W&F 1988/4

Die Verantwortung der Wissenschaft

von Heiner Mählck / Detlev Reymann

Die Universität hat die Aufgabe, Wissenschaft und Kunst in freier Forschung, freier Lehre und freiem Studium zu pflegen. Sie versteht sich als Gemeinschaft von Personen, die im Bewußtsein der Verantwortung vor Verfassung und Gesellschaft für die Folgen ihres Tuns und im Geiste des Friedens forschen, lehren, lernen und hierzu beitragen.“
Am 8. Juni wurde vom Konzil der Universität Hannover eine Ergänzung der Grundordnung bzgl. einer Verantwortung der Wissenschaft im Geiste des Friedens beschlossen. Diese Ergänzung ist vor allem dem Wirken der Friedensinitiative an der Universität zuzuschreiben. Der folgende Artikel versucht das Zustandekommen des Beschlusses nachzuzeichnen und eine Bewertung vorzunehmen.

1. Friedensinitiative an der Universität Hannover

An der Universität Hannover besteht seit Anfang 1982 eine Friedensinitiative, die sich aus Angestellten und Studenten der unterschiedlichen Arbeitsbereiche zusammensetzt. Als universitäre Initiative versuchen wir, einen Beitrag bezüglich einer zivilen, menschengerechten Lehr- und Forschungsarbeit zu leisten. Gerade für die am Wissenschaftsprozeß Beteiligten besteht eine besondere Pflicht, den Mißbrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse zu militärischen Zwecken aufzudecken und zu verhindern. Naturwissenschaft und Ingenieurwesen können heute nahezu jede technologische Leistung erzielen und fast jede Veränderung erzwingen. In einer Gesellschaft, die raschem Wandel und Wachstum unterworfen ist, darf jedoch nicht mehr zugelassen werden, daß die Technik unkontrolliert Veränderungen erzeugt. Rationale Kontrolle aber ist unmöglich, ohne daß die Universitäten – und das Bildungswesen allgemein – neue Verantwortung im Dienste der Gesellschaft übernehmen.

Wir wissen, daß es an unserer Hochschule Rüstungsforschung gegeben hat und vermuten, daß es sie gegenwärtig gibt. Der direkte Nachweis dazu war uns bisher nicht möglich. Die Arbeit unserer Initiative war bisher ähnlich gestaltet wie die einer Stadtteilinitiative, mit dem Unterschied, daß wir speziell die Hochschulangehörigen angesprochen haben. Unser Wirkungsfeld war und ist die Hochschule, konkrete Friedensarbeit an und für die Hochschule war aber nicht unser Themenschwerpunkt.

Die Diskussion um den Schwerpunkt Verantwortung der Wissenschaft sollte einen Einstieg liefern in die Entwicklung direkter hochschulbezogener Friedensarbeit.

2. Verantwortung konkretisieren – Grundordnung ergänzen

Zu Beginn des Jahres 1987 begannen wir in der Initiative eine Diskussion darüber, wie an der Hochschule die Auseinandersetzung über die Verantwortung der Wissenschaft und speziell über die Verhinderung von Rüstungsforschung voranzutreiben ist. Ausgangsüberlegung war, ob es möglich sei, eine Art Hippokratischen Eid für Wissenschaftler/innen zu entwickeln und wenn ja, wie ein solcher Eid aussehen könne und wie er praktisch umzusetzen sei. Im Ergebnis gelangten wir zu der Überzeugung, daß eine Ergänzung der Grundordnung der Universität ein geeigneter Weg zur Verwirklichung dieser Zielsetzung sein könne. Auf diese Art sollte erstens eine hochschulöffentliche Diskussion initiiert werden und zweitens sichergestellt werden, daß sich spätestens auf der entsprechenden Konzilsitzung die Vertreter der wesentlichen politischen Strömungen der Statusgruppen zu dieser Frage äußern würden oder sich zumindest damit beschäftigen hätten müssen.

Am Anfang gab es in unseren eigenen Reihen aber auch sehr große Skepsis, ob dieser Initiative nicht sehr vehement der Vorwurf entgegengehalten werden würde, die Freiheit von Forschung und Lehre einzuschränken.

Die Ergänzung der Grundordnung sollte folgendes leisten:

  1. Die Angehörigen der Universität Hannover sollen verpflichtet werden, die Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen; eine Verantwortung in diesem Sinne ist nicht teilbar.
  2. Es sollte ein Minimum an ethischen Maßstäben festgeschrieben werden, die die Grenzen einer verantwortungsbewußten, menschengerechten Tätigkeit festlegen.
  3. Es sollte eine Formulierung gefunden werden, die eine Arbeitsverweigerung jedes Einzelnen rechtfertigt, der aus dem Bewußtsein der Verantwortung für die Folgen seines Tuns heraus an bestimmten Arbeiten nicht mitwirken will oder kann.

3. 11/2 Jahre Vorarbeit

Unser Anliegen wurde zusätzlich dadurch unterstützt, daß der Senat der Universität Anfang 1987 eine Arbeitsgruppe zur Erarbeitung einer Beschlußvorlage zum Thema »Rüstungsforschung an der Universität« einsetzte. In der Senatssitzung vom April 1987 empfahl diese Arbeitsgruppe dem Senat, keinen Beschluß zu fassen, mit der Begründung, daß die Friedensinitiative an der Universität eine breite Diskussion der Thematik anstrebe.

Einer unserer ersten Schritte bei der praktischen Umsetzung war die Kontaktaufnahme mit dem Initiativkreis Frieden und Wissenschaft der Universität Hannover, einer Gruppe, die seit einigen Jahren in unregelmäßigen Abständen Veranstaltungen zum Thema Frieden organisiert und fast ausschließlich aus Professoren besteht. Auf unseren Vorschlag hin wurde eine gemeinsame Redaktionskommission des Initiativkreises und der Friedensinitiative gegründet, die einen Entwurf für den Ergänzungstext erarbeiten sollte.

Um die Thematik hochschulöffentlich zu machen, wurde von der Friedensinitiative und dem Initiativkreis im Februar 1988 eine Podiumsdiskussion durchgeführt, die die »Verantwortung des Wissenschaftlers« zum Titel hatte. Als Podiumsteilnehmer nahmen fünf Professoren aus fünf unterschiedlichen Fachbereichen teil; die Diskussionsleitung übernahm der Präsident der Universität Hannover, Herr Prof. H. Seidel. Die Veranstaltung war so gut besucht, daß einige Interessenten keinen Platz mehr fanden; alle Beteiligten werteten die Veranstaltung positiv.

4. Verschiedene Positionen zur Verantwortung der Wissenschaft

Die Positionen zur Wahrnehmung der Verantwortung für das eigene Tun speziell auch im Zusammenhang mit Rüstungsforschung charakterisieren das unterschiedliche Selbstverständnis der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen (wir sind eine ehemals technische Universität) und geben die Hauptargumentationslinien zur Thematik sehr treffend wieder. Deshalb werden sie im folgenden zusammenfassend dargestellt:

Der Physiker H. Welling glaubt, daß alle Verantwortung übernehmen wollen, aber keiner wüßte wie. Wissenschaft werde immer betrieben, um den Lebensstandard zu erhöhen. Sie berge Chancen aber auch Risiken, und diese stiegen an und wären allmählich nicht mehr zu übersehen.

Der Soziologe O. Negt zitierte Jonas, für den Verantwortung tragen heißt, die Fernwirkung mit zu reflektieren. Verantwortung trüge beispielsweise ein Architekt, der sich weigere, sich am Bau von Atombunkern zu beteiligen, weil er wisse, daß es kein Leben nach einem Atomkrieg geben werde. Ein neuer geschichtlicher Tatbestand sei es, daß wir erstmals in der Lage sind, uns selbst und die Erde mit selbst produzierten Mitteln auf unabsehbare Zeit zu vernichten. In diesem Zusammenhang sei es sinnvoll, nur Dinge zu erforschen, die den Menschen ihre Freiheitsspielräume erweitern, und sich zu weigern, Herrschaftsmittel zu produzieren.

„Zum größten Teil forschen wir heute, weil wir es müssen; das sind wir der Menschheit schuldig,“ meint der Maschinenbauingenieur W. Rieß. Er sieht wenig Chancen, Kriege durch unterlassene Forschung zu verhindern. Es sei den Sozialwissenschaften bis heute nicht gelungen, Aggressivität und Konfliktbereitschaft der Menschen zu unterbinden. Wer Aggressionen umsetzen wolle, fände auch immer Mittel. Er meint: „Wir forschen, weil wir forschen müssen“. Die Gesellschaft lebe von den Errungenschaften der Technik, die von uns heute keiner mehr missen möge.

Eine Patentlösung für all die angesprochenen Probleme hätten auch die Juristen nicht, so H.-P. Schneider. Nach Artikel 5, Absatz 3 im Grundgesetz seien Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre frei; aber natürlich nicht frei von Verantwortung. Doch wie kann man verantwortlich handeln? Schneider sagt: „Ein Wissenschaftler darf nicht alles, was er weiß, wollen, zulassen wollen, realisieren wollen.“ Er müsse seine Erkenntnisse entscheidbar, also für die Gesellschaft transparent machen. Die Wissenschaft habe inzwischen eine so große Bedeutung erlangt und sei so wichtig geworden, daß man sie nicht allein den Wissenschaftlern überlassen könne. „Wir müssen uns davon lösen, daß Wissenschaft ein individuelles Problem ist.“ Es sei eine Binsenweisheit, daß es keine Verantwortung ohne Kontrolle gebe, d.h. Kontrolle durch Kollegen und die Gesellschaft.

Der Historiker H. Callies vertritt die Ansicht, daß jeder Wissenschaftler verpflichtet ist, die Öffentlichkeit über seine Ziele zu informieren.

5. Der Antrag

Es war in der Folge nicht möglich, einen gemeinsamen Entwurf der Redaktionskommission zu erarbeiten. Einigkeit bestand lediglich darin, daß die Grundordnung in bezug auf die Verhinderung von Rüstungsforschung konkreter gefaßt werden müsse. Die Inhalte dieser Diskussionsveranstaltung, ein vorab von der Friedensinitiative vorgelegter Entwurf sowie ein Informationsgespräch mit Mitgliedern des Konzils bildeten schließlich die Grundlage des Antrags zur Änderung der Grundordnung der Universität Hannover, der dann von der Friedensinitiative am 08.06.1988 für die Beschlußfassung im Konzil vorgeschlagen wurde:

„Die Universität verpflichtet sich, Forschung, Lehre und Studium ausschließlich für die Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen einzusetzen. Aus der Verantwortung der Wissenschaft heraus sind die Mitglieder dieser Universität verpflichtet, die gesellschaftlichen und moralischen Aspekte ihrer Arbeit zu bedenken, schädliche Folgen zu vermeiden und jeglichem Mißbrauch entgegenzutreten. Von den Mitgliedern der Hochschule wird erwartet, daß sie für Frieden und Entspannung eintreten. Insbesondere gilt:

  1. Die Beteiligung an der Planung, Konstruktion, Verbesserung, Herstellung oder dem Vertrieb von Kampfstoffen, Waffen, Waffenteilen oder Waffensystemen ist zu versagen.
  2. Der Verbreitung oder Förderung von Feindbildern oder von Fremdenhaß ist entgegenzuwirken.
  3. Zuarbeiten, die auf direkte oder indirekte Weise Rüstungsprojekte unterstützen, sind abzulehnen.
  4. Wer als Mitglied der Universität feststellt, daß seine Arbeiten im Sinne von a), b) oder c) mißbraucht werden, ist verpflichtet, dies öffentlich zu bekunden“.

6. Der Beschluß

Die Diskussion dieses Antrages im Konzil wurde weitestgehend von den Podiumsteilnehmern der Diskussionsveranstaltung und von den Mitgliedern der Kommission für die Erarbeitung einer Beschlußvorlage getragen. Grundsätzlich wurde der Sinngehalt dieses Antrages nicht in Frage gestellt. Die Diskussionsbeiträge beschäftigten sich einerseits mit den gewählten Formulierungen und andererseits mit der Realisierung der gesteckten Ziele unter Berücksichtigung der Freiheit von Wissenschaft und Kunst, Forschung und Lehre.

Eine besondere Rolle bei der Diskussion spielte dabei die Schwierigkeit der Bewertung von Grundlagenforschung. Juristische Fragen wurden dadurch berücksichtigt, daß sich die dann gewählte Formulierung eng an die Formulierungen des Grundgesetzes anlehnt.

Am Ende wurde mit großer Mehrheit (96:16) ein zweiteiliger Beschluß gefaßt: Erstens wurde die Grundordnung der Universität Hannover im §2 ergänzt (Ergänzung fett gedruckt).

§ 2 Aufgaben

(1) Die Universität hat die Aufgabe, Wissenschaft und Kunst in freier Forschung, freier Lehre und freiem Studium zu pflegen. Sie versteht sich als Gemeinschaft von Personen, die im Bewußtsein der Verantwortung vor Verfassung und Gesellschaft FÜR DIE FOLGEN IHRES TUNS UND IM GEISTE DES FRIEDENS forschen, lehren, lernen und hierzu beitragen.

Zweitens beschloß das Konzil, eine Arbeitsgruppe (Paritätische Zusammensetzung mit je 4 Mitgliedern aller Statusgruppen) einzusetzen, die sich mit der konkreten Umsetzung der vom Konzil beschlossenen Ergänzung des 2 Abs. 1 der Grundordnung befassen soll.

Mit Erlaß vom 14.07.1988 wurde die Änderung der Grundordnung der Universität vom Minister für Wissenschaft und Kunst genehmigt.

7. Wie bewerten wir dieses Ergebnis?

Der erste Teil des gefaßten Beschlusses bleibt in seiner Substanz zwar deutlich hinter unserem Antragsentwurf zurück. Trotzdem halten wir das Ergebnis für einen beachtenswerten Erfolg. Die Tatsache, daß die Verantwortung für das eigene Tun und der Frieden nachträglich und gemeinsam in die Grundordnung aufgenommen wurden, spiegelt unseres Erachtens nach eine reale Veränderung im Bewußtsein der Mehrheit der wissenschaftlich Tätigen unserer Hochschule wider. Diese Veränderungen lassen sich auf Veränderungen im Bewußtsein der Bevölkerung zurückführen und beziehen sich beispielsweise auf Punkte wie »Glaubwürdigkeitsverlust der Abschreckungsideologie«, »Skepsis gegenüber der Beherrschbarkeit komplexer Technik« und »Tendenzen zu ganzheitlichem Denken«.

Wäre auch die ursprünglich vorgeschlagene Formulierung eindeutiger, so verbessert der Beschluß doch die Bedingungen für Friedensarbeit an der Hochschule.

Durch unsere Arbeit ist es über einen relativ langen Zeitraum gelungen, die hochschulöffentliche Diskussion zum Thema »Verantwortung der Wissenschaft« voranzutreiben und aufrecht zu erhalten; insbesondere der zweite Teil des Beschlusses bietet Gewähr für Kontinuität in dieser Frage.

Wenn dieser Beschluß mit Leben gefüllt wird, bietet er ggf. auch dem einzelnen wissenschaftlich Tätigen die Möglichkeit, in seinem Arbeitsbereich Grenzen zu sehen, zu setzen und Konsequenzen zu ziehen.

Möglich geworden ist dieser Beschluß vor allem durch eine langjährige kontinuierliche Arbeit und bestehende Friedens-Infrastrukturen an unserer Hochschule, die teilweise so durch uns für einige Zeit »wiederbelebt« wurden. Jeder Gruppe, die sich an ähnliche Projekte heranwagt, sei langer Atem und viel Geduld angeraten. Es erscheint uns wenig erfolgversprechend, über einen ähnlichen Antrag ohne gründliche Vorbereitung abstimmen zu lassen.

Als wichtiges Element hat sich im Laufe der Zeit ebenfalls herausgestellt, daß man in Diskussionen um die Verantwortung der Wissenschaft und deren Konsequenzen Verständnis für unterschiedliche Wissenschaftsauffassungen entwickelt. Nicht alle, die die Freiheit der Wissenschaft durch Einschränkungen der (Rüstungs-)Forschung gefährdet sehen oder die Bewertung von Forschung für schwierig halten, sind Verfechter gedankenloser Forschung. Nur wenn derartige Fragen fachbereichsübergreifend ernst genommen werden, kann ein breiter Konsens erzielt werden.

8. Ausblick

Zum Abschluß skizzenhaft einige Vorstellungen, die wir in die Diskussion um die Konkretisierung des Beschlusses einbringen werden.

Wir könnten uns vorstellen, die alte Tradition eines »dies academicus« wieder ins Leben zu rufen, so daß z.B. einmal im Jahr in Verantwortung der Hochschulgremien, organisiert durch die Hochschulleitung, das Thema »Verantwortung der Wissenschaft« an einem vorlesungsfreien Tag zur Diskussion gestellt wird.

Überhaupt ließe sich die Verantwortung der Hochschulleitung personifizieren, indem z.B. für eine/n der Vizepräsidenten die Aufgabe eines/r Friedensbeauftragen (analog Frauenbeauftragte) geschaffen würde. Ihm/Ihr obläge dann die Durchführung des skizzierten »dies academicus«, er/sie hätte die Aufgabe, regelmäßig Forschungs- und Lehraktivitäten zum Thema festzuhalten, anzuregen und zu veröffentlichen. Sie/Er wäre auch nach außen hin Ansprechpartner für dieses Thema.

In der Diskussion befindet sich auch noch der Vorschlag, eine Selbstverpflichtung zum Thema »Verantwortung und Rüstungsforschung« zu entwerfen, die jedem Mitglied der Hochschule vorgelegt werden soll.

Die weitestgehende Idee geht bislang dahin, zu prüfen, ob nicht auch an unserer Hochschule ein Institut für Konflikt- und Friedensforschung eingerichtet werden könnte. Eine ehemals Technische Universität böte dabei gute Möglichkeiten zur interdisziplinären Arbeit.

Dr.-Ing. Heiner Mählck vormals Inst. f. Arbeitswissenschaft und Didaktik des Maschinenbaus, Universität Hannover / Dipl. Ing. agr. Detlev Reymann Inst. f. Gartenbauökonomie A, Universität Hannover

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1988/4 Die neue nukleare Aufrüstung: Großbritannien und Frankreich, Seite