelgleisigkeit und einer Straffung bzw. Streichung von Organen und Truppenteilen der Sicherstellung. Das führte zu folgenden Veränderungen:

  • Den Raketentruppen Strategischer Bestimmung wurden die bis dahin selbstständigen Kosmischen Streitkräfte unterstellt. Die Waffengattung »Raketenabwehr« wurde aus der Teilstreitkraft Truppen der Luftverteidigung des Landes herausgelöst und ebenfalls den Raketentruppen strategischer Bestimmung unterstellt.
  • Die Truppen der Luftverteidigung (LV) des Landes und die Luftstreitkräfte (LSK) wurden zu einer Teilstreitkraft unter der Bezeichnung »Luftstreitkräfte« zusammengefasst. Abgeschlossen ist die Bildung von Luftarmeen des Oberkommandos, und zwar einer Luftarmee strategischer Bestimmung und einer Luftarmee der Transportfliegerkräfte (jeweils ausgestattet mit Flugzeugen großer Reichweite). Neu gegliedert wurden die Kräfte und Mittel der LV. Sie umfassen nunmehr einen Bezirk der LSK/LV in der westlichen strategischen Richtung, vier Armeen der LSK/LV und ein selbstständiges Korps der LSK/LV im Raum Ural.
  • Der Hauptstab der Landstreitkräfte wurde aufgelöst. Es verblieben lediglich zwei Hauptverwaltungen, die im Verteidigungsministerium eingerichtet wurden. Ansonsten werden die Verbände der Landstreitkräfte direkt von den Chefs der jeweiligen Militärbezirke (MB) geführt.
  • In allen Teilstreitkräften wurde die Masse der nicht voll aufgefüllten Verbände und Truppenteile aufgelöst. Tausende hochqualifizierter Offiziere wurden ohne soziale Absicherung entlassen.
  • Die große Zahl militärischer Lehranstalten (16 Militärakademien, 2 Universitäten, einige Dutzend Offiziershochschulen), wissenschaftliche Forschungsinstitute (jede Teilstreitkraft hatte mindestens eins) und Erprobungszentren (Erprobung neuer Waffensysteme für die Truppenverwendung) wird reduziert und neu gegliedert.
  • Die dem Verteidigungsministerium direkt unterstehenden Bautruppen sowie eine Reihe von Einheiten und Einrichtungen der Rückwärtigen Dienste wurden aufgelöst.

1998 wandte sich der Verteidigungsminister (früher Chef der Strategischen Raketentruppen) an den russischen Präsidenten mit dem Vorschlag, auf der Basis der Strategischen Raketentruppen, die Teilstreitkraft Strategische Abschreckungskräfte (»Sily Strategitscheskogo Sdershiwanija« SSS) zu schaffen. Dazu sollten alle strategischen Kernwaffenträger aus dem Bestand der Luftstreitkräfte und der Seestreitkräfte den Raketentruppen strategischer Bestimmung operativ unterstellt werden; operativ heißt im Sinne der Einsatzplanung und Einsatzführung. Dieser Vorschlag wurde lange diskutiert und fand viele kritische Gegenstimmen vor allem aus den Hauptstäben der Luft- und Seestreitkräfte. Eine Entscheidung wurde vertagt.

Eine neue territoriale Gliederung

Auf dem Territorium der Russischen Föderation (RF) existierten bis vor einiger Zeit acht Militärbezirke und das Sondergebiet Kaliningrad. Sie wurden z.T. überlagert von dem Moskauer Luftverteidigungsbezirk, von sieben Bezirken der Truppen des Ministeriums des Innern, von sechs Bezirken der Grenztruppen und neun Regionalzentren des Ministeriums für Katastrophenschutz. Innerhalb der Grenzen einiger Militärbezirke befinden sich außerdem die Stationierungsräume der Flotten, und zwar der Baltischen Flotte, der Schwarzmeerflotte, der Nordmeerflotte, der Pazifikflotte und der Kaspischen Flotille.

Die Grundidee der neuen territorialen Gliederung der Streitkräfte ist aus den nachstehend genannten Maßnahmen erkennbar, die ab Juli 1998 in Angriff genommen wurden:

  • Die Anzahl der Militärbezirke wurde von acht auf sechs verringert. Als selbstständiges Gebilde bleibt das Kaliningrader Sondergebiet (siehe Abb. 1).
  • Die Grenzziehung der Militärbezirke und notwendige strukturelle Veränderungen wurden den entscheidenden strategischen Richtungen angepasst
    (siehe Abb. 2).
  • Die Führungsstäbe der Militärbezirke erhielten den Status operativ-strategischer Führungsstäbe. Alle militärischen oder paramilitärischen Truppenkörper in den Grenzen eines Militärbezirks sollen nunmehr der Kommandogewalt des Chefs des Militärbezirks unterstehen, und das unabhängig von ihrer strukturellen Zugehörigkeit.
  • Um die Spezifik verschiedener Teilstreitkräfte (z.B. Luftstreitkräfte) oder Unterstellungsverhältnisse (z.B. Truppen des Ministeriums des Innern) berücksichtigen zu können wurden drei Formen der Unterstellung unter die Befehlsgewalt des Chefs des MB festgelegt: die direkte Unterstellung, die operative Unterstellung und die Unterstellung in spezifischen Fragen.

Das Wehrersatzwesen

Eine der ersten – und in der damals noch sowjetischen Öffentlichkeit heiß diskutierten – Fragen einer künftigen Militärreform war das Problem der Auffüllung der Streitkräfte.

Die vorherrschende Meinung bestand darin, die Wehrpflicht abzuschaffen und zu einer Freiwilligen- bzw. Berufsarmee überzugehen. Man versprach sich angesichts einer immer anspruchsvolleren Kampftechnik eine höhere Qualifikation der Soldaten, eine verbesserte soziale Absicherung und vor allem auch eine neue Qualität der Disziplin und Ordnung. Auf Grund der z.T. katastrophalen Zustände in der Armee und der vielen gefallenen Wehrpflichtigen im Afghanistankrieg schrie die Öffentlichkeit förmlich nach radikalen Veränderungen. Heute, fast dreizehn Jahre nach Beginn der Militärreform, ist immer noch alles beim Alten. Die Kriminalitätsrate in der Armee ist ungewöhnlich hoch, die massenhafte Drangsalierung jüngerer Soldaten durch die schon länger dienenden ist erschrekkend, bei der Auswahl der Unteroffiziere herrscht das Prinzip der »negativen Auswahl« (Jugendliche aus ärmlichen Verhältnissen, die weniger Gebildeten, ohne Beruf usw.). Hauptgrund für die Stagnation auf diesem Gebiet auch hier – die fehlenden Mittel. Eine Berufs- oder Freiwilligenarmee ist teurer als eine Wehrpflichtarmee. Die einzige positive Veränderung der letzten Zeit besteht darin, dass auf Grund der erheblichen zahlenmäßigen Reduzierung der Streitkräfte die Anzahl der Wehrpflichtigen über dem Bedarf liegt. Die Armee ist dadurch in der Lage, eine gewisse positive Auswahl unter den Wehrpflichtigen vorzunehmen.

Sehr ernst ist die Lage in Bezug auf den Offiziersnachwuchs. Aus vielerlei Gründen hat der früher so geachtete Beruf des Offiziers an Attraktivität verloren. Es ist hier nicht der Platz, diese Gründe aufzulisten. Vielleicht genügt ein Beispiel. Allein 1996 haben ca. 500 Offiziere Selbstmord begangen weil sie ihre Situation als ausweglos empfanden oder weil sie sich vom Staat im Stich gelassen fühlten. Die Krise im Offiziersnachwuchs wird von den dafür zuständigen Personalchefs als besorgniserregend bezeichnet.

Der milit.-ind. Komplex (MIK)

Ganz am Beginn der Militärreform, d.h. Ende der Achtzigerjahre, wurde dieser Frage eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Das hatte seine Gründe: Die überdimensionierte Rüstungsindustrie der Sowjetunion war gegenüber der übrigen Volkswirtschaft in jeder Hinsicht privilegiert. Sie hatte sich zu einem Staat im Staate entwickelt und übte einen bedeutenden Einfluss auch auf politische Entscheidungen aus. Andererseits verfügte sie über ein überragendes technisches und menschliches Potenzial, das man für Modernisierung anderer Zweige der Volkswirtschaft nutzen wollte. Einer der ersten damaligen Reformschritte bestand darin, den gebündelten Militäretat dem Verteidigungsministerium zuzuweisen, damit dieser gegenüber der Rüstungsindustrie als Auftraggeber auftreten konnte. Als nächste Schritte waren die Optimierung des Gesamtsystems und eine teilweise Konversion von Rüstungsbetrieben geplant. Diese gut gedachten Vorhaben scheiterten an dem weiteren Verlauf der innenpolitischen Veränderungen wie z.B. überhasteter Auflösung der staatlichen Plankommission und des zuständigen Ministeriums, Zusammenbruch bisheriger Absatzmärkte bzw. Auftraggeber, Inflation, steigender Staatsverschuldung, »Dollarisierung« der Volkswirtschaft.

Alle Probleme der russische Streitkräfte zusammengenommen erscheinen heute als unbedeutend gegenüber den Problemen der MIK. Einen letzten Versuch der Reformierung des MIK stellte das 1997 vom Wirtschaftsministerium erarbeitete Programm der Umstrukturierung und Konversion dar. Es gelang nicht, dieses Programm in der erforderlichen Breite und Abfolge zu realisieren. Eine Reihe geplanter Vorhaben entsprechen auch nicht mehr der sich veränderten Lage. Der MIK wird nicht mehr geführt, die noch vorhanden gewesenen geringen Chancen für seine Umgestaltung wurden verspielt. Einige Betriebe produzieren noch weil sie vom Rüstungsexport profitieren, andere führen ein kümmerliches Dasein auf der Basis geringfügiger Aufträge bzw. staatlicher Subventionen. Neue Militärtechnik wird in nur sehr geringer Zahl produziert. Sie basiert ausschließlich auf dem ehemals bedeutendem Entwicklungsvorlauf sowjetischer Konstruktionsbüros. Die Entwicklung von Militärtechnik der nächsten Generation stagniert. Kräfte und Mittel für die Erarbeitung eines neuen wissenschaftlich-technischen Vorlaufs können nicht bereitgestellt werden. Das Entscheidungsfeld für einen Ausweg aus dieser Misere ist bis aufs Äußerste eingeschränkt. Ein russischer Militärkommentator bemerkte dazu treffend: „Es gibt nur noch die Wahl zwischen den schlechten und den sehr schlechten Varianten.“2

Der Versuch eines Neubeginns

Am 10. Januar 2000 unterschrieb der amtierende russische Präsident Putin die Neufassung der Konzeption der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation. Es ist dies die dritte offizielle Variante in den letzten zwei Jahren (erste Konzeption im Dezember 1997, die zweite im Oktober 1999).

In ersten Kommentaren wird darauf verwiesen, dass nur ein enger Kreis von Spezialisten diese Konzeption in kürzester Zeit (im Verlauf von einem Monat und 18 Tagen) erarbeiten musste. Dabei handelt es sich um ein Staatsdokument, das als das zweitwichtigste nach der Verfassung der Russischen Föderation gesehen wird. Die dadurch unvermeidbaren theoretischen Schwächen dieses Dokuments werden nicht ohne Einfluss auf die Praxis der nationalen Sicherheit bleiben. Dennoch neigen russische Kommentatoren zu der Einschätzung, dass die Konzeption 2000 insgesamt einen Schritt nach vorn bedeutet.

Es ist wichtig zu wissen, dass im Oktober 1999 der Entwurf einer neuen Militärdoktrin zur Diskussion gestellt wurde. Einer der Gründe für die Eile bei der Erarbeitung der neuen Konzeption der nationalen Sicherheit der RF könnte der Wunsch des neuen Interimspräsidenten gewesen sein, der Diskussion um die Doktrin und damit auch um die künftigen Schwerpunkte der Militärreform ganz bestimmte Rahmenbedingungen vorzugeben.

Einleitend wird die Konzeption der nationalen Sicherheit als ein System von Ansichten zur Gewährleistung der Sicherheit der Persönlichkeit, der Gesellschaft und des Staates vor äußeren und inneren Bedrohungen definiert. Unter der nationalen Sicherheit wird die Sicherheit seines multinationalen Volkes als des Trägers der Souveränität und der einzigen Machtquelle verstanden.

Diese sehr breite Konzeptdefinition und der sehr allgemein gehaltene Sicherheitsbegriff führten m. E. dazu, dass eine Vielzahl von Sicherheitsrisiken und eine noch größere Anzahl von Aufgaben beschrieben werden mussten. Über weite Strecken beinhaltet die Konzeption eine wundersame Mischung ökonomischer, finanzpolitischer, wissenschaftlich-technischer, regionaler, ethnischer, ökologischer, sozialer und rein militärischer Probleme und Aufgaben. Sowjetische und russische Erfahrungen haben in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass ausufernde Dokumente – und mögen sie theoretisch noch so richtig gewesen sein – vom Staatsapparat und den Führungskräften nicht angenommen wurden. Nach den ersten Lippenbekenntnissen verstaubten sie.

Worin bestehen die wesentlichsten sicherheitspolitischen Aussagen der neuen Konzeption?

Im Kapitel 1, »Russland innerhalb der Weltgemeinschaft«, wird die Feststellung getroffen, dass sich nach dem Ende der bipolaren Konfrontation zwei Entwicklungstendenzen gegenüber stehen: Die erste als eine alle Bereiche (ökonomische, politische, wissenschaftlich-technische usw.) umfassende integrative Tendenz. Auf ihrer Grundlage wird Russland um die Herausbildung einer bipolaren Welt bemüht sein. Die zweite „äußert sich in dem Versuch der Schaffung einer solchen Struktur internationaler Beziehungen, die auf eine Dominanz der hochentwickelten westlichen Länder unter Führung der USA und auf eine einseitige vor allem militärische Lösung der Schlüsselfragen der Weltpolitik, unter Umgehung des Völkerrechts, hinausläuft.“

Im Kapitel 2, »Die nationalen Interessen der Russischen Föderation«, werden die Interessen Russlands im militärischen Bereich so formuliert: „Die nationalen Interessen Russlands im militärischen Bereich bestehen in der Verteidigung seiner Unabhängigkeit, der Souveränität, der staatlichen und territorialen Integrität, in der Verhinderung einer militärischen Aggression gegen Russland und seine Verbündeten, in der Gewährleistung von Bedingungen für eine friedliche, demokratische Entwicklung des Staates.“

Im Kapitel 3, »Bedrohungen der nationalen Sicherheit der RF«, wird zunächst den ökonomischen Faktoren, den separatistischen und nationalistischen Tendenzen, der unzureichenden Rechtsstaatlichkeit, der Kriminalität, dem Terrorismus und anderen zivil-gesellschaftlich relevanten Faktoren Aufmerksamkeit zuteil.

Bei der Darstellung der Bedrohungen im internationalen Bereich werden die folgenden »grundlegenden Bedrohungen« genannt:

  • „Das Bestreben einzelner Staaten ... die Rolle bestehender Mechanismen zur Gewährleistung der internationalen Sicherheit, vor allem aber der UNO und der OSZE, herabzusetzen;
  • die Gefahr einer Schwächung des politischen, ökonomischen und militärischen Einflusses Russlands in der Welt;
  • die Festigung der militärisch-politischen Blöcke und Bündnisse, vor allem die Osterweiterung der NATO;
  • die Möglichkeit des Auftauchens ausländischer Militärbasen und großer militärischer Kontingente in unmittelbarer Nähe der russischen Grenzen;
  • die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägermitteln;
  • die Schwächung der Integrationsprozesse in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS);
  • das Entstehen und die Eskalation von Konflikten in der Nähe der Staatsgrenzen der RF und der äußeren Grenzen der GUS;
  • territoriale Ansprüche an die Russische Föderation.“

Nach der Aufzählung weiterer Bedrohungsfaktoren kommen die Autoren der Konzeption zu einer erstmalig in dieser Eindeutigkeit formulierten Aussage: „Das Niveau und die Maßstäbe der Bedrohung im militärischen Bereich wachsen an.“ Dem schließt sich die z.T. präzisierte Formulierung aus der Konzeption des Jahres 1999 an, die da lautet: „Der in den Rang einer strategischen Doktrin erhobene Übergang der NATO zur Praxis gewaltsamer (militärischer) Handlungen außerhalb des Verantwortungsbereiches des Blocks und ohne Sanktion des Sicherheitsrates der VN, birgt die Gefahr einer Destabilisierung der gesamten strategischen Weltlage in sich.“

Beachtenswert in diesem Kapitel erscheint ein Absatz, der die gegenwärtige Ausgangslage für die Fortsetzung der Militärreform darstellt. Seine kritischen Feststellungen lauten sinngemäß so: Die Reform militärischer Strukturen und der Verteidigungsindustrie haben sich über Gebühr verzögert. Hauptursachen dafür sind die unzureichende Finanzierung und Unzulänglichkeiten in der rechtlichen Basis. Die sich verstärkenden negativen Tendenzen zeigen sich vor allem in einem kritisch niedrigen Niveau der operativen- und Gefechtsausbildung, in einer unzulässigen Verringerung des Ausstattungsgrades mit modernen Waffen und modernem Gerät sowie in der äußersten Schärfe sozialer Probleme. Das alles führt zu einer Schwächung der militärischen Sicherheit der Russischen Föderation.

Das 4. Kapitel behandelt »Die Gewährleistung der nationalen Sicherheit der RF«. Auch hier finden die LeserInnen eine unendliche Aufzählung verschiedenster Aspekte für die Gewährleistung der nationalen Sicherheit, die einen vorrangig deklarativen Charakter tragen. In dem eigentlich militärischen Teil dieses Kapitels erscheinen die folgenden Aussagen beachtenswert:

  • „Zur Verhinderung des Krieges und bewaffneter Konflikte bevorzugt die Russische Föderation politische, diplomatische, ökonomische und andere nichtmilitärische Mittel. Gleichwohl erfordern die nationalen Interessen das Vorhandensein einer für ihre Verteidigung ausreichenden Militärmacht.“
  • „Eine der wichtigsten Aufgaben der Russischen Föderation besteht in der Gewährleistung der Abschreckung im Interesse der Vorbeugung einer Aggression beliebigen Maßstabs, einschließlich einer Aggression unter Anwendung von Kernwaffen gegen Russland und seine Verbündeten.“
  • „Die Russische Föderation muss über nukleare Kräfte verfügen, die garantiert dazu befähigt sind, jedem Aggressorstaat oder einer Staatenkoalition einen angemessenen Schaden unter beliebigen Bedingungen der Lage zuzufügen.“
  • „Die Streitkräfte der Russischen Föderation müssen in ihrem Friedensbestand in der Lage sein, den zuverlässigen Schutz des Landes vor einem luft-kosmischen Überfall,... die Abwehr einer Aggression im lokalen Krieg (bewaffneten Konflikt) bzw. die strategische Entfaltung für die Lösung von Aufgaben in einem großflächigen Krieg zu gewährleisten.“

Ganz offensichtlich lässt sich Russland auch die Möglichkeit von Auslandseinsätzen seiner Streitkräfte offen, denn im weiteren heißt es: „Die Interessen der Gewährleistung der nationalen Sicherheit verlangen unter entsprechenden Umständen die militärische Präsenz Russlands in einigen strategisch wichtigen Regionen der Welt. Die Stationierung begrenzter Truppenkontingente – auf vertraglicher und völkerrechtlicher Grundlage – muss die Bereitschaft Russlands gewährleisten, seine Verpflichtungen zu erfüllen, in den Regionen zur stabilen militärstrategischen Kräftebalance beizutragen und der RF die Möglichkeit geben, auf Krisensituationen in deren Anfangsstadium zu reagieren und die Verwirklichung außenpolitischer Ziele des Staates zu fördern.“

Fazit

Unter den vielen Bedrohungen der nationalen Sicherheit sieht Russland auch eine rein militärische. Die nach dem Ende des Kalten Krieges vorherrschende Meinung von einer langen Periode des friedlichen Zusammenlebens der Völker verliert in der russischen Öffentlichkeit zusehends an Glaubwürdigkeit. Dominierend sind heute Misstrauen und Argwohn. Die Hauptgründe dafür sind die Osterweiterung der NATO, die jüngsten Kriegshandlungen der NATO-Staaten gegen Jugoslawien, der zusehends größer werdende qualitative und quantitative waffentechnische Vorsprung der USA und das alarmierende Beispiel des Tschetschenienkrieges.

Die frühzeitig erkannte Notwendigkeit einer Militärreform scheiterte an den katastrophalen Folgen politischer, administrativer und ökonomischer Umbrüche. Die bisher durchgeführten Reformschritte haben den Niedergang der Streitkräfte verlangsamt, aber noch nicht gestoppt.

Das Empfinden der russischen Führung, dass das Niveau und die Maßstäbe der Bedrohung im militärischen Bereich anwachsen, bestimmt zweifellos ihr weiteres Vorgehen. Der verfügbare Handlungsspielraum bleibt aber zunächst äußerst beschränkt. Aus der militärischen Logik heraus erhöhen sich dadurch Rolle und spezifisches Gewicht der Abschreckung. Die herkömmlichen Kräfte und Mittel einer strategischen Abschreckung sind – gemessen am US-amerikanischen Potenzial – schwach. Die Streitkräfte, die für die Verteidigung des Riesenlandes zur Verfügung stehen, befinden sich in einem desolaten Zustand. Das sind die Gründe für die in letzter Zeit russischerseits immer wieder betonte Notwendigkeit einer glaubhaften atomaren Abschreckung.

Die Militärreform als eine komplexe Abfolge gut durchdachter Einzelschritte wird in dem Maße vorankommen, wie es gelingen wird, die russische Wirtschaft anzukurbeln. Von einer russischen Gefahr kann im überschaubaren Zeitraum nicht die Rede sein. Dennoch sollte sich der Westen hüten Russland zu demütigen. Der Weg zu gutnachbarlichen Beziehungen führt, wie gehabt, über eine vertrauensbildende Politik, die es versteht russische Befindlichkeiten zu berücksichtigen und Misstrauen abzubauen.

Militärbezirke
Abb.1: Neufestlegung der Militärbezirke
Strategische Richtung Militärbezirk Stab
Westl. strateg. Richtung Moskauer MB Moskau
Nordwestl. strat. Richtung Leningrader MB St. Petersburg
Südwestliche strat. Richtung Nordkaukasischer MB Rostow am Don
Zentral-asiat. strat. Richtung Wolga-Ural-MB Samara
Sibirische strat. Richtung Sibirischer MB Tschita
Fernöstliche strat. Richtung Fernost-MB Chabarowsk
Abb.2: Anpassung der Grenzziehung der Militärbezirke an die entscheidenden strategischen Richtungen

Anmerkungen

1) Jede TSK wurde von einem Oberbefehlshaber kommandiert, der sich in seiner Führungstätigkeit auf einen Hauptstab der TSK stützte. Die Hauptstäbe der TSK waren dem Generalstab nachgeordnet.

2) Sergej Sokut in »Nezawisimaja Gaseta« Nr.1/2000

Dr. Karl Harms war als Oberst der NVA über sechs Jahre im Stab der Vereinten Streitkräfte in Moskau tätig. Er arbeitet heute als Publizist in Berlin.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/2 Russland – Zerfall einer Supermacht, Seite