W&F 1991/1

Die Unabhängigkeit der Balten

Mit Nuancen zum gemeinsamen Ziel

von Manfred Klein

Vorzüglich abgestimmter Gleichklang in der politischen Öffentlichkeitsarbeit und koordiniertes Vorgehen der drei Baltischen Republiken in der Auseinandersetzung mit Moskau suggerieren dem Beobachter das Bild einer mit einheitlichen Voraussetzungen operierenden Interessengemeinschaft. Das Panorama hält nur an der Oberfläche aktuellster Interessenlage was es verspricht. Darunter offenbaren sich bei näherer Betrachtung historische und gegenwärtige Bedingungen für die politischen Perspektiven, die doch gravierende Unterschiede aufweisen.

Nationaler Mythos und Lutherbibel

Die augenfälligste Divergenz betrifft das Staatsbewußtsein bzw. dessen Grundlagen; Esten und Letten beziehen es auf die historisch kurzlebige Eigenstaatlichkeit der beiden Jahrzehnte zwischen den Weltkriegen. Vorher hatten beide Völker, kolonisiert von Deutschen, Skandinaviern und Russen, keine eigenen Staatswesen organisieren können. Ungleich tiefer in der Vergangenheit wurzelt hingegen der Nationalstaatsgedanke der Litauer, die im 14. und 15. Jahrhundert ein feudales Großreich errichtet hatten, dessen Grenzen von der Düna im Norden bis zum Schwarzen Meer im Süden reichten und das sie zuerst in eine dynastische Personal- und schließlich auch in eine politische Union mit Polen (Union von Lublin, 1569) einbrachten.

Vor allem die Schlacht bei Calgiris (Grünwald), die wir Deutschen als die von Tannenberg bezeichnen, ging als ein nationaler Mythos ersten Ranges aus dieser Vergangenheit in das Bewußtsein der Litauer ein. 1410 hatten an diesem Ort die vereinigten Heere des Großfürstentums Litauen und Polens den Deutschen Orden vernichtend geschlagen, dem damit ein weiteres Vordringen aus Ostpreußen über die Memel hinaus nach Litauen endgültig verwehrt war. Der Wille zur nationalen Selbstbehauptung verbindet sich seither bis in die Gegenwart mit diesem historischen Topos Calgiris.

Geriet Litauen im Zuge dieser Vorgänge nachhaltig unter polnisch geprägten kulturellen Einfluß samt der damit verbundenen katholischen Religion, so waren Esten und Letten im urbanen Umfeld der Hanse deutschen und skandinavischen Einflüssen ausgesetzt und wurden Protestanten, was sie größtenteils auch in den späteren Ostseeprovinzen – Estland, Kurland, Livland – des Russischen Reiches (seit 1705) blieben. Wann immer in der Gegenwart die ideologische Formel »Zurück nach Europa« bemüht und die kulturelle (und politische) Orientierung am »Westen« betont wird, vergißt man in Estland und Lettland nicht, an diese protestantische, nach Deutschland und Skandinavien tendierende, Tradition zu erinnern. Sie ist Grundlage des Bewußtseins, zu Mitteleuropa und damit zum Kulturkreis von Humanismus und Aufklärung zu gehören.

Die autochthonen Völker des Baltikums bilden auch ethnisch und sprachlich keine Einheit. Während Letten und Litauer mit ihren Sprachen den baltischen Zweig der indo-europäischen Völkerfamilie bilden, sprechen die Esten ein finnisch-ugrisches Idiom, das sie in die Lage versetzt, ihre geographisch nächsten Nachbarn, die Finnen, ohne Schwierigkeiten zu verstehen. Es war deshalb kein Wunder, daß die Esten in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg als die bestinformierten Sowjetbürger galten, waren sie doch in der Lage, die Sendungen der nahegelegenen finnischen Rundfunk- und Fernsehstationen zu verfolgen.

In Litauen wiederum konnte man die politisch wegweisenden Vorgänge des vergangenen Jahrzehnts in Polen aus erster Hand verfolgen; dank des jahrhundertelangen kulturellen Nahverhältnisses ist Polnisch immer noch eine in den Bildungsschichten geläufige Fremdsprache. Wenn auch insgesamt von einem historisch bedingten Bildungsvorsprung in den baltischen Republiken im Vergleich zu anderen Regionen der UdSSR gesprochen werden kann – in Litauens Hauptstadt Vilnius findet sich die älteste Universität der Sowjetunion (gegr. 1579) – so war doch bereits im 19. Jh. in den protestantischen Ostseeprovinzen ein ungleich höherer Alphabetisierungsgrad auch der bäuerlichen Bevölkerung erreicht als irgendwo sonst in Rußland. Auch Litauen konnte da keine Ausnahme bilden, maß doch die evangelische Lehre der Bibellektüre und dem Gebrauch des Gesangbuches entschieden mehr Bedeutung zu als die katholische.

Schließlich ist auch die erheblich frühere Bauernbefreiung in der durch die deutsch-baltische Ritterschaft geprägten Region (1804 und 1819) zu erwähnen, der die Aufhebung der Leibeigenschaft im übrigen Rußland, also auch in Litauen, erst 1861 folgte. Sie war, neben der Intensivierung der Landwirtschaft, einer relativ zeitigen und kräftigen Industrialisierung und Urbanisierung, vor allem der bedeutenden Hafenstädte Libau, Riga und Reval (Tallinn), förderlich. Zählte das Gebiet des heutigen Estland und Lettland schon vor dem Ersten Weltkrieg zu den Industriezentren des zaristischen Rußlands, so waren die litauischen Gouvernements im Vergleich dazu fast reine Agrargebiete mit wenig (an der Agrarproduktion orientierter) Kleinindustrie geblieben. In der Folge entwickelte sich vor allem in Lettland, aber auch in Estland eine zahlenmäßig stärkere, klassenbewußte Industriearbeiterschaft als in Litauen.

Die gemeinsam vorgetragenen Strategien der drei Baltischen Republiken zur Lösung aus der Sowjetunion stützen sich vorzugsweise auf die Parallelen in der jüngeren Geschichte und die durchaus ähnlichen leidvollen Erfahrungen ihrer Völker mit eben dieser Union. Entstanden im Machtvakuum nach Ende des Ersten Weltkrieges zwischen Deutschland und Rußland, aus dessen Territorium sie sich gelöst hatten, fanden sie zunächst die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit durch die bolschewistische Regierung Lenins (1920), gerieten jedoch allzu bald wieder in den Sog der sich neu entwickelnden imperialistischen Interessen der beiden Mächte. Litauen vermochte zudem von vornherein nicht, seine historisch begründeten territorialen Ansprüche zu behaupten: Das ebenfalls im Ergebnis des Ersten Weltkrieges wiedererstandene Polen besetzte den Südosten Litauens, das sog. Wilna-Gebiet mit der historischen Hauptstadt Vilnius (1920), womit der jungen Republik ein Konfliktherd ersten Ranges entstanden war. Im Westen eignete sich im Gegenzug Litauen das dem Völkerbund unterstellte Memel-Gebiet an (1923) und geriet damit in einen folgenreichen Gegensatz zum Deutschen Reich.

Gefährdete Demokratien

Der Aufbau demokratischer Staatswesen verlief in den drei Republiken in den beiden Jahrzehnten zwischen den Weltkriegen in vergleichbarer Abfolge: Parlamentarische Systeme und Verfassungen mit deutlichen Anklängen an die Strukturen der Weimarer Republik funktionierten nur relativ kurze Zeit und wichen autoritären Konstruktionen wie z.B. in Litauen, wo ein Präsident, Antanas Smetona, gestützt auf das Kriegsrecht mit diktatorischen Vollmachten von 1926 bis 1940 regierte. Lediglich in Estland gelang es, 1938 wenigstens teilweise zu einer demokratischen Verfassung zurückzukehren. Im Hinblick auf die späteren Ereignisse darf auch nicht verhehlt werden, daß in allen drei Republiken ein mehr oder weniger militanter Antikommunismus praktiziert wurde, der die Bolschewiki außer Landes oder in die Illegalität trieb.

Eines läßt sich auch aus historischem Abstand nicht behaupten: daß die Baltischen Republiken der Zwischenkriegszeit wirtschaftlich nicht überlebensfähig gewesen wären. Abgesehen von Weltwirtschaftskrise und Boykottmaßnahmen von außen (so durch Deutschland gegen Litauen im Zuge der Memel-Krise) erwiesen sich die Volkswirtschaften des Baltikums als im bescheidenen Rahmen stabil, – ein Umstand, der heute das Selbstvertrauen in eine erfolgreiche wirtschaftliche Zukunft auf eigenen Füßen erheblich stärkt. Auch ein anderes Problem der unmittelbaren Zukunft wurde in der ersten Jahrhunderthälfte schon einmal wenigstens im Ansatz vorbildlich – in den Verfassungen gelöst, wenn auch die Praxis dann mitunter zu wünschen übrig ließ: die Wahrung der Rechte nationaler Minderheiten, die es in den drei Ländern auch damals schon in bemerkenswertem Umfang gab.

Das Trauma der sowjetischen Annexion von 1940 verbindet sich für die Balten mit einer weiteren gemeinsamen Erfahrung: In der existentiellen Bedrohung ihrer Unabhängigkeit waren sie allein, Hitler und Stalin hatten ihre Interessensphären untereinander abgesteckt, Hilfe von außen war nicht zu erwarten. Dieser Situation der Isolation vorausgegangen war die Unfähigkeit der baltischen Staaten, zu einem wirklich verbindlichen Zusammenschluß in Form einer »Baltischen Entente« zu kommen. 1934 hatte es lediglich zu einem Konsultativ-Vertrag gereicht, der jedoch ausgerechnet alle militärischen Belange ausschloß. Vor dem Hintergrund dieses Versäumnisses ist der Schulterschluß der drei Republiken in der aktuellen Situation ein deutliches Signal auch für eine gemeinsame Zukunft. Bereits am 12. Mai 1990 beschlossen ihre Präsidenten bei einem Treffen in Estlands Hauptstadt Tallinn die »Wiederbelebung« jenes Baltischen Rates von 1934, die seither eine weitgehende Koordination des Vorgehens beim Kampf um die Unabhängigkeit ermöglicht.

Konfrontation und flexible Taktik

Koordination heißt, wie sich zeigt, nicht Gleichschritt, die unterschiedlichen historischen Voraussetzungen machen sich in der politischen Taktik bemerkbar. Litauens politische Opposition, im ersten Stadium der Perestrojka noch so kleinlaut, daß die Leute lieber die kühneren russischsprachigen Zeitungen lasen als die übervorsichtigen eigenen, mauserte sich seit dem Herbst 1988 zur kompromißlosesten Front gegen Gorbatschows Pläne für eine erneuerte Union.

Bewaffneter Widerstand gegen die Wiederherstellung der Sowjetmacht war nach 1944 in allen baltischen Ländern geleistet worden, – in Litauen dauerte er am längsten, bis 1952/53, forderte die meisten Opfer und die größte Brutalität bei seiner Niederschlagung, die Menge der Deportierten war beispiellos. Der seit Anfang der 70er Jahre wieder aufgenommene Widerstand formierte sich als »Helsinki-Komitee« und vor allem um die Untergrund-Zeitschrift »Chronik der Katholischen Kirche Litauens«. Nationale Bewegung und Katholizismus bilden in Litauens Geschichte seit dem 19. Jh. eine scheinbar unauflösliche Allianz, die sich auch bei der Bildung der Volksfront »Sajüdis« 1988 und den folgenden Massen-Manifestationen wieder bewährte. Demonstration, politisches Handeln, Gebet, Gesang und Gottesdienst verflechten sich in der politischen Alltagspraxis der Menschen zu emotional aufgeladenem »Wir«-Bewußtsein und erheblicher Bereitschaft zum Risiko.

Von Süd nach Nord zunehmende operative Vorsicht und Bereitschaft zu zäher Diplomatie charakterisieren in etwa die taktischen Varianten der Baltischen Völker im Kampf für das gleiche Ziel – korrespondierend dazu aber auch die Reaktionen der Moskauer Zentralregierung. Wie Litauen erklärten 1990 auch Estland und Lettland die Beitrittsakte zur UdSSR von 1940 für ungültig, ebenso beschlossen ihre Parlamente die Unabhängigkeit und benannten die »Sowjetrepubliken« zur »Republik Estland« bzw. »Unabhängigen demokratischen Republik Lettland« um. Im Gleichklang knüpften die drei Republiken damit staatsrechtlich an die de jure noch existenten Staatswesen der Zwischenkriegsjahre an, Estland setzte sogar am 8. Mai 1990 ausdrücklich die Präambel seiner historischen Verfassung wieder in Kraft. Dennoch vermieden die nördlichen Nachbarn Litauens die unmittelbare Konfrontation mit der Union durch den Verzicht auf sofortige Umsetzung ihrer Beschlüsse in die Praxis. Estland deklarierte einen »stufenweisen« Übergang zur Unabhängigkeit, während das lettische Parlament zugleich mit dem juristischen Akt Verhandlungen mit Moskau zu seiner Verwirklichung beschloß.

Ganz im Gegensatz dazu erklärte der »Oberste Rat der Republik Litauen« am 11. März 1990 nicht nur die Unabhängigkeit von der UdSSR und setzte deren Verfassung auf litauischem Territorium außer Kraft, sondern begann auch gleich mit der faktischen Umsetzung durch Ausübung von Hoheitsrechten in Legislative, Exekutive und Jurisdiktion. Die Reaktion des Volksdeputiertenkongresses bzw. des Präsidenten der UdSSR war zwar zunächst in allen drei Fällen formal gleich; die Beschlüsse der Parlamente in Vilnius, Tallinn und Riga wurden für ungültig erklärt; dennoch trafen vorläufig nur Litauen wirklich massive Maßnahmen.

Diplomatie als Ausweg

Eine ganz wesentliche Bedingung dieser abgestuften Schritte zur Lösung aus der UdSSR stellen, neben den erwähnten historischen Voraussetzungen, die unterschiedlichen ethnischen Mehrheitsverhältnisse in den Baltischen Republiken dar. Vergegenwärtigt man sich, daß die Litauer im Gebiet ihrer Republik 80% der Bevölkerung, die Esten entsprechend 65% und die Letten nur noch 54% ausmachen, dann wird deutlich, in wie unterschiedlichem Maße sich die Mehrheitsethnien jeweils zur politischen Rücksichtnahme auf die Minderheiten verpflichtet fühlen. Insbesondere der Anteil der Russen, der in Litauen zur Zeit bei etwa 9%, in Estland bei 28% und in Lettland bei 33% liegt, wird angesichts der potenten Schutzmacht sorgfältig ins politische Kalkül gezogen, zumal sie einen beträchtlichen Teil der Industriearbeiterschaft und technischen Intelligenz stellen und dementsprechend konzentriert an bestimmten Industriestandorten leben. Dort, wo sie arbeiten, meist in den Großbetrieben, die den Moskauer Ministerien unterstellt sind, findet sich auch der entschiedenste Widerstand aus der Bevölkerung gegen die Politik der völligen Unabhängigkeit. Litauen wird zudem noch mit den 7% Polen zu rechnen haben, die auf Autonomie in den von ihnen bewohnten Rayons im Südosten der Republik drängen, wobei der alte »Wilna-Konflikt« unversehens wieder aktualisiert werden könnte.

Wie immer schließlich die Konstruktionen unter Einschluß der Interessen der UdSSR und ihrer Russischen Republik (Stichwort: Kaliningrader Gebiet und der Zugang dazu) aussehen mögen, – ohne Respektierung der Souveränität der Baltischen Republiken und der Unabhängigkeitswünsche ihrer Bevölkerungsmehrheit wird eine Lösung der Spannungen in dieser Region nicht möglich sein. Wie der blutige Einsatz der Fallschirmjäger-Einheiten im Januar 1991 in Vilnius, später auch abgeschwächt in Riga, zeigte, ist die Bereitschaft zur Gewaltanwendung seitens der Zentrale nicht auszuschließen. Wenn auch jüngst wieder Verhandlungen zwischen Vilnius und Moskau begonnen wurden, – eine neuerliche gewalttätige Eskalation ist jederzeit denkbar. Über taugliche Strategien zur Vermeidung von Gewalt verfügen beide Seiten kaum, am wenigsten die Truppen des Innenministeriums oder gar Fallschirmjäger bei ihrer Konfrontation mit den Emotionen der Bevölkerung. Die litauische Führung ihrerseits hat wenig getan, eine solche Konfrontation zu verhindern, Trauer und Wut angesichts der erschossenen oder von Panzern zerfetzten Opfer unter der Bevölkerung wird auch nicht dazu beitragen. Zudem nimmt in Litauen die Neigung zur Bewaffnung nicht nur der eigenen Polizei, sondern auch von Zivilpersonen zu. Das mitunter chaotische Nebeneinander von Regierungs- und Exekutivorganen der Republik und der Unionsregierung – es gibt faktisch zwei getrennte Apparate – garantiert keinesfalls mehr Sicherheit, die Souveränität bleibt ohnehin Fiktion unter solchen Verhältnissen.

Der flexiblere Weg Estlands (und zum Teil auch Lettlands) hat bislang kaum weniger wirksame Schritte in die Unabhängigkeit gesetzt als der Parforce-Ritt Litauens. Da außenpolitische Reisen baltischer Politiker nicht wesentlich behindert wurden, sah man in beharrlicher Diplomatie und Sympathiewerbung (vor allem in den skandinavischen Ländern mit Erfolg) einen gangbaren Weg zur Verifizierung der Souveränität, der freilich Zeit kosten wird. Die wiederum ist angesichts der wirtschaftlichen Katastrophe und der Zerfallserscheinungen in der UdSSR knapp. Dennoch: der Schlüssel zur Lösung der baltischen Probleme liegt weiterhin in Moskau.

Dr. Manfred Klein, Historiker, Hochschullehrer an der Fachhochschule Bielefeld.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1991/1 Nach dem Golfkrieg, Seite