W&F 2019/2

Die These der partizipativen Sättigung

von Klaus Harnack

Das Wort Partizipation ist zurzeit in aller Munde und wird in zahlreichen Wortkonstellationen zur Summe moderner Organisationsformen, sei es bei der partizipativen Demokratie, Führung und Gesellschaft oder bei eher trivialen Dingen, wie der partizipativen Museumsarbeit. Der Mensch soll wieder teilnehmen und nicht passiver Konsument seiner Rechte und Freiheiten sein. Er soll mit seiner Umwelt interagieren, um vom konsumistischen Objekt zum gesellschaftlichen Subjekt zu werden. Der Auftrag scheint klar, der Anspruch ist formuliert, doch die Realität sieht anders aus und die Frage, wie Partizipation forciert werden kann, bleibt vorerst offen.

Die Realität lehrt uns, dass die bloße Möglichkeit zur Partizipation noch keine hinreichende Bedingung darstellt, dass tatsächlich Partizipation stattfindet. Es scheint eines Impulses zu bedürfen, um den aktiven Partizipationsprozess zu starten. Auch wenn das Wort »aktive Partizipation« auf den ersten Blick ein weiterer weißer Schimmel im Stall der überflüssigen Wörter der Gegenwart zu sein scheint, könnte die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Partizipation zu einer Schlüsselstelle werden, wenn es darum geht, Partizipation zu stärken und zu unterstützen. Aber wie unterscheiden sich aktive und passive Partizipation?

Ein anschauliches Beispiel für eine passive Partizipation kommt aus der Welt des Theaters. Der reine Akt des Zuschauens wird als passive Partizipation verstanden. Der Zuschauer wird durch sein Betrachten zum Teil einer Situation, bei der er kontinuierlich die eigene Wahrnehmung interpretiert und sie im Laufe des Betrachtens in die eigene Realität einordnet. Es kommt zu einer »monologisierten«, auf die einzelne Person beschränkte Auseinandersetzung mit einem Inhalt und somit zur rudimentärsten Form der Partizipation. Diese Grundform ist für eine gesunde demokratische Kultur nicht weiter problematisch, solange die aktiven Formen die Überhand behalten. Im Gegensatz zur passiven hat die aktive Partizipation als Mindestanforderung den Dialog, die Auseinandersetzung mit einer weiteren Instanz, das Spiegeln und Reflektieren der eigenen Meinung im Gegenüber und das Abgleichen der jeweils individuell wahrgenommenen Realitäten.

Allerdings scheint es, dass die Gegenwart die passiven Formen begünstigt und ihnen einen ausgezeichneten Nährboden bietet. Zuschauen ist dank moderner Medien immer und überall möglich, ein kurzer Blick auf die Ereignisse und Meinungen des Tages ist schon längst bürgerlche Pflicht. Daraus ergibt sich die These der »partizipativen Sättigung«: Die Fülle dekontextualisierter Informationen, die in kleinen mundgerechten Happen täglich mehrfach serviert werden, führen zur passiven und aktiven Sättigung. Um die Worte von Neil Postman ins 21. Jahrhundert zu holen, amüsieren wir uns nicht zu Tode, sondern wir partizipieren uns zu Tode. Wir nehmen an allem ständig teil, von den Kriegen, Krisen und Nöten der Welt bis hin zu dem Liebesleben der Stars und Sternchen. Alles wird betrachtet, geliked und im Anschluss monologisiert verdaut.

In Folge dieser partizipativen Sättigung – genährt von der passiven Seite der Medaille – verkümmert die aktive Seite, ohne dass wir es merken. Hier besteht der Unterschied zur These der Politikverdrossenheit und der partizipativen Faulheit. Wir sind nicht faul, sondern gesättigt, es ist keine Eigenschaft, die uns kennzeichnet, sondern lediglich ein temporärer Zustand, der uns partizipatorisch erstarren lässt. Das ist der gute Teil an dem oben Beschriebenen, denn auch wenn man bei einer Sättigung keinen Hunger verspürt, kann der Appetit auf Teilhabe jederzeit wieder angeregt werden. Ein aktuelles Beispiel für einen gut funktionierenden partizipativen Appetizer sind die »Fridays for Future«-Demonstrationen. Diese partizipatorische Anregung hat viele Zutaten, die den Appetit auf aktive Partizipation anregen. Erstens dienen die Demonstrationen einem Ziel, das nur im Kollektiv erreicht werden kann. Zweitens haben sie einen Rhythmus, der, ähnlich einer zum Tanzen einladenden Musik, die Hemmschwelle zum Mitmachen verkleinert. Des Weiteren haben sie mit Personen wie Xiuhtezcatl Martinez, Felix Finkbeiner und Greta Thunberg bekannte Gesichter, die eine freundliche Einladung zur Teilhabe aussprechen, und die Bewegung formt eine Gemeinschaft, die notwendige Basis vieler Formen der Teilnahme.

W&F nimmt sich mit dem Schwerpunkt »Partizipation« eines Themas an, das als wichtige Stellschraube für den Frieden angesehen werden muss. Ohne die Teilhabe des Einzelnen können der Aufbau und die Wahrung des Friedens nicht realisiert werden. Deswegen untersuchen wir im Folgenden die Bedeutung von Teilhabeprozessen für den Frieden und beleuchten unterschiedliche Formen der Teilhabe. Des Weiteren fragen wir in dieser Ausgabe, welche Dinge, Personen, Systeme und Gegebenheiten Partizipation ermöglichen und welche anderseits Partizipation erschweren oder gar verhindern. Ich wünsche Ihnen erst viel Erkenntnis durch die passive Teilhabe an diesem Heft und dann viel Freude an der aktiven Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt.

Ihr Klaus Harnack

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2019/2 Partizipation – Basis für den Frieden, Seite 2