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W&F 1988/3

Die Verantwortung der Wissenschaftler.
Ein Interview mit Prof. John Holdren

von Prof. John Holdren, Wolfgang Liebert und Götz Neuneck

Der amerikanische Physiker John P. Holdren hielt sich 1987/88 ein halbes Jahr in Europa auf. Er ist Professor in der Arbeitsgruppe „Energie und Ressourcen“ an der Universität Berkeley/Kalifornien. Er war Physiker an der Theoriegruppe der Abteilung für magnetische Fusion am Lawrence Livermore Laboratorium, Senior Research Fellow am Labor für Umweltqualität und der Abteilung für Sozialwissenschaften am Californian Institute of Technology. John Holdren beschäftigte sich in über 180 Publikationen mit Plasmatheorie, Energietechnik und Politik, Ökologie, regionalen und globalen Umweltfragen, Bevölkerungspolitik, Technologie, Entwicklungspolitik und nuklearer Rüstungskontrolle. J. Holdren ist Chairman des Exekutivkomitees der renommierten Pugwash-Bewegung, einem internationalen Zusammenschluß von Wissenschaftlern in Sachen Friedens-, Abrüstungs- und Überlebensfragen, und er war Vorsitzen der der Federation of Arnerican Scientists (FAS). In Zusammenhang mit einem Gespräch über die Rolle der Wissenschaft im Nuklearzeitalter führten die Physiker Wolfgang Liebert und Götz Neuneck vom Institut für Interdisziplinäre Forschung und Ökologie - Düsseldorf in Sternberg am dortigen Max-Planck-Institut das folgende Interview.

W&F: Prof. Holdren, Sie haben sich ein halbes Jahr in Europa aufgehalten und konnten mit vielen europäischen Wissenschaftlern, Politikern und Militärs sprechen. Sehen Sie Unterschiede in der augenblicklichen sicherheitspolitischen Debatte in den USA und in Europa?

Holdren: Man unterschätzt leicht die Komplexität der Debatten auf beiden Seiten des Atlantik, und oft werden die eigentlichen Ansichten radikal vereinfacht. Dies gilt besonders, wenn man die europäische Diskussion von den Vereinigten Staaten aus beobachtet und umgekehrt. Wenn ich trotzdem einige allgemeine Schlüsse ziehen soll, würde ich sagen, daß man in der sicherheitspolitischen Debatte in den USA seit langem und so auch jetzt mehr Gewicht auf die Technologie legt, während in der entsprechenden Debatte in Europa mehr Gewicht auf die Politik gelegt wird. Damit meine ich zum Beispiel, daß man in den Vereinigten Staaten mehr aber die technischen Eigenschaften von SDI-Waffen als über die politischen Begründungen und Auswirkungen der Forschung an solchen Waffen hört und liest, während in Europa das Gegenteil der Fall ist Außerdem erfährt man in der amerikanischen Debatte mehr über die technischen Möglichkeiten zur Verifizierung bei Abrüstungsverträgen und weniger über die politischen Bedingungen, die mit Verifizierungsanforderungen zusammenhängen, als dies in Europa der Fall ist.

W&F: Inzwischen wurde der INF-Vertrag über die Abschaffung der Mittelstreckenraketen unterzeichnet. Alle erhoffen ein positives Ergebnis der START-Verhandlungen, die die ungefähre Halbierung der strategischen Potentiale erreichen sollen Dies könnte ja der Durchbruch für tiefgreifende Abrüstung sein. Setzt dies eine Dynamik in Gang, die erfolgversprechend ist?

Holdren: Der INF-Vertrag hat nicht nur hohe Erwartungen in der Öffentlichkeit geweckt sowie eine gewisse politische Bereitschaft für weitere nukleare Abrüstung geschaffen, sondern er hat auch drei wichtige Präzedenzfälle etabliert, die weitere Reduktionen erleichtern werden:

Erstens werden zwei Kategorien der modernsten Nuklearwaffen abgebaut und verschrottet; zweitens geben die Russen viermal so viele Nuklearköpfe ab wie die Amerikaner, und dies schreibt ein sehr wichtiges Prinzip fest, nämlich daß die Seite, die mehr hat, auch mehr abgibt; und drittens wurde zum ersten Mal eine sehr strenge Kontrolle und Verifikation von beiden Seiten akzeptiert.

Meiner Ansicht nach sind die Chancen für Reduktionen im Bereich strategischer Waffen in den nächsten Monaten ziemlich gut, aber möglicherweise weniger als fünfzig Prozent erreicht Die größten Schwierigkeiten liegen auf dem Gebiet der seegestützten Cruise-Missiles und der luftgestützten Nuklearwaffen. Es wäre aber auf jeden Fall ein immenser Schritt, mit der Reduzierung der interkontinentalen Kernwaffen zu beginnen.

W&F: Bestehen auch Aussichten auf eine konventionelle Abrüstung, die ja für Europa besonders wichtig ist? Bieten Defensivkonzepte eine Möglichkeit, konventionelle Stabilität bei niedrigen Potentialen zu erreichen?

Holdren: Es gibt keinen Ausweg aus dem Nuklearrüstungswettlauf, ohne daß wir eine Lösung im konventionellen Bereich schaffen, bei der eine gewisse Stabilität in bezug auf die konventionellen Streitkräfte entsteht. Stabilität in dieser Beziehung heißt: Erstens, daß der Angreifer keine Vorteile aus seinem Angriff zieht, sondern große Verluste erwarten muß; zweitens, daß es keinerlei Anreiz zu einem Rüstungswettlauf Im konventionellen Bereich gibt, weil alle Versuche, eine offensive Überlegenheit zu schaffen, keine guten Aussichten bieten. Arbeiten in die Richtung „Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ wie sie zum Beispiel in dem Forschungsprojekt „Stabilitätsorientierte Sicherheitspolitik“ in Starnberg durchgeführt werden, sind in dieser Beziehung bedeutungsvoll.

W&F: Bei Rüstungskontrollverträgen wurde bisher versucht, durch Festlegung von Obergrenzen bis hin zur Beschränkung von Testmöglichkeiten den Rüstungswettlauf zu beschneiden. Müßten zukünftige Rüstungskontrollverträge nicht in einem früheren Stadium der Waffenentwicklung, z.B. in der Laborphase, eingreifen?

Holdren: Der Vorteil von Testbeschränkungen im Freien im Gegensatz zu Beschränkungen im Labor liegt darin, daß sich Tests im Freien besser beobachten lassen als Vorgänge im Labor. Es wäre natürlich ein entscheidender Schritt, wenn es gelänge, Waffenentwicklungen im Labor zu beschränken, aber im Moment fehlen die entsprechenden Überprüfungsmöglichkeiten, die solche Beschränkungen realisierbar machen konnten.

W&F: Momentan wird wieder über ein vollständiges Teststoppabkommen (CTB = Comprehensive Test Ban) für Nuklearwaffen diskutiert. Wie schätzen Sie die Chancen für seine Realisierung und seine Auswirkungen ein?

Holdren: Ich bin ein Befürworter eines CTBs. Das Haupthindernis aber ist, daß solange die NATO auf der Möglichkeit eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen besteht, es einen Druck gibt, diese Waffen weiterzuentwickeln, das heißt auch zu testen. Dieser Druck entsteht aus der Idee, daß die Glaubwürdigkeit der Drohung, Kernwaffen einzusetzen, eine Überlegenheit auf der NATO-Seite im nuklearen Bereich erfordert, damit entweder der Einsatz von Kernwaffen einen militärischen Vorteil erzeugt oder die Eskalation zu höheren nuklearen Stufen den Warschauer Pakt stärker bestraft als die NATO. Möglicherweise wird in den nächsten Jahren eine Senkung der Schwelle von zugelassenen Nukleartests erreicht. Aber, ohne daß die NATO auf die Drohung mit dem Ersteinsatz verzichtet, ist ein vollständiger Teststopp unwahrscheinlich.

W&F: Wie beurteilen Sie im Zusammenhang mit den Nukleartests die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten für die Trägheitseinschlußfusion, die in den USA als geheimes Projekt laufen? Das könnte ja bedeuten, daß ein vollständiger Teststopp unterlaufbar wäre, weil ein Ersatz der unterirdischen Tests durch Laborexperimente möglich erscheint?

Holdren: Gewisse Prinzipien und Eigenschaften von Kernwaffen können durch Trägheitseinschlußfusion untersucht werden. Daraus ergeben sich zwei Fragen: erstens, inwieweit könnte die Entwicklung von Kernwaffen ohne Bombentests der klassischen Art weiterverfolgt werden; zweitens rechtfertigen die Aussichten, mit Trägheitseinschlußfusion eine Energiequelle zu schaffen, die zu erwartenden Konsequenzen, welche durch die Weiterverbreitung von Kenntnissen im Nuklearwaffenbereich entstehen?

Die erste Frage kann nicht mit öffentlich zugänglichen Informationen beantwortet werden, und vielleicht könnte dies auch dann nicht überzeugend beantwortet werden, wenn man alle existierende Informationen besäße.

Im Bezug auf die zweite Frage bin ich der Meinung, daß die Aussichten von Trägheitseinschlußfusion, eine Energiequelle zu werden - die ich weniger erfolgversprechend als die von Magnetfusion ansehe -, nicht die Gefahren aufwiegen, die im Bereich der Entwicklung von Thermonuklearwaffen entstehen.

W&F: Der Anteil staatlicher Forschungs- und Entwicklungsmittel für militärische Ziele ist in den großen Militärnationen wie USA, Sowjetunion, Frankreich, Großbritannien immens. Die Verantwortung dafür liegt sicher bei den Politikern und allen Bürgern, die diese Situation dulden. Aber impliziert dies nicht auch eine besondere Verantwortung der Wissenschaftler?

Holdren: In den USA werden zwei Drittel der Forschungsausgaben der Regierung für militärische Zwecke verwendet. Leider wird es immer viele Wissenschaftler geben, die bereit sind, in gut bezahlten Projekten zu arbeiten, egal ob sie militärisch oder zivil sind und egal, ob das Projekt einen Sinn hat. Dies bedeutet, daß die Lösung für diese verdrehten Forschungsprioritäten mindestens teilweise im politischen Bereich zu finden ist, wo das Geld ausgegeben wird. Nichtsdestoweniger ist zu hoffen, daß der einzelne Wissenschaftler immer stärker seine persönliche Verantwortung in seine Arbeitswahl einfließen läßt.

W&F: Was halten Sie von der These, daß die Wissenschaft selbst ein treibender Faktor im Rüstungswettlauf ist?

Holdren: Der Rüstungswettlauf wird von mehreren Faktoren angetrieben am wichtigsten sind der technologische Wandel, das Streben des Militärs nach Überlegenheit und die Ängste von Politikern und der Öffentlichkeit. Im Bezug auf den technologischen Wandel sind die Interessen der Rüstungsindustrie und bestimmte Eigenschaften von Wissenschaftlern und Technikern entscheidend. Ein Wissenschaftler, der eine neue Idee hat, Möchte diese im Experiment ausprobieren. Ein Techniker, der an einem Waffensystem arbeitet, bezieht seinen Erfolg daraus, daß sein Produkt später auch produziert wird. Diese leicht verstehbaren Eigenschaften fahren dazu, daß fast jede neue Idee getestet wird und fast jede Entwicklung zur Produktion führt.

W&F: Viele Wissenschaftler sagen, wissenschaftliche Erkenntnis sei prinzipiell ambivalent. Es gibt sicher Beispiele, für die das zutrifft, vielleicht die Computerwissenschaften. Könnte es nicht sein, daß die Generalisierung der Ambivalenzthese als Alibi-Argument herhält, um sich nicht mit dem Problem der militärischen Zielsetzung in der Forschung selber auseinandersetzen zu müssen?

Holdren: Es gibt viele Fälle, in denen eine solche Ambivalenz wirklich vorhanden ist. In vielen anderen Fällen ist es sicher wahr, daß die Ambivalenz übertrieben wurde und als Alibi herangezogen wurde, um das Versagen zu übertünchen, die Konsequenzen einer Entwicklung abzuschätzen.

W&F: Die „Verwissenschaftlichung des Krieges“ zieht eine „Militarisierung der Wissenschaft“ nach sich. Dies bedeutet eine starke Blockierung wissenschaftlicher Kreativität mit indirekten Auswirkungen auf die Offenheit vieler globaler Weltprobleme. Welche Fragen hätte ihrer Meinung nach die Wissenschaft eigentlich anzugehen?

Holdren: Die Menschheit ist konfrontiert mit vielen komplizierten Problemen, die die Aussichten auf eine lebenswerte Zukunft bedrohen. Diese Probleme - wie zum Beispiel Umweltverschmutzung, die ungesicherte zukünftige Energieversorgung, die weitverbreitete Armut (und das nicht nur in der Dritten Welt und die nötige Entwicklung einer umweltverträglichen Landwirtschaft - können nicht durch wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt allein gelöst werden, weil auch politische, ökonomische und administrative Schwierigkeiten eine wichtige Rolle bei diesen Problemen spielen. Die Wissenschaft und die Technologie müssen jedoch einen wesentlichen Beitrag zu den Lösungen dieser Probleme leisten, und dies ist nicht zu erwarten, solange das Wettrüsten so viele geistige und materielle Ressourcen verschlingt.

W&F: Von der Erkenntnis der Vernetztheit der Weltprobleme zu ihrer Lösung ist ein weiter Weg. Sie versuchen seit Jahren, in Berkeley in Forschung und Lehre interdisziplinäre Ansätze zu entwickeln. Wie sieht diese Arbeit aus?

Holdren: Im Jahre 1973 haben wir an der Universität Kalifornien in Berkeley ein neues Forschungs- und Lehrprogramm eingerichtet, in dem der Schwerpunkt unserer Arbeit die Wechselwirkung von wissenschaftlichen, technologischen, ökonomischen, politischen und anderen Aspekten auf die komplizierten Probleme in den Bereichen Energie, Umwelt, Entwicklung und internationale Beziehungen ist. Es werden dort in einer Art von Aufbaustudium (nach dem „undergraduate“ Diplom) Studenten bis hin zu „Masters Degree“ oder Doktorat in diesem interdisziplinären Fachgebiet ausgebildet. Außerdem werden spezielle Forschungsprojekte durchgeführt, Studien und Gutachten erarbeitet. Vier Lehrstühle betreuen dieses Programm, zusätzlich haben wir die zeitweilige Teilnahme von 75 Professoren u.a. aus folgenden Fachbereichen: Physik, Chemie, Biologie, Ingenieurwissenschaft, Ökonomie, Politikwissenschaft, Soziologie und Jura. Zur Zeit gibt es 50 Studenten in diesem Programm.

W&F: Gibt es für Eure Studenten einen Arbeitsmarkt in Amerika?

Holdren: Es gibt einen sehr guten Arbeitsmarkt für unsere Studenten, und zwar nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa und in der Dritten Welt. In Amerika finden unsere fertig ausgebildeten Studenten Stellen z.B. beim Office of Technology Assessment und anderen Ämtern und Ministerien der Bundesregierung, bei entsprechenden Behörden in den einzelnen Bundesländern, bei der Industrie, bei den nationalen Laboratorien und bei anderen Universitäten, die ebenfalls beginnen, solche Programme durchzuführen. Im Ausland arbeiten unsere ehemaligen Studenten in Energieministerien, der Energieindustrie, in eigenständigen Forschungsstellen und in internationalen Organisationen.

W&F: Die Chance und den Willen, an solchen Projekten mitzuarbeiten, hat nicht jeder Naturwissenschaftler. Was kann ein normaler Wissenschaftler tun, um seine besondere.Verantwortung wahrzunehmen?

Holdren: Wenn jeder einzelne Wissenschaftler zehn Prozent seinerzeit benutzen würde, um die Wirkungen von wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen abzuschätzen und sich darum kommen würde, daß vernünftige politische Entscheidungen über die Anwendungen dieser Entwicklungen vorbereitet werden, dann wäre viel erreicht.

W&F: Sie sind Präsident der Federation of American Scientists (FAS) gewesen und zur Zeit Chairman des Executive Committee der renommierten Pugwash-Bewegung. Wie arbeitet Pugwash heute?

Holdren: In den etwa dreißig Jahren seit der ersten Pugwash-Konferenz hat es ca. 130 Pugwash-Konferenzen, Symposien und Sitzungen von Arbeitsgruppen gegeben, in denen mehrere Tausende von Wissenschaftlern, Politikern und Persönlichkeiten aus dem militärischen Bereich teilgenommen haben. Ergebnisse dieser Reihe von Tagungen sind u.a. eingegangen in wichtige Grundlagen des beschränkten Atomteststopp-Abkommens (1963), des Vertrags über Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen (1968), des ABM-Vertrages (1972) und der Konvention über biologische Waffen (1972). Gegenwärtig laufende Pugwash-Tagungen und Arbeitsgruppen befassen sich mit strategischen Nuklearwaffen und Weltraumwaffen, mit konventionellen Streitkräften, mit chemischen Waffen, mit gemeinsamer Sicherheit in Europa und mit verschiedenen Nord-Süd-Problemen.

W&F: Pugwash versucht ja u.a. durch Beratertätigkeit auf hoher politischer Ebene seine Ziele zu verwirklichen. Die Friedensbewegung versucht traditionell, durch Entfaltung politischen Drucks von unten ganz ähnliche Ziele durchzusetzen. Sehen Sie da einen Widerspruch?

Holdren: Ich sehe keinen Widerspruch darin, eher eine Art Symbiose. Politischer Wandel erfordert, daß die Entscheidungsträger die vorhandenen Möglichkeiten verstehen (wozu Pugwash-Beiträge und daß es eine gewisse Unterstützung und allgemeine Artikulierung in der Öffentlichkeit gibt (wozu die Friedensbewegung beiträgt). Dazu möchte ich sagen, daß wichtige Einsichten von Pugwash in die Friedensbewegung getragen werden und umgekehrt. Zusätzlich gibt es eine erhebliche beiderseitige Beeinflussung durch moralische Unterstützung - d.h., daß die Wissenschaftler von der Öffentlichkeit ermutigt werden und umgekehrt.

W&F: Wenn der Rüstungswettlauf wirklich ein Ende finden soll, wäre die letzte Konsequenz für Wissenschaftler die Verweigerung der Mitarbeit an militärischen Projekten. Andererseits sind einige der effektivsten Kritiker der aktuellen Rüstungspolitik Mitarbeiter und Berater von Waffenlabors. Ist dieser Widerspruch auflösbar? Provokativ formuliert: Muß man, um effektiv auch auf wissenschaftlicher Ebene für mehr Frieden arbeiten zu können, die Gegenseite kennen, also beispielsweise in der Rüstungsindustrie gearbeitet haben?

Holdren: In der Geschichte der Friedensbewegung haben Wissenschaftler mit Erfahrungen in der Entwicklung von Waffen eine besondere und wichtige Rolle gespielt. Schon 1945 z.B. haben Wissenschaftler, die im Manhattan-Projekt gearbeitet haben, die Vereinigung amerikanischer Wissenschaftler (Federation of American Scientists F.A.S.) und die Zeitung „Bulletin of Atomic Scientists“ gegründet. Der Zweck war hauptsächlich,. Entscheidungsträger und Öffentlichkeit über die Gefahren von Kernwaffen zu informieren. In den späteren, erfolgreichen Kämpfen für ein beschränktes Atomteststoppabkommen (1963), für den ABM-Vertrag (1972) und in der fortdauernden Debatte gegen SDI haben ehemalige Waffenentwickler, beispielsweise in den USA Herbert Yorck, Richard Garwin und Jack Ruina, entscheidende Rollen gespielt. Einige Gründe für die wichtige Rolle ehemaliger Waffenentwickler sind dabei hervorhebenswert. Erstens, wegen ihrer Erfahrung bei der Entwicklung von Waffen haben sie ein gutes Verständnis für die Nachteile und Gefahren solcher Waffen. Zweitens, wegen ihrer Beiträge zu der Entwicklung dieser Waffen fahlen sie eine besondere Verantwortlichkeit, die sie zum Nachdenken und zum Handeln treibt. Und drittens, wegen ihrer Fachkenntnis in bezug auf Waffentechnik haben sie eine gewisse Glaubwürdigkeit bei Entscheidungsträgern, die ihren „Wirkungsgrad“ im politischen Sinn natürlich erhöht.

Ich würde aber nicht behaupten, daß nur Wissenschaftler, die Erfahrung in der Rüstungsindustrie haben, eine wichtige Rolle in der Friedensbewegung gespielt haben oder spielen können. Auch primär zivil forschende Wissenschaftler sind in der Friedensbewegung dringend erforderlich.. Sie haben meist die Fähigkeit, technische und wissenschaftliche Zusammenhänge schnell zu erfassen und transparent zu machen, was für die öffentliche Debatte wichtig ist. Gerade Wissenschaftler haben eine gewisse Glaubwürdigkeit infolge der Annahme der Öffentlichkeit, daß sie diese Sachen von einem logischen und wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachten. Daraus folgt aber auch die Verantwortung, dieses Vertrauen zu rechtfertigen und nicht zu verlieren.

W&F: Wir danken für dieses Interview!

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1988/3 Strategie Arms Reduction Talks, Seite