W&F 2016/4

Die Weltordnung in der globalen Krise

von Ingar Solty

Die Position der USA als Supermacht und globaler Hegemon unterliegt seit Jahrzehnten starken Änderungen, und ebenso lange wird von manchen der bevorstehende Niedergang der USA prognostiziert. Diese Einschätzung greift aber zu kurz. Die USA haben seit dem Zweiten Weltkrieg ein globales System geschaffen, das die kapitalistischen Strukturen zu ihren Gunsten stabilisiert und für die Eindämmung der stärksten Konkurrenten China und Russland sorgen soll. Andererseits entstehen im Globalen Süden als Gegengewicht regionale Strukturen, denen zunehmend mehr Gewicht zukommt. Und die Zunahme globaler Konflikte ist ein Indikator dafür, dass die forcierte Vertiefung des globalen Kapitalismus die Gefahr neuer Kriege erhöht. Im Interesse der Menschen auf der Welt liegt diese Politik nicht.

Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Systemkonkurrenz endete 1991 auch die bipolare Weltordnung. Während manche mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion von einer unipolaren Welt unter Führung der USA ausgingen, war in den letzten Jahren viel vom Aufstieg einer multipolaren Weltordnung mit mehreren Machtzentren die Rede. Der Aufstieg der Schwellenländer, insbesondere der BRIC(S)-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) wird als ein Anzeichen einer neuen globalen Machtkonfiguration angesehen. Damit verbunden ist die These von einem – wenigstens relativen – Niedergang der USA, womit für den weltsystemanalytischen Theoretiker der Hegemoniezyklen, Giovanni Arrighi, zugleich die Angst vor „systemischem Chaos“ infolge des Konflikts zwischen einer absteigenden und einer aufsteigenden Hegemonialmacht (USA bzw. China) verbunden ist.

Einige Fakten scheinen tatsächlich für sich zu sprechen. Der Anteil der USA am globalen Bruttosozialprodukt ist langfristig betrachtet gesunken, von knapp 50 % am Ende des Zweiten Weltkriegs auf weniger als 25 %. Indes ist China zur industriellen Werkstätte der Welt avanciert. Sowohl die Errichtung der G2 (USA/China) als auch die Erweiterung der G7- bzw. G8-Staaten zu den G20 sprechen für einen Machtzuwachs der regionalen Mächte im Globalen Süden im Allgemeinen und Chinas im Besonderen.

Viel wurde in den letzten Jahren, ja Jahrzehnten über den Niedergang der USA geschrieben. Barack Obama wurde sogar als »Decline Manager« charakterisiert: Die Bush-Administration sei als Ausdruck imperialer Hybris zu interpretieren, Obama fahre die USA nun auf Normalmaß zurück. Dass Obama den »Krieg gegen den Terror« als Drohnenkrieg auf weitere Länder, wie Pakistan und den Jemen, ausgeweitet hat, in Libyen und Syrien einen desaströsen »Regime Change«-Krieg führt und auch in der Ukraine eine aggressive »Regime Change«-Politik verfolgt, die sich durchaus in Umzingelungsabsicht gegen Russland richtet, wird dabei oft übergangen.

US-Hegemonie und das Imperium des Kapitals

Was die Wahrnehmung des US-Niedergangs anbelangt, ist jedoch Vorsicht angesagt. Die »American Decline«-Debatten sind fast so alt wie der Status der USA als Supermacht und globaler Hegemon. Schon in den 1970er Jahren wurde im Zuge der Fordismuskrise und des Rückgangs des US-amerikanischen Anteils am globalen Bruttoinlandsprodukt von knapp 50 % auf unter 25 % binnen dreier Jahrzehnte, der einseitigen Aufkündigung des Bretton-Woods-Systems (der internationalen Währungsordnung mit dem US-Dollar als Leitwährung) 1971/73, der Niederlage der USA im Vietnamkrieg 1975, der weltpolitischen Spannungen entlang der West-Ost- und der Nord-Süd-Achse usw. über den hegemonialen Niedergang der USA diskutiert. Sie erholten sich jedoch aus dieser Krise nicht nur durch die Durchsetzung des Klassenmachtprojekts neoliberale Globalisierung. Bis heute sind die USA auf den verschiedenen Ebenen der „strukturalen Macht“ (Susan Strange) weiterhin führend: Politisch dominieren sie weiterhin die zentralen internationalen Institutionen (insbesondere die NATO, die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds/IWF), ihre Finanzmacht ist mit dem Dollar als Weltwährung und der Wall Street als sicherstem Kapitalanlageplatz der Welt weiterhin äußerst real, und es ist heute noch schwieriger als vor zehn Jahren, vom Euro als ernsthafter Konkurrenzwährung zu sprechen;1 ihre Militärausgaben übersteigen diejenigen Chinas und Russlands – ungeachtet derer Aufrüstungsbemühungen – um ein Vielfaches (zusammengenommen mit denen ihrer NATO-Verbündeten um mehr als ein Dutzendfaches); und die US-Kultur ist – von Harvard bis Hollywood – weiterhin global hegemonial. Gerade in dieser Beziehung ist die Vorstellung einer chinesischen oder russischen Hegemonie doch sehr abwegig.

Entscheidend ist es aber, die (historische) Rolle des US-Staates im globalen Kapitalismus und die damit verbundenen Veränderungen des Imperialismus zu begreifen. Die Bedeutung der USA in der neuen Weltordnung ist in ihrer Rolle als „Prototyp eines Globalstaates“2 zu sehen, der es sich nach dem Zusammenbruch des Weltmarktes in der Weltwirtschaftskrise und im Zweitem Weltkrieg zur Aufgabe gemacht hatte, den Kapitalismus mit einheitlichen Regeln und wechselseitiger Kapitaldurchdringung zunächst in der »Grand Area« des Westens zu rekonstruieren und nach 1991 global zu etablieren und – notfalls militärisch – zu managen.3 Insofern dabei der Markt nicht ohne den Staat gedacht werden kann, kann auch der globale Kapitalismus nicht ohne internationale Formen von Staatlichkeit existieren. Historisch waren es die USA, die die entsprechenden Institutionen schufen. Denn unter der Führung der imperialen USA hat sich der Kapitalismus dabei grundlegend gewandelt: Sowohl die Produktion als auch die Staaten wurden mittels der internationalen Institutionen (dem Allgemeine Zoll und Handelsabkommen/GATT und der Welthandelsorganisation/WTO im Bereich des Handels; der Weltbank, des IWF und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich für den Finanzsektor; der nach 1989/91zunehmend osterweiterten NATO im politisch-militärischen Bereich) internationalisiert.4 Die nationalen kapitalistischen Klassen und zwischenimperial(istisch)e Rivalitäten existieren zwar noch heute. Doch durch die Ausweitung der ausländischen Direktinvestitionen und die Transnationalisierung der Wertschöpfungsketten sowie die internationalen Institutionen ist eine zunehmend kohärente, transnationalisierte kapitalistische Klasse entstanden. In den einzelnen kapitalistischen, d.h. durch die transnationalen Konzerne durchdrungenen, Nationalstaaten wurden hierbei die transnationalisierten Kapitalfraktionen, die global exportieren und auch produzieren, im Verhältnis zu den eher national-binnenwirtschaftlich orientierten Kapitalfraktionen dominant, und sie haben ein ökonomisches und politisches Interesse an der Aufrechterhaltung einer einheitlichen, offenen, globalkapitalistischen Welt.

Die Grenzen des Imperiums des Kapitals

Zugleich aber existieren Grenzen dieses „Imperiums des Kapitals,5 insbesondere in Bezug auf China, Russland und Lateinamerika. Außerdem sind die finanziellen und politisch-militärischen Machtressourcen der USA und des EU-(Sub-)Imperiums, den globalen Kapitalismus durchzusetzen und zu managen, nicht unbegrenzt. Die Vision eines integrierten globalen Kapitalismus mit einheitlichen, d.h. zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern fundamental ungleichen, Spielregeln musste mit dem Scheitern der so genannten Doha-Verhandlungsrunde der WTO (2001-2008) begraben werden.6 Seither beschleunigt sich ein Prozess, bei dem die Globalisierung des Kapitalismus zugleich mit Projekten der regionalen Integration einhergeht, vor allem in Asien und Lateinamerika, aber auch in Afrika.

Damit ergaben sich jedoch zugleich neue Rivalitätspotenziale, insbesondere im Hinblick auf China als regionales Akkumulationszentrum der Erde, aber auch im Hinblick auf das im Zuge steigender Rohstoffpreise bis zum Beginn der Krise wiedererstarkte Russland. Der Aufstieg der BRIC(S)-Staaten, die Entstehung von Süd-Süd-Kooperationen und die kluge Außenwirtschaftsdiplomatie Chinas stellen die USA und ihr Imperium der kapitalistischen Kernstaaten des »Westens« vor eine große Herausforderung. Die zentrale Frage ist: Wie kann es ihnen gelingen, insbesondere das aufsteigende China zu den Bedingungen der US-geführten, kernkapitalistischen Staaten in den globalen Kapitalismus zu integrieren? (Historisch betrachtet gibt es kein Vorbild zu diesem Unterfangen, da etwa die Integration von Ländern wie Deutschland und Japan unter Bedingungen der militärischen Niederlage und Okkupation und auf der Höhe der US-amerikanischen Macht erfolgte.)7

Aus der Perspektive der US-amerikanischen und westlichen Imperialeliten ist dabei die Tatsache Besorgnis erregend, dass die regionale Integration in Teilen der Welt ohne US-Beteiligung fortschreitet. Dies gilt insbesondere für den eurasischen Raum mit der 2001 gegründeten Shanghai Cooperation Organization, der seit 2015 auch Indien und Pakistan angehören, und dem 2002 ins Leben gerufenen Asia Cooperation Dialogue, der auch bereits bestehende regionale Integrationsprojekte inklusive der Golfstaaten einschließt.

Tatsächlich sieht man in den USA diese Entwicklung sehr kritisch – auch und gerade, weil US-dominierte Freihandels- und Integrationsprojekte, wie die APEC, kriseln. Entsprechend ist die Transpazifische Partnerschaft (TPP), das Freihandels- bzw. Investitionsschutzabkommen-Äquivalent der USA zu TTIP, vor allem als geopolitischer Vorstoß zur Einbindung Chinas zu verstehen: China soll bewusst nicht zur TPP gehören und auf diese Wege eingedämmt werden. TPP bildet damit sozusagen das handelspolitische Äquivalent zu den zahlreichen bilateralen Militärabkommen, die die USA in den letzten Jahren mit den Anrainerstaaten Chinas (Japan, Philippinen, Vietnam, Australien, Indien etc.) abgeschlossen haben.8 Indes ist die Politik der Eindämmung des durch eingebrochene Rohstoffpreise und Wirtschaftssanktionen wieder geschwächten Russlands bereits so weit fortgeschritten, dass die USA und ihre EU-Verbündeten in der Ukraine bereits jetzt die NATO-Umzingelungspolitik an die unmittelbare russische Grenze vorschieben konnten, sich dabei aber gleich in zwei brandgefährliche regionale Stellvertreterkriege in der Ukraine und in Syrien verstrickt haben.

Globale austeritätspolitische Wende und Krise

Die Weltordnungsanalyse kann indes nicht von der politischen Ökonomie des globalen Kapitalismus und seiner Krise seit 2007 getrennt werden. Grundsätzlich ist es den kernkapitalistischen Staaten nicht gelungen, die Krise zu überwinden und den Kapitalismus auf stabilere Grundlagen zu stellen sowie einen neuen dynamischen Wachstumspfad zu beschreiten. Dies ist – geht man davon aus, dass sich der Kapitalismus in seinen großen Krisen auch durch den (kooptierten) Widerstand von unten erneuert9 – auch auf die historische Schwäche der Gegenkräfte zurückzuführen.

Aus der Krise der 1930er Jahre wurde zwar zunächst gelernt, dass die Antwort auf die finanzielle Kernschmelze und den dramatischen Rückgang der privaten Investitionstätigkeit (und ergo auch der Steuereinnahmen) nicht in einer Kürzung der öffentlichen Ausgaben liegen durfte, die in den 1930er Jahren die Krise ökonomisch, sozial und politisch vertieft und länderübergreifend den Aufstieg faschistischer und autoritärer Bewegungen begünstigt hatte. Im Grunde verfolgten zu Beginn der Krise von 2007ff. alle wichtigen Staaten der Welt eine Politik der fiskalischen Expansion mit großen Konjunkturprogrammen.

Die Vorstellungen einer grünkapitalistischen(oder gar post-neoliberalen) Reform zerschlugen sich jedoch im Frühjahr/Sommer 2010. Das Krisenmanagement der Staaten hat gezeigt, dass der Neoliberalismus mit Staatshilfe rekonstruiert, ja vertieft worden ist. Damit aber verharrt der Kapitalismus zugleich in seiner tiefen Krise,10 und die Eliten kaufen letztlich durch Ad-hoc-Maßnahmen lediglich Zeit.11 Im Frühjahr/Sommer 2010 leiteten mit den USA und der Europäischen Union die bis heute wichtigsten Wirtschaftsräume der Welt eine austeritätspolitische Wende ein. Das wettbewerbsstaatliche Ziel war nunmehr der Export. Dazu dienten nationale Wettbewerbsstrategien der inneren (und äußeren) Abwertung von Kosten und Löhnen.

Für die Weltordnung hat dies immense Folgen. Im Kontext bleibender struktureller Überakkumulation, chronischer Wachstumsschwäche und unprofitablem Kapital (als Cash-Geldreserven in den transnationalen Konzernen oder spekulativ in den Finanzmärkten) bedeuten die Austeritätsstrategien den Versuch, sich auf Kosten anderer Wirtschaftsräume gesundzustoßen. Die Exportüberschüsse der einen sind jedoch die Leistungsbilanzdefizite der anderen Staaten. Dies zeigt sich besonders dramatisch innerhalb des Euroraums, wo Währungsabwertungen für die (strukturellen) Defizitökonomien in der inneren Peripherie (Irland, Portugal, Spanien, Italien, Griechenland) keine Option sind. Entsprechend wird die Eurozone unter Bedingungen des offenen Vertragsbruchs und einer neuen Rolle der Europäischen Zentralbank in fragilem Zustand aufrechterhalten. Indes drohen die Zentrifugalkräfte innerhalb der Europäischen Union, diese sowohl entlang ihrer Nord-Süd-Achse (Austeritätspolitik) als auch entlang der West-Ost-Achse (Flüchtlingskrise) zu zerreißen.

Die Voraussetzung für das Funktionieren der exportorientierten Wachstums- und Wettbewerbsstrategien bedeutet jedoch zugleich die Forcierung weiterer Freihandelsabkommen. Zwar ist der Zusammenhang zwischen Freihandelsabkommen, Austeritätspolitik, Massenproletarisierung, Landflucht, Hyperurbanisierung, Prozessen des Staatszerfalls und neuen (Bürger-) Kriegen, die – wie der Fall Syrien zeigt – eben schnell zu regionalen Stellvertreterkriegen werden, mittlerweile weitgehend dokumentiert. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA von 1994 (USA, Kanada, Mexiko) und dem Zentralamerikanischen Freihandelsabkommen CAFTA von 2005 (USA, Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Dominikanische Republik) und dem Drogenkrieg in und Fluchtbewegungen aus Mexiko und Zentralamerika, aber auch für die Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit den Subsahara-Staaten.12

So wie im neuen »Weißbuch« der Bundeswehr keine Auseinandersetzung mit den desaströsen Ergebnissen der Kriegspolitik des »Westens« von Afghanistan über Irak bis Libyen und Syrien stattfindet, hinterfragen die europäischen Eliten auch nicht die Freihandelsphilosophie. Vielmehr forcieren sie weiter die so genannten Freihandels- und Investitionsschutzabkommen CETA (mit Kanada) und TTIP (mit den USA), die es Konzernen erlauben, Staaten für zukünftig entgangene Profite zu verklagen. Mit den Economic Partnership Agreements mit 47 afrikanischen, karibischen und pazifischen (AKP-) Staaten treiben sie überdies die finale Durchsetzung der harschen WTO-Regeln des reziproken Freihandels voran, von denen im Rahmen des Cotonou-Abkommens bislang wenigsten die ärmsten der armen AKP-Staaten verschont waren. Der »Westen« betreibt so im Interesse der transnationalen Konzerne eine brandstiftende Feuerlöschpolitik, bei der die Länder des Globalen Südens vollständig kapitalistisch durchdrungen werden, wodurch aber nur neue (Bürger-) Kriege gesät und am Ende mehr Flüchtlinge geerntet werden.

Der Asien-Schwenk der USA und Deutschlands neue Rolle im Imperium des Kapitals

Für die Weltordnung ergeben sich durch die globale austeritätspolitische Wende jedoch noch weitere Verschiebungen. In der Eurokrise hat diese Wende eine deutliche Machtverschiebung zugunsten Deutschlands und zuungunsten Frankreichs ergeben. Deutschland ist nun für China ebenso wie für die USA der wichtigste Ansprechpartner in der Europäischen Union. Mit dem »Brexit«, dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, der von der gesamten globalen Elite abgelehnt und bekämpft worden war, hat sich das Machtungleichgewicht in der EU nochmals verschoben.

Deutschlands Exportabhängigkeit hat sich dabei zunehmend aus dem EU-Raum heraus verlagert. Die strategisch und auch rüstungspolitisch offensive Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik entlang imperial-realistisch definierter, globaler Machtinteressen wurde in der Studie »Neue Macht – neue Verantwortung« der Stiftung Wissenschaft und Politik und des German Marshall Fund und im Koalitionsvertrag der Bundesregierung von 2013 sowie dem neuen Weißbuch des Verteidigungsministeriums vom Sommer 201613 niedergelegt. Diese Neuausrichtung ist insbesondere im Kontext zunehmend transnationalisierter Wertschöpfungsketten sowie einer gewachsenen Abhängigkeit von außereuropäischen Rohstoff- und vor allem Absatzmärkten zu sehen.14

Die neue deutsche Außenpolitik wird dabei – ungeachtet bleibender Differenzen und Konfliktlinien etwa in der Ukrainepolitik – von den »westlichen« Partnern und namentlich den USA nicht als Bedrohung angesehen. Vielmehr besteht die neue Rolle Deutschlands darin, den USA mit einer aktiveren Militär- und Interventionspolitik an den (un-) mittelbaren außereuropäischen Grenzen – Syrien, Ukraine, Mali, Somalia und auch Irak und Libyen – quasi den Rücken freizuhalten. Die USA können sich damit auf ihren »pivot to Asia« (Schwenk nach Asien) konzentrieren, der 2012 im Zuge der austeritätspolitischen Wende vollzogen wurde und mit der Erklärung des 21. Jahrhundert zu „Amerikas pazifischem Jahrhundert“15 einherging.

Der Schwenk der USA nach Asien wird dabei auch durch Veränderungen an den zwei anderen äußeren Rändern des kernkapitalistischen Imperiums erleichtert. Diese stehen mit dem tiefen Fall der Rohstoffpreise im Zuge der Krise in Zusammenhang. Es wäre zwar verfrüht, von einem vollständigen Ende des linken Regierungszyklus in Lateinamerika zu sprechen. Trotzdem stecken die neosozialistischen Entwicklungsmodelle und die auf Extraktivismus beruhenden Industrialisierungsstrategien in der Region in einer tiefen Krise. Dies gilt insbesondere für den Erdölsozialismus Venezuelas als Kernstaat des alternativen regionalen Integrationsprojektes »Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika« (ALBA) und des »Sozialismus im 21. Jahrhundert«. Damit sind jedoch auch die Versuche dieser Region, sich aus der Abhängigkeit vom Globalen Norden zu befreien, in die Krise geraten, und es wächst auch hier wieder der Einfluss der USA. Das für die USA »verlorene Jahrzehnt« scheint nicht länger verloren zu sein.

Gleichwohl zeigt die Zunahme der globalen Konflikte – der Kriege und Fluchtbewegungen – das Scheitern einer Politik der (Freihandels-) Vertiefung des globalen Kapitalismus an. Allerdings gehört die Forcierung von Konflikten an den Rändern des Empire zum Herrschaftsmodus der USA, von denen wiederum die anderen Staaten des kernkapitalistischen Westens bei der Durchsetzung ihrer (Kapital-) Interessen bis auf Weiteres abhängig bleiben werden. Mit der Forcierung der Konflikte sowohl an der antichinesischen Konfliktlinie am Südchinesischen Meer als auch der Konfliktlinie an der innereuropäischen Grenze zu Russland steigt jedoch auch die Kriegsgefahr weiter. Nicht nur deshalb widerspricht diese Politik den Interessen der breiten Bevölkerungen der Welt.

Anmerkungen

1) Altvater, E.; Mahnkopf, B. (2007): Konkurrenz für das Empire – Die Zukunft der Europäische Union in der globalisierten Welt. Münster: Westfälisches Dampfboot.

2) Panitch, L. (2002): Neuer Imperialismus – neue Imperialismustheorie. Z. Zeitschrift ­Marxistische Erneuerung, Nr. 52 (Dezember).

3) Zur Genealogie des globalen Kapitalismus und der Rolle der USA vgl. Panitch, L.; Gindin, S. (2012): The Making of Global Capitalism – The Political Economy of the American Empire. London/New York: Verso Books.

4) Cox, R.W. (1987): Production, Power and World Order – Social Forces in the Making of History. New York: Columbia University Press.

5) Wood, E.M. (2004): The Empire of Capital. London/New York: Verso Books.

6) Solty, I. (2015): Weltkapitalismusverfassung – 20 Jahre WTO. junge welt, 31.12.2014 und 2.1.2015, jeweils S. 12f.

7) Zu China siehe: Simon, J.: Am Rande des Imperiums – Chinas Staatskapitalismus zwischen Rivalität und Interdependenz, auf S. 22 dieser W&F-Ausgabe.

8) Solty, I. (2012): Die China-Politik der USA zwischen Einbindung und Eindämmung. Das Argument – Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 296, 54. Jg., Heft 1-2, S. 69-81.

9) Lipietz, A. (1998): Nach dem Ende des »Goldenen Zeitalters« – Regulation und Transformation kapitalistischer Gesellschaften. Ausgewählte Schriften, herausgegeben von Krebs, H.-P. Hamburg: Argument.

10) Vgl. zum Beispiel der USA: Solty, I. (2013): Die USA unter Obama – Charismatische Herrschaft, soziale Bewegungen und imperiale Politik in der globalen Krise. Hamburg: Argument, S. 15-71.

11) Streeck, W. (2015): Gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

12) Vgl. Shaihk, Anwar (ed.) (2013): Globalization and the Myths of Free Trade. London: Routledge.

13) Andres, J.; Buchholz, C. et al. (2016): Schwarzbuch – Kritisches Handbuch zur Aufrüstung und Einsatzorientierung der Bundeswehr. Berlin: Bundestagsfraktion DIE LINKE und Rosa-Luxemburg-Stiftung. Siehe auch Seifert, A.: Mehr Geld, weniger Sicherheit – Das neue deutsche Weißbuch. S. 37 dieser W&F-Ausgabe.

14) Vgl. hierzu ausführlich: Solty, I. (2016): Exportweltmeister in Fluchtursachen? Die neue deutsche Außenpolitik, die Krise und linke Alternativen. Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung.

15) Clinton, H. (2011): America’s Pacific Century. Foreign Policy, 11.10.2011.

Ingar Solty ist wissenschaftlicher Referent für Friedens-, Außen- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/4 Weltordnungskonzepte, Seite 19–22