W&F 1987/2

Die sowjetische SDI-Junktimspolitik in Reykjavik.

Eine Beurteilung aus abschreckungskritischer Sicht

von Wolfgang Bruckmann

Vieles ist über den Gipfel von Reykjavik, der angeblich keiner war, gesagt und geschrieben worden. Analytisches fand sich darunter kaum. Im wesentlichen kreiste dabei die Debatte nach jenen denkwürdigen Tagen im Oktober 1986 um den Mittelstreckenbereich, will sagen um das sowjetische Junktim zu SDI und die sicherheitspolitische Bedeutung der „Null“-Lösung für die NATO. Während aus den unterschiedlichsten politischen Motiven Moskau aufgefordert wurde, das Junktim zwischen SDI und den INF-Waffen aufzugeben, wurde eine ähnliche Forderung für den Bereich der interkontinentalstrategischen nuklearen Offensivwaffen nicht erhoben. Bekanntlicherweise hat die Sowjetunion auch hier ein Junktim zu SDI hergestellt. Eine Problematisierung dieser Verhandlungsposition aus abschreckungskritischer Sicht ist mir jedenfalls nicht bekannt. Dieses Papier hat nun den Zweck, die Moskauer Junktimspolitik von Reykjavik distanziert zu betrachten und ihre militärstrategischen Hintergründe bloßzulegen.

Die politischen Schlußfolgerungen mögen für manche unbequem sein. Eine blockunabhängige Herangehensweise erfordert jedoch nicht nur eine Kritik an den amerikanischen Rüstungsplänen, wie etwa SDI -, sondern eben auch eine skeptische Beurteilung der sowjetischen Militärstrategie und -politik. Eine Auseinandersetzung mit dem „Krieg der Sterne“-Programm der USA ist an anderer Stelle nicht minder konsequent verfolgt worden.1

Strategische Raketenabwehr und interkontinentalstrategische Offensivwaffen

Der militärstrategische Zusammenhang zwischen SDI und den strategischen Atomwaffen - genauer: ballistische Raketen interkontinentaler Reichweite - besteht in der durchaus plausiblen Annahme, daß die Leistungsfähigkeit einer strategischen Raketenabwehr in dem Maße steigt, wie die Zahl der abzufangenden Raketen abnimmt. Die Sowjetunion fürchtet, daß im Falle einer Stationierung von Raketenabwehrsystemen die amerikanische Bereitschaft zu einem Erstschlag gegen das sowjetische Zweitschlagspotential zunehmen wird, da die in Folge beeinträchtigte sowjetische Vergeltungsfähigkeit durch die Wirkung einer strategischen Raketenabwehr auch noch so weit herabgesetzt werden könne, daß die Kriegsschäden in den USA als Folge des sowjetischen Zweitschlages gemessen am erreichten Kriegsziel (Beseitigung des Antagonisten) in der Wahrnehmung der amerikanischen Administration und der Militärs „akzeptabel“ werden könnten. Zumindest sei eine derartige Situation militärischer Überlegenheit zu politischen Erpressungsmanövern instrumentalisierbar.2

So richtig es ist, daß die Implementierung einer strategischen Raketenabwehr

  • verheerende Auswirkungen auf die strategische Stabilität entfalten könnte,
  • eine gigantische Verschwendung finanzieller, materieller und geistiger Ressourcen wäre,

also strikt abzulehnen ist, müssen doch die Prämissen des sowjetischen Szenarios und die angedrohten militärpolitischen Konsequenzen Moskaus - im wesentlichen die Erhöhung der Zahl strategischer Atomwaffen, um die gegnerische Abwehr zu saturieren 3 - kritisch hinterfragt werden:

a) Erstschlagszenarios sind in vieler Hinsicht als äußerst fragwürdig und auf falschen Prämissen beruhend kritisiert worden.4

Trotz aller technologischen Anstrengungen, die Vernichtungsfähigkeit gegen militärische Ziele - counter military potential (Command-, Control-, Communication- and Intelligence-Structures - C3I-, Raketenbasen, strategische Bomber, U-Boote) durch

  • die Erhöhung von Zielgenauigkeiten strategischer Atomwaffen (Circular Error Probability - CEP),
  • effektivere Atomsprengköpfe,
  • mehrfache Zielabdeckung (Redundanzen),
  • die Steigerung der Funktionstüchtigkeit, Einsatzbereitschaft und Durchdringungsfähigkeit von Atomwaffen,
  • Aufspüren gegnerischer U-Boote (Anti-Submarine-Warfare - ASW),- Effektivierung der C3I-Strukturen zu verbessern, steigen die Erfolgsaussichten eines „entwaffnenden Erstschlages“ in den Berechnungsmodellen der counterforce-Optionen zwar statistisch-theoretisch an, praktisch aber sind sie auf unabsehbare Zeit gering.5 Mehrere Gründe sind dafür ausschlaggebend:

    1. Alle Erstschlagszenarien sind Computersimulationen, deren empirische Relevanz nicht verifiziert werden kann - es sei denn unter den praktischen Bedingungen eines Atomkrieges! Testflüge von Trägersystemen sind nur bedingt aufschlußreich, da die Flugrouten aus naheliegenden politischen Gründen nicht über gegnerisches Territorium verlaufen 6; denn: die dort herrschenden, auf die Flugbahn einer ballistischen Rakete wirkenden besonderen geophysikalischen Bedingungen (Abnormalitäten im Gravitationsfeld der Erde, Beeinflussungen durch den Polmagnetismus) und klimatische Einflüsse (wechselnde Dichten höherer Atomsphären, wechselnde Windgeschwindigkeiten etc.) können nur durch Annäherungsverfahren in mathematischen Modellen und Kalkülen über die theoretische Flugbahn einer Rakete simuliert werden - Irrtümer inbegriffen.
    2. Auf Grund der mehrfachen Abdeckung militärischer Ziele - wie Raketensilos - können die von einer Atomexplosion ausgehenden Einflüsse (Hitze, Gesteinsregen, Druckwelle, starke elektromagnetische Strahlen) die zeitlich später eintreffenden Sprengköpfe vor ihrer Zielerreichung zerstören (fracticide effect), so daß wichtige Erstschlagziele möglicherweise unzerstört bleiben.
    3. Ein in umfassender Weise angelegter Erstschlag („disarming first Strike“) verlangt ein außerordentliches Maß an zeitlicher Koordination: Tausende von Sprengköpfen müssen zu exakt vorausberechneten Zeitpunkten ihr Ziel auch faktisch erreichen - trotz unterschiedlicher Flugbahnen, -zeiten, -geschwindigkeiten und -entfernungen. Möglichst alle gegnerische Atomwaffen befördernden U-Boote (SSBN) müssen unverzüglich aufgespürt und zerstört werden usw. usw. Niemand kann vorhersagen, ob die C3I-Systeme unter Krisenbedingungen dazu in der Lage sein werden.7
    4. Erstschlagsoptionen können durch Gegenmaßnahmen durchkreuzt werden (mobile ICBMs, Cruise Missiles, U-Boote in Binnengewässern etc.).
    5. Ein Zweitschlag kann bei ausreichenden Vorwarnzeiten (vor Eintreffen der „ersten Schläge“) vorweggenommen werden (launch-on-warning).
    6. Ob eine strategische Raketenabwehr einen - wenn auch ggf. geschwächten - sowjetischen Zweitschlag zuverlässig abfangen kann, muß ebenfalls bezweifelt werden 8 : Aufgrund der außerordentlichen Anforderungen an Hard- und Software, deren Erfüllung nur unter Kriegsbedingungen testbar wäre, gibt es systembezogene Leistungsgrenzen, die durch eine nicht vorhersehbare Zahl von Zielen (aufliegende Raketen oder Sprenköpfe) im Falle eines nur teilweise gelungenen amerikanischen Erstschlages überschritten würden, so daß der sowjetische Zweitschlag lediglich unvollkommen abgefangen werden könnte („Übersättigung“). Dies gilt in besonderer Weise dann, wenn der amerikanische Erstschlag aufgrund einer sowjetischen „launch-on-warning“-Strategie „ins Leere“ träfe.9 Aber selbst wenn aus amerikanischer Sicht alles optimal verliefe, bestünde für Moskau immer noch die Möglichkeit, die Abfangmanöver von SDI-Systemen durch Täuschungsmanöver zu durchkreuzen, nicht-ballistische Flugkörper oder solche mit gedrückten Flugbahnen zu verwenden oder die ABM-Systeme direkt zu attackieren.10
    7. In allen Erstschlagmodellen bleibt der Einsatz anderer, nichtnuklearer Massenvernichtungsmittel (B- und C-Waffen) außer Betracht.

Diese Argumente gelten im übrigen für alle Erstschlagszenarien, sowjetische amerikanische.

b) Strategische Stabilität ist jedoch nicht nur das Ergebnis materiell- rüstungstechnischer, sondern auch kognitiver Prozesse. Erstschlagszenarien mögen noch so unplausibel sein: solange innerhalb der Abschreckungsstruktur die waffentechnologische und strategisch-konzeptionelle Entwicklung von den jeweiligen „sicherheits“-politischen Eliten als Absicht des Gegners interpretiert wird, Erstschlagfähigkeit zu erlangen bzw. die zukünftige Qualität eines bestimmten Waffenpotentials als erstschlagfähig wahrgenommen wird, dann gewinnt dieser Umstand praktische Bedeutung und politische Relevanz - trotz falscher Prämissen.

Ist demnach das sowjetische Junktim, einer Reduzierung von strategischen Atomwaffen nur unter den Bedingungen zuzustimmen, daß die USA ihr SDI-Programm auf Forschung und Tests ausschließlich in Laboratorien beschränken, zwingend?

Diese Frage ist deshalb von enormer politischer Bedeutung, weil derzeit offenbar nur ein Verhandlungsansatz abrüstungsträchtig ist (d.h. eine Reduzierung und Abschaffung von strategischen und eurostrategischen Atomwaffen ermöglicht), der den Ausgleich zweier gegenläufiger Interessen bewirken würde, also:

  • die sowjetischen Erstschlagsbefürchtungen auszuräumen in der Lage ist,
  • das amerikanische SDI-Programm innerhalb der durch den ABM-Vertrag gesetzten Schranken unberührt läßt.

Mit anderen Worten: Es geht um die Suche nach einer weitestgehend abschreckungsimmanenten und pragmatischen Lösung des Problems.

Hier wird die Auffassung vertreten, daß der Schlüssel für einen Interessenausgleich in einer Abrüstungsmechanik läge, die - SDI vorerst außer Betracht lassend - vor allen Dingen die counterforce-Potentiale der Großmächte reduziert. D.h.: Eine 50%-Verringerung von strategischen Offensivwaffen innerhalb von 5 Jahren nach Abschluß eines Abkommens - wie von der Sowjetunion in Reykjavik vorgeschlagen 11 - müßte sich vor allen Dingen auf bestehende und geplante Systeme konzentrieren, die von der Sowjetunion in Kombination mit SDI als erstschlagsfähig eingestuft werden: Minuteman III, MX, Midgetman, Trident 2, Stealth-Bomber (ATB) und Cruise Missiles.12 Ausgeschlossen werden müßten ebenfalls technologische Entwicklungen, die aus den noch verbleibenden strategischen Offensivwaffen erstschlagsfähige Systeme machen würden. Dies bedeutet einen Verzicht der USA auf die satellitengestützte Lenkung ballistischer Raketen (NAVSTAR). Rüstungskontrollpolitisch unbedingt erfaßt werden müßten auch zweitschlagsbeeinträchtigende Entwicklungen im Bereich der Unterwasserkriegsführung (ASW).13

Es wird deutlich, daß der Sowjetunion nach einem erfolgten amerikanischen Erstschlag ohne MX weitaus mehr Sprenköpfe für einen Zweitschlag verblieben, als wenn es zu einem Einsatz der MX-Rakete käme.14

System Zielgenauigkeit (CEP) Sprengkraft (Y[kT]>) Zahl der Sprengköpfe(n) Zahl der zerstörten Ziele; Wahrscheinlichkeit > 97 % [Summe nautical missiles/m]
Minuteman III Mk 12 0,120/220 170 kT 750 (3 MIRV) 150
Minuteman III Mk 12A 0,120/220 335 kT 900 (3 MIRV) 300
MX 0,054/100 300 kT 1000 (10 MIRV) 500
Trident II 0,075/130 475 kT 5184 (8-12 MIRV) 2376
Summe
3326
Quellen: eigene Berechnungen, Annahmen und Daten s. Fußnote 15

Ein mathematisch-statistisches Modell eines Erstschlagszenarios mit prädestinierten counterforce-Waffen (Minuteman III, MX, Trident II) kommt zu folgenden Ergebnissen:

Die Summe der mit hoher Wahrscheinlichkeit zerstörten Ziele (>97 %) gewinnt an Aussagekraft, vergleicht man sie mit der Zahl der für einen Erstschlag bedeutsamen sowjetischen counterforce-Ziele:

  • höchste militärische und politische Kommandozentralen: >100 16;
  • Silos von landgestützten Interkontinentalraketen: 1398 17;
  • Startbasen der sowjetischen Fernbomberflotte: 3 18
  • U-Boot-Basen: ca. 7 19.

Zusammen ergibt dies knapp 1500 erstrangige (Land-) Ziele. Selbst unter der Annahme, daß die Zahl der sowjetischen counterforce-Ziele in den nächsten Jahren zunähme, kann mit mathematisch-statistischer Plausibilität gesagt werden, daß alle in einem angenommenen „disarming first Strike“ anvisierten höchstrangigen Ziele mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 97 % zerstört werden könnten. Dabei sind nichtballistische, unbemannte (Cruise Missiles) und bemannte (strategische Bomber) Flugkörper mit dem in Zukunft radarrückstrahlungsminimierten Querschnitt („Stealth“) noch nicht einmal berücksichtigt. Auch diese werden Erstschlagsaufgaben übernehmen können.

Einschränkend muß jedoch gesagt werden, daß diese Betrachtung nur von zwei Komponenten der strategischen Triade handelt. Die theoretische Erfolgsträchtigkeit eines „disarming first Strike“ hängt allerdings auch davon ab, inwiefern es gelänge, die gegnerischen atomwaffenbefördernden U-Boote auszuschalten. Es können jedoch beunruhigende technologische Entwicklungen beobachtet werden, so daß eine theoretische first-strike-Fähigkeit mit Hilfe der rasant fortschreitenden Anti-Submarine-Warfare-Technologie (ASW) in Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann.20

c) Welche Konsequenzen hätte der hier vorgeschlagene Verhandlungsansatz für die Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik? Zunächst ist festzuhalten, daß ein wesentliches Ergebnis darin bestünde, daß tiefere Einschnitte bei den strategischen Atomwaffen vorgenommen würden, anstatt - wie es bisher die Praxis von Rüstungskontrolle war - vereinbarte Obergrenzen festzulegen. Also: Atomare Abrüstung statt kontrolliertet Aufrüstung. Neben der Reduzierung von US-counterforce-Waffen käme es außerdem nicht nur zu einem Abbau der sowjetischen Pendants (SS-18, SS-19, SS-25)21; das amerikanische SDI-Programm könnte auf diese Weise politisch delegitimiert werden, da amerikanische Erstschlagsbefürchtungen („window of vulnerability“) - so unplausibel sie auch sein mögen - gegenstandslos würden. Hinzu kommt, daß der hier vorgeschlagene Ansatz die Abrüstungsdebatte auf jene Waffen fokussiert, deren Abschaffung bzw. Entwicklungsstop sofort möglich wäre und die durch die Reagan-Administration selbst moralisch disqualifiziert wurden. Die Kritik am Zukunftsprogramm „SDI“ sollte dabei keineswegs vernachlässigt werden; die politische Forderung sollte weiterhin sein, den ABM-Vertrag einzuhalten und sein Regime zu stärken. Worum es dennoch geht, ist der Verzicht auf das Junktim „SDI und strategische Offensivwaffen“, vorausgesetzt, die nukleare Abrüstung folgte einer die counterforce-Waffen vorwiegend betreffenden Reduzierungsmechanik. Ein gewichtiger Einwand sei in diesem Zusammenhang noch diskutiert: Sind die hier vorgeschlagenen Maßnahmen verifizierbar?

Während beim Entwicklungssektor zukünftiger strategischer Offensivwaffen (durch Satellitenaufklärung kontrollierten Flugtestverbot militärischer ballistischer und nichtballistischer Flugkörper) und bei der Verschrottung vorhandener strategischer Atomwaffen (Satellitenaufklärung, internationale Kontrollkommissionen) die Abrüstung relativ einfach zu kontrollieren ist, 22 wäre die Einhaltungsüberprüfung verbotener oder eingeschränkter U-Boot-Kriegsführung und Satellitenlenkung von ballistischen und nichtballistischen Flugkörpern (NAVSTAR) zwar komplizierter, aber dennoch die Probleme nicht unlösbar:

Durch bestimmte Frequenzverbote und zahlenmäßige Begrenzung von Navigationssatelliten könnte die weltraumgestützte Lenkung von Flugkörpern unterbunden, 23 durch Seesanktuarien, zahlenmäßigen Abbau von Jagd-U-Booten und Einrichtung spezieller Unterwasserdetektoren zur Einhaltungsüberprüfung eines vereinbarten Abbaus von Sonartripoden die ASW-Fähigkeit vermindert bis vereitelt werden.24

d) Es ist nicht zu verhehlen, daß trotz der hier diskutierten Argumente für einen sowjetischen Verzicht auf ein Junktim offene Fragen geklärt werden müssen 25:

  1. Wird nicht durch eine Aufgabe des Junktims „SDI/strategische Offensivwaffen“ nur unter der hier vorgeschlagenen Abrüstungsmechanik ein neues Junktim eingeführt?
  2. Führt nicht ein Einlassen auf die erwogene Ebene zu einer nimmer endenden und daher wenig erfolgsträchtigen Debatte darüber, was nun eigentlich erstschlagsfähige counterforce-Waffen sind und was nicht, welche Systeme für einen Abbau infrage kämen und wie ihr Abbau verifizierbar wäre?
  3. Da die vorgeschlagene Lösung vor dem Hintergrund verschiedener Schwerpunktsetzung der Großmächte bei den strategischen Atomwaffen eine asymmetrische Herangehensweise erfordern würde, ist es fraglich, ob ein Konsens über Struktur und Gewichtung erzielbar wäre.

Diese Probleme müssen diskutiert werden, um die Erfolgsaussichten des hier vorgeschlagenen Ansatzes abschließend beurteilen zu können.

Strategische Raketenabwehr und Mittelstreckenraketen

a) In der Zeit vor dem Gipfel von Reykjavik hat es wiederholt Stellungnahmen hoher sowjetischer Politiker und Militärs gegeben, die für die Genfer Verhandlungen eine von SDI separierte Lösung im INF-Bereich nicht ausschließen wollten.26 Erst in Reykjavik schnürte Gorbatschow ein Gesamtpaket und stellte damit auch ein Junktim zwischen SDI und den INF-Systemen her. Diese Verhandlungsstrategie wurde offenbar weder vom Genfer Chefunterhändler der Sowjetunion. Karpov. noch von ihrem Sonderbotschafter Lomejko geteilt.27 Es gilt, diesen Widerspruch aufzuklären.

b) Die vor Reykjavik unzutreffende Moskauer Bereitschaft, ein von Weltraum- und strategischen Atomwaffen getrenntes INF-Abkommen abschließen zu wollen und dabei

  • die forward-based-systems der USA
  • die französischen und britischen Atomwaffen unberücksichtigt zu lassen,

ist das späte Eingeständnis einer militärstrategischen Bedeutungslosigkeit der SS-20 28 ; denn: sowjetische interkontinentalstrategische Systeme entfalten ebenfalls kontinentalstrategische Abschreckungswirkung, da sie auch über mittlere, d.h. eurostrategische Reichweiten eingesetzt werden können. Ein umgekehrter Zusammenhang besteht nicht. Mit anderen Worten: Eine für den mittleren Operationsradius konzipierte Rakete, wie die SS-20, erlaubt keinen Einsatz über interkontinentale Reichweiten, d.h. sie erreicht amerikanisches Territorium nicht (s. Abb. 4). Ihre zahlenmäßige Aufstockung als eine gegen SDI gerichtete Maßnahme wäre daher sinnlos. Das von sojwetischer Seite gelegentlich vorgetragene Argument, durch SDI stiege die Bedeutung britischer und französischer Atomwaffen und daher benötige Moskau ein dagegen gerichtetes Abschreckungspotential, ist nicht nur wegen des oben genannten Sachverhaltes fragwürdig. Entgegenzuhalten ist auch, daß die französischen und britischen Potentiale eigenständige Bestandteile nationaler und nicht amerikanischer counterforce-Einsatzplanung sind. Eine flankierende Funktion im Rahmen eines amerikanischen Erstschlages ist daher nur schwer vorstellbar.

Wenn aber zwischen SDI und den INF kein militärstrategischer Zusammenhang besteht, warum dann das sowjetische Junktim? Die Antwort führt über die gegenwärtige Einschätzung der Pershing II durch die UdSSR; denn: Würde Moskau die Anfang der 80er Jahre getroffene Beurteilung der Pershing als strategische Enthauptungswaffe beibehalten haben, ist das Junktim nicht mehr plausibel, da

  • die Sowjetunion dann immer noch ein existentielles Interesse daran haben müßte, gerade diese Waffen wegzubekommen und
  • durch die gleichzeitige Abrüstung der SS-20 das gegen SDI gerichtete Zweitschlagspotential interkontinentalstrategischer Systeme davon unberührt blieben.

Das Junktim ist der offenkundige Beleg dafür, daß die Pershing II von der UdSSR heute nicht mehr als Enthauptungswaffe im Rahmen eines amerikanischen Erstschlags beurteilt wird. Die sowjetische Bereitschaft, vor Reykjavik zu einem getrennten INF-Abkommen zu gelangen, hatte m.E. vorwiegend politische Gründe:

Die sowjetische Politik zielte auf die schwächste Stelle der geltenden NATO-Strategie: das Glaubwürdigkeitsdilemma eines mit Eskalationsrisiken bedachten Atomwaffenersteinsatzes zur „Verteidigung“ westeuropäischer Nichtatomwaffenstaaten. Letztere betrachten die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles als Instrument der Ankopplung an amerikanische „Sicherheitsinteressen“. Da dieses militärstrategische Problem der westeuropäischen Öffentlichkeit kaum nahe gebracht werden konnte, wurde der Popanz östlicher Überlegenheit aufgebaut und die „Nach“-Rüstung erfunden. Durch das Eingehen Gorbatschows auf das westliche Verhandlungsangebot der „Null“-Lösung zwang er die NATO, Farbe zu bekennen - und entlarvte die westliche Legitimations- und Durchsetzungsstrategie der „Nach“-Rüstung als großangelegtes Täuschungsmanöver zur Kaschierung (vermeintlicher) militärstrategischer Dilemmata. Die FAZ brachte es auf den Punkt: „Das Angebot einer Null-Lösung war für die Öffentlichkeit gedacht und im Vertrauen ausgebrochen worden, daß Moskau nicht bereit wäre, seine Mittelstreckenraketen total zu beseitigen.“29

Welche Gründe mögen Gorbatschow nun veranlaßt haben, die „Null“-Lösung mit einem Junktim zu SDI zu verknüpfen und damit dem Westen dieses politische Problem zu erlassen? Offenbar hat das Junktim einen höheren politischen Stellenwert als die Bloßlegung westlicher Strategiedefizite.

Meine These: Während die sowjetische Bekräftigung, den ABM-Vertrag die nächsten zehn Jahre einhalten zu wollen und in Übereinstimmung damit den USA Laborforschung und -tests von ABM-Systemen zu gestatten, auf den amerikanischen Kongreß und die amerikanische Öffentlichkeit zielt, soll das Junktim im Mittelstreckenbereich bewirken, daß die Regierungen und die Öffentlichkeit in den Stationierungsländern politischen Druck auf die Reagan-Administration ausüben, das SDI-Programm einzuschränken (s.o.), um auf diese Weise den Weg für eine Abrüstung der INF-Systeme freizumachen.

Das Junktim hat also eine SDI-Verhinderungsfunktion; es ist Teil des sowjetischen Verhandlungspokers.

c) Diese Verhandlungsstrategie geht von der Annahme aus, die betroffenen westeuropäischen Regierungen wollten auf die amerikanischen Mittelstreckenwaffen tatsächlich verzichten. Dies mag für die Cruise-Aufnahmeländer noch richtig sein (mit Ausnahme der Briten); für die jetzige Bundesregierung ist es unzutreffend. Im Gegenteil: Das sowjetische Junktim „spielt“ dem Stahlhelmflügel in der CDU/CSU geradezu in die Hände. Nicht genug: Solange die Pershing II und die Cruise nicht abgezogen werden, wird der Warschauer Vertrag die Dislozierung operativ-taktischer Raketen (SS-21, SS-23) in der DDR und der CSSR, die auf die Stationierungsräume der genannten INF-Systeme zielen, nicht rückgängig machen. Dieser Umstand wiederum wird von der Regierung als Legitimationsvehikel herangezogen, um eine „Nach“-Rüstung bei den Kurzstreckenraketen und den Aufbau einer taktischen Raketenabwehr in Westeuropa zu begründen. Der Kreis schließt sich.

Fazit

a) Zum Junktim SDI/Strategische Atomwaffen:

  • Der militärstrategische Begründungszusammenhang ist auf Grund der irrationalen Prämissen von Erstschlagszenarien fragwürdig.

Bei einem Verhandlungsvorschlag der den USA das SDI-Programm beläßt ohne es politisch zu akzeptieren - und einer die erstschlagsfähigen counterforce-Waffen betreffenden Abrüstungsmechanik folgt, wäre das sowjetische Junktim verzichtbar.

Der hier vertretene Ansatz würde entweder eine substantielle Abrüstungsperspektive bei den strategischen Atomwaffen eröffnen, deren politische Sogwirkung auch das SDI-Programm delegitimieren könnte, oder - einmal mehr - die Abrüstungsunwilligkeit der US-Administration demonstrieren.

Zum Junktim SDI/INF

Das Junktim ist in erster Linie verhandlungspolitisch motiviert; ein militärstrategischer Begründungszusammenhang besteht nicht.

Die westeuropäischen Aufnahmeländer der INF-Systeme sind das Objekt verhandlungspolitischer Kalküle der Großmächte. Dies ist politisch nicht akzeptabel. Trotz unserer eindeutigen Kritik an SDI: Auch das sowjetische Junktim ist zurückzuweisen.

Nachwort

„Die Sache kommt nicht vom Fleck, seit vielen Jahren nicht.“ (Georgi Arbatow) 30

„Ich komme sogar immer mehr zu dem Schluß, daß es schädliche Verhandlungen gibt, Verhandlungen nämlich, die ein Teil des Wettrüstens sind.“ (Georgi Arbatow) 31

Abkürzungsverzeichnis:

ABM
Anti-Ballistic-Missile
ASW
Anti-Submarine-Warfare
ATB
Advanced Technology Bomber
CEP
Circular Error Probability
C3I
Command, Control, Communication, Intelligence
CMP
Counter Military Potential
d
delivery system
H
Hardness
ICBM
Intercontinental Ballistic Missile
INF
Intermediate Nuclear Forces
K
Lethality (Kill-Faktor)
kT
kilo-tons
MIRV
Multiple Independently Reentry Vehicle
MX
Missile Experimental
n
Zahl der Sprengköpfe
NAVSTAR
Navigation Sattellite Timing and Ranging
p
penetration

PK

Probability to Kill
r
reliability
SLBM
Sea-Launched-Ballistic-Missile
SS
Surface to Surface
SSBN
Ballistic Missile Carrying Nuclear Powered Submarine
SSKP
Single Shot Kill Capability
td
target destroyed
w
warhead
Y
Yield

Anmerkungen

1 Wolfgang Bruchmann: Krieg der Sterne. Reagans Himmelfahrtkommando und Kohls Gefolgschaftstreue. Zur strategischen Bedeutung von „SDI“ und „EVI“, ihre rüstungskontrollpolitischen Folgen und Konsequenzen für eine politische Strategie der Friedensbewegung; in: Statt Krieg der Sterne Abrüstung auf der Erde. Analysen und Dokumente aus der Arbeit der Grünen im Bundestag, Bonn 1985Zurück

2 o.A.V.: Sternenkriege. Illusionen und Gefahren; Moskau 1985, S. 30/31Zurück

3 Committee of Soviet Scientists for Peace, against Nuclear Threat: A space-based anti-missile-system with directed energy weapons; Strategic, legal and political Implications; Moscow 1984, p. 21 ff.Zurück

4 Bunn, Matthew/Tsipis, Kosta: Die Unsicherheiten eines nuklearen Präventivschlages; Spektrum der Wissenschaft, Januar 1984, S.20 ff.Zurück

5 Roßbach, Stefan: Überlegungen zur Methodologie militärischer Kräftevergleiche, Ebenhausen 1986, S. 43 ff.Zurück

6 ebenda, S. 49Zurück

7 Krell, Gert/Lutz, Dieter: Nuklearrüstung im Ost-West-Konflikt; Baden-Baden 1980, S. 144 ff.Zurück

8 Labusch, Reiner: Erstschlagstrategie und Erstschlagfähigkeit; in: Weltraum ohne Waffen, Hrsg. ders., Maus, E., Send, W.; München 1984, S. 122 ff.Zurück

9 Steinbrunner, John: Vergeltungsschlag bei nuklearem Angriff; in: Spektrum der Wissenschaft, März 1983, S. 54 ff.Zurück

10 s. Fußnote 3Zurück

11 Gorbatschow, Michail: Ergebnisse und Lehren von Reykjavik; Moskau 1986, S. 11, 32Zurück

12 o.A.V.: Von wem geht die Gefahr für den Frieden aus? Moskau 1984, S. 32 ff.Zurück

13 Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI): Yearbook 1979, London 1979, p.427 ff.Zurück

14 s. Fußnote 8, S. 134 f.Zurück

15 Systemdaten:- International Institute for Strategie Studies (IISS): Military Balance 86/87, London 1966, p. 200 - Norris, Robert: Counterforce at See; The Trident II Missile, in: Arms Control Today; Ed. by Arms Control Association,9/86, p. 5 ff. - Kemp, Geoffrey: Nuclear Forces for Medium Powers, Part l: Targets and Weapon Systems, in: Adelphi Papers No.106, p. 6 - SIPRI: Yearbook 1982, London 1982, p. 279 - Soule, Robert: Counterforce Issues for the U.S. Strategie Nuclear Forces; Congressional Budget Office; Washington 1978, p. 5. Weitere Ausführungen und Erklärungen: s. Wolfgang Bruckmann: Marschflugkörper - auf dem Wege zur „first Strike capability“? Eine Studie über technologische Entwicklung, strategische Bedeutung und rüstungskontrollpolitische Implikationen der Cruise Missiles; Bonn 1983 Zurück

16 Berman, R. P.; Baker, J. C.: Soviet Forces Requirements and Responses, Brooking-Institute, Washington D.C.1982, p. 103/137. Die Verfasser geben die Anzahl von 60 US-National-Command-Authority-Centers an. Für die Sowjetunion dürften ähnliche Bedingungen gelten. Zurück

17 s. Fußnote 7, S. 96 Zurück

18 Department of Defense (DOD): Soviet Military Power, Washington 1981, p. 6 f. Zurück

19 Lutz, Dieter: Die Rüstung der Sowjetunion, Baden-Baden 1979, S. 116 ff. Zurück

20 Wit, Joel S.: Neue Systeme zur U-Boot-Bekämpfung, in: Spektrum der Wissenschaft, April 1981 S. 58 ff. Zurück

21 I.I.S.S.: Military Balance 1986/87, a.a.O., p. 204 Zurück

22 Hafemeister, David: Advances in Verification Technology, in: Bulletin of the Atomic Scientists,1/85, p. 35 ff. Zurück

23 Garwin, Richard: Antisubmarine Warfare and National Security, in: Scientific American, Vol. 227, No.1, July 1972, p. 14 ff. Zurück

24 Bernard T. Feld/Kosta Tsipis, The Future of the seabased deterrent Mass., 1973, passim. Zurück

25 s. Fußnote 21, p.200 ff.Zurück

26 Die Zeit, Nr.44, 24.10.86 Zurück

27 ebenda Zurück

28 Bundesminister für Verteidigung: Weißbuch 1983. Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1983, S. 76 Zurück

29 FAZ 20.10.86 Zurück

30 s. Fußnote 26 Zurück

31 ebenda Zurück

Wolfgang Bruckmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Bundestagsfraktion der GRÜNEN

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1987/2 30 Jahre »Göttinger Erklärung«, Seite