Die Weltsicht der Weltmacht
von Frank Unger
Der amerikanische Präsident Clinton verfügt heute über eine politische Macht und ein Einflußpotential in der Welt, die alles in den Schatten stellen, was irgendeiner seiner Vorgänger jemals zur Verfügung hatte. Militärisch sind nach dem Zusammenbruch der Roten Armee die Streitkräfte der USA so überlegen, daß sie es mit dem gesamten Rest der Welt aufnehmen könnten, wenn sie müßten. Aber sie brauchen ja gar nicht: Denn die eigentliche Basis ihrer gegenwärtigen unangefochtenen Welthegemonie ist weniger die »harte« als die »weiche« Macht. »Weiche« Macht bedeutet – in Abwandlung einer berühmten Definition von Max Weber – die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen weitgehend bereits dadurch durchzusetzen, daß der Gedanke an Widerstreben als unanständig erscheint.1
Gegenüber dem Rest der Welt wird heute nicht nur die Führungsposition beansprucht, sondern auch die Rolle des Vorbildes reklamiert, zusammengefaßt in der offiziellen Selbstcharakterisierung, die »one indispensable nation« zu sein. In den meisten Ländern dieser Welt, allemal in Europa, wird diese Unbescheidenheit ohne Widerrede akzeptiert. Es scheint, als sei die amerikanische Rhetorik selbst zum universellen Kriterium der Wahrheit geworden!
Für das Selbstverständnis der amerikanischen Eliten ist dies keineswegs ein Wunder, sondern vielmehr der Ausdruck dafür, was sie immer schon behauptet haben: daß die Vereinigten Staaten durch ihr politisches Handeln schlicht die Interessen der Menschheit verfolgen. Vor anderthalb Jahrhunderten schrieb Herman Melville: „…wir Amerikaner sind das auserwählte Volk – das Israel unserer Zeit. Wir tragen die Bundeslade mit den Freiheiten dieser Welt… Gott hat Großes für uns vorherbestimmt, die Menschheit erwartet große Dinge von unserem Volk, und große Dinge bewegen wir in unserem Herzen. Die übrigen Nationen werden bald hinter uns bleiben. Wir sind die Pioniere der Welt; die Vorhut, ausgesandt in die Wildnis, um in der Neuen Welt, die die unsere ist, einen neuen Pfad zu bahnen. Wir haben lange genug gezweifelt, ob der politische Messias wirklich gekommen ist. Aber er ist gekommen in UNS.“ (Melville 1954: 211f)
Und vor gut einem Jahr drückte Warren Christopher den gleichen Gedanken etwas prosaischer aus: „Bei meinen Reisen ins Ausland wird mir überdeutlich klar, warum Amerika immer noch die vorherrschende Macht der Welt ist. Die Nationen der Welt blicken auf uns als verläßliche Führungsmacht mit hohen Grundsätzen. Sie sehen uns als optimistisches Volk, das durch seine Interessen motiviert und von seinem Potential geleitet ist. Sie folgen uns, weil sie verstehen, daß Amerikas Kampf für Frieden und Freiheit der Kampf der Welt ist (Hervorhebung von mir, F.U.). Wenn wir unsere Führungsrolle erhalten wollen, müssen wir weiterhin gemäß den besten Traditionen unserer Nation und unseres Volkes handeln.“ (Christopher 1996: 3)
Welche Traditionen spricht Christopher hier an? Zwischen Oktober 1787 und August 1788 schrieben Alexander Hamilton, James Madison und John Jay eine Reihe von politischen Artikeln für verschiedene New Yorker Zeitungen, mit denen sie in die laufende Debatte um die politische Organisationsform der gerade von England losgelösten Kolonien eingreifen wollten. Es ging um die Frage: lockerer Staatenbund oder festgefügter Bundesstaat. Die »Federalists« Hamilton, Madison und Jay traten entschieden für letzteres ein. Aber es ging nicht nur um die Frage Bundesstaat an sich, sondern auch darum, was für ein Bundesstaat. Im Federalist No.10 schreibt James Madison, den Historiker später den „Marx der herrschenden Klasse“ genannt haben, folgendes:
„Dehnen wir unser Gebiet aber aus, umschließt es auch eine größere Vielfalt von Parteien und Interessen; dadurch wird es weniger wahrscheinlich, daß eine Mehrzahl von Bürgern ein gemeinsames Motiv, die Rechte anderer Bürger zu verletzen, entwickeln kann. Wenn ein solches Motiv aber dennoch existiert, wird es für alle, die ihm anhängen, schwieriger sein, ihre wirkliche Stärke zu entdecken und gemeinsam vorzugehen.“ (Hamilton e.a. 1961: 83)
Madison ging es hier vor allem um die Verhinderung demokratischer Mehrheitsherrschaft über die Minderheitsinteressen der Eigentümer und Bildungseliten, für die er (wie seine Co-Federalists) die ständige politische Führung (als diejenigen „mit dem größten Interesse am Bestehen des Ganzen“) im republikanischen Staat reservieren wollte. Gleichzeitig formulierte er damit auch zum ersten Mal ein ganz wesentliches Element der politischen Weltanschauung der amerikanischen Eigentümerklassen: die Befürchtung nämlich, daß die bestimmte Art ökonomischer Freiheit, die das Wesensmerkmal des »guten Lebens« in Amerika und damit auch dessen spezielle Faszination ausmachen, nicht auf Dauer bewahrt werden könne, wenn nicht ständig neue Gebiete – zunächst des Kontinents selbst, schließlich aber auch anderer Kontinente – in den Bereich der USA eingeschlossen würden, in welcher Form auch immer. Mit anderen Worten: Madison postulierte einen Zusammenhang von Freiheit und Expansion. Dabei wird die Freiheit und die Demokratie »innen« zum selbstverständlichen und ausreichenden Rechtfertigungsgrund für Enteignung oder Vertreibung »außen«.
Den Schlüssel für das Verständnis dieses Bedingungszusammenhangs liefert eine Analyse der Bedeutung des amerikanischen Worts »frontier«. Es bezeichnete das »Grenzland« während der Zeit der allmählichen Westausdehnung der Vereinigten Staaten, d. h. jeweils jene neuerworbenen westlichen Gebiete, in denen europäische Siedler sich bereits niedergelassen hatten, die »Ersten Amerikaner« aber noch Rückzugsgefechte gegen die europäischen Landnehmer austrugen und insgesamt die Institutionen der »Zivilisation« noch nicht vollständig durchgesetzt waren. Für den Historiker Frederick Jackson Turner, der gegen Ende des letzten Jahrhunderts seinen Ruhm darauf gründete, daß er die »frontier« für das amerikanische Selbstbild entdeckte (Turner 1893), bedeuteten die jeweils neuen Gebiete der Landnahme die spezifische Quelle der amerikanischen Singularität. In den Wellen der Westausdehnung habe sich die ganze Nation unaufhörlich „demokratisch verjüngt“. Was damit gemeint war, erklärte Turner so: Das Land habe auf diese Weise allen sozialen Problemen entkommen können, die die europäischen Nationen während der Phase ihrer Industrialisierung hatten, denn die Verlierer der ökonomischen Konzentrationsprozesse hätten theoretisch stets die Stätten ihrer Niederlage verlassen und es weiter im Westen noch einmal versuchen können. Auf diese Weise seien sie weder auf revolutionäre Gedanken gekommen,noch sei es ihnen eingefallen, nach dem Sozialstaat zu fragen. Die Imagination des „offenen Landes“ im Westen mit seiner ständigen Verheißung eines „neuen Lebens“ habe wie ein soziales Sicherheitsventil funktioniert.2
Die unausgesprochene Prämisse der »frontier«-These war, daß nur besitzende Menschen weißer Hautfarbe, nordwesteuropäischer Herkunft mit ausreichenden englischen Sprachkenntnissen als legitime Subjekte für Demokratie anzusehen seien; nur sie hätten die sittlichen, geistigen und religiösen Voraussetzungen, um selbstverantwortlich in eigenem Namen handeln zu können. Unter dieser Voraussetzung leuchtet sie ein: Mangels ausgeprägter Institutionen und angesichts gemeinsamer Feinde waren sie im Umgang miteinander zur Kooperation gezwungen und zur Gleichheit genötigt. Kriterien für gegenseitiges Vertrauen waren nicht Papiere oder Diplome, sondern der gemeinsame Phänotyp und das ehrliche Gesicht, ersatzweise auch die Kirchenzugehörigkeit. Einige Historiker haben in diesem Zusammenhang von der Gesellschaft der USA als einer »Herrenvolkdemokratie« gesprochen – einer jener aus den angelsächsisch-protestantischen Traditionen entspringenden überseeischen Kulturen der europäischen Expansion, in denen religiöse »Nonkonformisten« oder andere Außenseiter den verknöcherten Hierarchien Europas entkamen und stark egalitär eingefärbte Gesellschaften errichteten, in denen gleichzeitig aber »Farbige«, wie zahlreich auch immer sie sein mochten, als permanente Fremde und Außenseiter behandelt wurden (siehe van den Berghe 1967). In den USA galt letzteres zunächst auch für nicht-angelsächsische »Weiße« (Iren, Osteuropäer, Südeuropäer).
Charakteristisch für die US-amerikanische Herrenvolkdemokratie ist nun, daß dieses dualistische Verständnis von Gleichheitsideologie und Kompromißbereitschaf »nach innen« und bedingungslosem, bis zum Genozid gehenden Durchsetzungswillen »nach außen« nicht nur bei der ursprünglichen Besitznahme des eigenen Territoriums leitend war, sondern sich anschließend auch in der Außenpolitik der Weltmacht USA fortsetzte. Kriege der USA waren stets »Weltanschauungskriege« und das Kriegsziel niemals etwas anderes als die bedingungslose Kapitulation des Gegners (siehe Weigley 1973). Erst in Vietnam mußte diese Tradition notgedrungen aufgegeben werden.
Häufig wird in diesem Zusammenhang auf das religiös begründete Sendungsbewußtsein der Amerikaner hingewiesen. Die Sehnsucht nach der »Stadt auf dem Hügel« oder die Vorstellung, das »neue Kanaan« zu repräsentieren, existieren mit vielen anderen Auserwähltheitsmythen und millenaristischen Geschichtsbildern in der Religion des Volkes, vor allem den verschiedenen Spielarten des puritanischen Protestantismus. Aber in den USA wird die Außenpolitik nicht vom Volk gemacht. Sie ist ausschließlich das Vorrecht der Eliten, auch wenn diese ihre Entscheidungen mitunter in den Kategorien des Volkes begründen, vor allem, wenn Wahlen anstehen. Die außenpolitischen Grundentscheidungen aber fallen in Gremien, die normalen Wahlen nicht unterworfen sind. Sind sie getroffen, dann gelten sie als »überparteilich«, d.h. jeder Präsident ist praktisch daran gebunden.
Die Eliten sind keine Puritaner mehr. Sie sind auch sonst nicht besonders religiös. Ihre Sicht auf die Welt ist jeweils von inneren Problemen und Diskursen bestimmt (vgl. Dallek 1983). Die übergreifende Schlüsselfigur zum Verständnis ihrer zeitgenössischen Weltsicht jedoch ist der 28. Präsident der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson (1913 – 1920). Er war erstens anglophil und ein großer Bewunderer der britischen Weltmacht. Zweitens war er entschiedener Anti-Imperialist. Darin sah Wilson keinen Widerspruch, denn in seinem Verständnis war die totale globale Vorherrschaft Großbritanniens während der größten Teile des 19. Jahrhunderts kein Imperialismus, sondern das genaue Gegenteil davon: ein das Gesamtwohl der Menschheit beförderndes Weltsystem, in dem britische Geschäftsleute, Industrielle und Banker in eigenem Interesse, aber dadurch zum Wohle aller die Weltwirtschaft gemanagt hätten. Imperialismus und Kolonialismus seien in seinem Verständnis erst dann entstanden, als die übrigen europäischen Mächte bzw. deren Regierungen aus »nationalistischer« Machtgier sich jeweils große Teile des bis dahin offenen Weltmarkts exklusiv reservieren wollten. Damit hätten sie sich am Ende ins eigene Fleisch geschnitten, denn in den Augen Wilsons wurde dadurch die friedlich funktionierende »Pax Britannica« durch die bornierte Konkurrenz der nationalen Monopolbourgeoisien und der von ihnen manipulierten Nationalstaaten ersetzt. Diese habe dann zum Weltkrieg geführt, zum „Bruderkrieg der zivilisierten Nationen“. Wilsons Vision war die Wiederherstellung der »Pax Britannica« unter neuer Leitung (vgl. Levin 1968, Mayer 1964, Weiler 1982).
Das neue Management sollte die amerikanische business community sein. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren nicht nur schuldenfrei, sondern als Haupt-Gläubigernation aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen. Allein ihre Wirtschaftsführer seien in der Lage, die globale Rolle ihrer britischen Vettern fortzusetzen. Sie selbst sahen das ebenso. Seit Beginn des Krieges warben exportorientierte Kreise unermüdlich für die Schaffung einer »Friedensliga«. Gefordert wurde der Zusammenschluß der »efficient civilized nations« zu einem Bündnis, das künftige Kriege verhindern bzw. den Frieden gegen Aggressoren erzwingen könnte. Im ursprünglichen Entwurf sollte dieser Bund »League of Great Nations« heißen und eben nur jene umfassen, aber man einigte sich schließlich auf „all the Great Powers, all the Secondary Powers of Europe and the ABC countries of South America (i.e. Argentinien, Brasilien und Chile).“ (Latane 1932: 61) Alle anderen sollten der kombinierten Friedensgewalt dieses Bündnisses unterworfen werden. In Wilson fanden diese »One-Worlder« ihr politisches Sprachrohr.
Zur Realisierung dieser »pazifistischen« Vision ist es bekanntlich nicht gekommen. Der von Wilson vorgeschlagene und propagierte Völkerbund mußte ohne die USA auskommen, weil er Teilen der amerikanischen Eliten selbst nicht ganz geheuer war. Man vermutete dort schlicht, daß amerikanischem Unternehmertum in so einem Klub der zivilisierten Völker am Ende doch bloß irgendwelche Fesseln angelegt werden sollten. Schließlich war man gerade erst zum Hecht im Karpfenteich herangewachsen. Man argwöhnte Regulierungsabsichten der ausgebufften Karpfen und bemühte die Gründerväter Washington und Jefferson, die vor »verstrickenden Bündnissen« mit Europäern gewarnt hätten. Nachdem in der Öffentlichkeit xenophobe Stimmung erzeugt worden war, verweigerte der Kongress die Zustimmung zu den Völkerbundverträgen (»Isolationismus«).
Woodrow Wilson starb bald nach seiner innenpolitischen Niederlage und wurde zwei Jahrzehnte lang praktisch wie ein toter Hund behandelt. Dann gelangten die amerikanischen Eliten zu der Einsicht, daß der »idealistische« Wilson mit seiner Vision eines durch Satzungen geregelten globalen Kapitalismus unter der Supervision englischsprechender Geschäftsleute doch nicht so weltfremd gewesen sei. Denn nach einer kurzen Scheinblüte in den zwanziger Jahren waren die Weltwarenströme, zunehmend behindert durch währungsschützende Maßnahmen in vielen Ländern, total zusammengebrochen. Allein auf sich gestellt, war der bis dahin boomende amerikanische Kapitalismus bald nicht mehr in de Lage, die produktive Tätigkeit im Inland wenigstens so weit aufrechtzuerhalten, daß alle genug zu essen bekamen. Ein gutes Drittel der Bevölkerung kehrte notgedrungen zu Natural- und Tauschwirtschaft zurück. Erst die mit der Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg verbundene Ankurbelung der Wirtschaft durch die Bundesregierung überwand die Great Depression.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs standen die USA im Vergleich zum Rest der Welt noch überlegener da als am Ende des Ersten. Die amerikanischen Eliten sahen sich vor die Aufgabe gestellt, die Nachkriegszeit zu organisieren und die »Fehler«, die nach dem Ersten Weltkrieg gemacht wurden, zu vermeiden. Auf der Konferenz von Bretton Woods 1944 wurden die vertraglichen Grundlagen für eine multilaterale Weltwirtschaftsordnung mit frei konvertierbaren Währungen gelegt. Wenig später wurden die ersten Abkommen über den freien Welthandel und den Schutz von Investitionen geschlossen.
Diesmal hatten sich die »Internationalisten« gegen die »Isolationisten« durchgesetzt. In einer Art Manifest der Sieger erläuterten sie den neuen Konsens: „…die Berechenbarkeit und relative Freiheit der internationalen Märkte (im 19. Jahrhundert) waren in einem bedeutsamen Grad das Ergebnis der Macht und der liberalen Ideologie Großbritanniens und seiner konsequenten Befolgung des Laissez-Faire-Prinzips. Die Sicherheit der im 19. Jahrhundert bestehenden Verfassung ist oft der Pax Britannica – der Aufrechterhaltung der Freiheit der Meere und des Gleichgewichts der Kräfte zwischen den europäischen Staaten durch Großbritannien – zugeschrieben worden. Zweifelsohne fand das Wirtschaftssystem des 19. Jahrhunderts seinen vollkommensten Niederschlag in dem ungeheuren Freihandelsimperium – zu dem alle anderen Länder freien Zutritt hatten –, das durch die britische Kolonialherrschaft und die britische Handelspolitik geschaffen worden war. Die britische Regierung zögerte nicht, ihre unbestrittene wirtschaftliche und politische sowie ihre Macht zur See zu gebrauchen, um die materielle Sicherheit des Welthandels und der Auslandsinvestitionen aufrechtzuerhalten, die Verantwortlichkeit auf kommerziellem und finanziellem Gebiet zu sichern und die Freiheit des internationalen Handels- und Zahlungsverkehrs – nicht nur innerhalb des Empire, sondern auch außerhalb desselben – gegebenenfalls zu erzwingen.“ (Elliott 1955: 3)3
Diese Sätze illustrieren die primäre Selbstverständigung der amerikanischen Nachkriegseliten auf den »idealistischen« Wilsonismus. Er wurde allerdings »realistisch« ergänzt durch die Eindämmungsdoktrin, d.h. durch die Selbstverpflichtung zur militärischen »Verteidigung« der durch Bretton Woods definierten »Freien Welt« gegenüber dem Kommunismus bzw. der Sowjetunion, aber dies war ideologisch nachgeordnet. Allerdings war diese Ergänzung wiederum alles andere als unwesentlich. Die dadurch geschaffene Situation des »Systemgegensatzes« reproduzierte gewissermaßen im Bild von der zweigeteilten Welt das »frontier«-Paradigma der kontinentalen Landnahme: Demokratie und Kompromißbereitschaft »nach innen« verbanden sich mit kompromißlosem Durchsetzungswillen »nach außen«. Die Arena der internationalen Politik wurde nicht gesehen als offenes Feld mit verschiedenen Spielern und mannigfaltigen Interessen, sondern als manichäischer Dualismus von (gutem) »Innen« und (bösem) »Außen«, das es zu durchdringen und erobern oder, um im Bild der amerikanischen Rhetorik zu bleiben, zu »befreien« galt. Im Selbstverständnis der Weltmacht war das »machtgestützter Idealismus«.4 Machtsoziologisch gesehen war es eine Koalition zwischen den neuen, durch den Zweiten Weltkrieg geschaffenen und mit der Staatsmacht liierten industriell-militärischen Eliten und der traditionell wilsonistischen business community.
Als sich 1989-91 die Sowjetunion auflöste, brach dieses historische Zweckbündnis zusammen. Erkennbar wurde das im Streit über die Ursachen des »Sieges« über die Sowjetunion. Für die einen war es eine quasi-militärische, durch unerbittlichen Rüstungsdruck erzwungene Niederringung des Feindes, für die anderen waren es die ideelle Überlegenheit von Freiheit und Markt, die sich ultimativ durchgesetzt hatten. Daraus folgen jeweils unterschiedliche Strategien für die Zeit nach dem Kalten Krieg: Die einen sehen auch in einem kapitalistischen Rußland noch den potentiellen geopolitischen Rivalen, für die anderen ist mit der Abdankung des Kommunismus auch der Feindstatus erloschen.
Dieser Kampf ist noch nicht vollständig entschieden. Aber Vorentscheidungen sind getroffen. Die »Realisten« wehren sich vor allem gegen die NATO-Osterweiterung. Für sie bedeutet das zum einen die Gefahr der Selbstuntergrabung des Bündnisses, zum anderen waren sie es gewohnt, mit dem geostrategischen Gegner UdSSR gewissermaßen antagonistisch zu kooperieren. Aus beidem – der Kreierung eines Spannungszyklus und seiner anschließenden fachmännischen Entschärfung – schöpften sie Prestige und Pfründe. Präsident Clinton jedoch hat sich in seiner zweiten Amtsperiode eindeutig für den Weg des Wilsonismus entschieden. Seine Entscheidung für die Osterweiterung der NATO, die er auch im russischen Interesse sieht, wie sein laufender Versuch, China in den Bereich der asiatischen »Pax Americana« zu integrieren, werden von der amerikanischen business community breit mitgetragen. Dennoch sind beide nicht einfach als Aufträge einheimischer Wirtschafts- und Industriekreise abzutun, sondern auch als weltanschaulich inspirierte Richtungsentscheidungen zu interpretieren (siehe Walker 1997). Die Vereinigten Staaten von Amerika sind das einzige Land der Welt, in dessen Rhetorik beides vereint ist.
In den öffentlichen Reden und Erklärungen Präsident Clintons am Ende des Jahrhunderts erklingt inzwischen kaum verändert wieder, was Woodrow Wilson einst zu seinem Beginn gesagt hatte, als er verzweifelt versuchte, der »Isolationisten«-Fraktion im Kongreß das »internationalistische« Engagement nahezulegen: „Ich hoffe, wir werden es niemals vergessen, daß wir diese Nation nicht dafür aufgebaut haben, um uns selbst, sondern um der Menschheit zu dienen.“ (zitiert nach Gardner 1984) Nur Amerikaner wagen es, rhetorisch zu behaupten, die Verfolgung ihrer materiellen Interessen und die Beibehaltung ihres Way of Life würde automatisch zum Wohl der Menschheit gereichen.
Wenn ihnen doch aber niemand mehr widerspricht?
Literatur
Berghe van den, Pierre L. (1967): Race and Racism. A Comparative Perspective, New York.
Christopher,Warren (1996): Schutz der amerikanischen Interessen ist abhängig von Führungsrolle, in: AmerikaDienst, 24. Juli.
Dallek, Robert (1983): The American Style of Foreign Policy. Cultural Politics and Foreign Affairs. New York.
Elliott, William Yandell u.a.(1955): Weltwirtschaft und Weltpolitik. Grundlage, Strategie und Grenzen der amerikanischen Außenwirtschaftspolitik, München.
Gardner, Lloyd C. (1984): A Covenant With Power. America and World Order from Wilson to Reagan, New York.
Hamilton, A. /J. Madison/J.Jay (1961): The Federalist Papers, New York.
Isaacson, Walter / Evan Thomas (1986): The Wise Men. Six Friends and the World They Made: Acheson, Bohlen, Harriman, Kennan, Lovett, McCloy. New York.
Latane, John H. (ed.) (1932): The Development of the League of Nations Idea, New York, Vol. I.
Levin, N. Gordon, Jr. (1968): Woodrow Wilson and World Politics, New York.
Melville, Herman (1954): Weißjacke, Leipzig.
Meyer, Arno (1964): Wilson vs. Lenin: Political Origins of the New Diplomacy, Cleveland.
Smith, Henry Nash (1950): Virgin Land. The American West as Symbol and Myth, Cambridge, Mass.
Turner, Frederick Jackson (1893): The Significance of the Frontier in American History, in: Annual Report of the American Historical Association.
Walker, Martin (1997): Present at the Solution. Madeleine Albrights Ambitious Foreign Policy, in: World Policy Journal, Vol. XIV, No. 1, Spring 1997, S. 1-10.
Weigly, Russell F. (1973): The American Way of War. A History of United States Military Strategy and Policy, New York.
Weiler, Peter (1982): The New Liberalism: Liberal Social Theory in Great Britain 1889 – 1914, New York.
Anmerkungen
1) Die Originaldefinition von Max Weber findet sich in: Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, Erster Halbband, Köln/Berlin 1964, S. 38. Zurück
2) Zum Verhältnis von Imagination und Wirklichkeit bei der Westexpansion siehe Smith 1950 Zurück
3) Dieses Buch (Elliott 1955) war sowohl als Selbstverständigung für den internen Gebrauch als auch für die Einweihung der kooptierten atlantischen Eliten gedacht. Als letzteres wurde es auch ins Deutsche übersetzt. Zu diesem Komplex siehe auch Isaacson/Thomas 1986. Zurück
4) Wichtig für die Bildung dieses Selbstverständnisses war der protestantische Theologe und Publizist Reinhold Niebuhr. Siehe hierzu vor allem seine Schrift The Children of Light and the Children of Darkness: A Vindication of Democracy and a Critique of Its Traditional Defense, New York 1944. In ihr wurden sämtliche legitimatorischen Argumente dafür, daß das freiheitliche Amerika im Kalten Krieg bei der Verteidigung der Freiheit auch zu terroristischen Mitteln greifen darf, vorweggenommen. Zurück
Dr. Frank Unger, Fellow am Center for the Humanities, Oregan State University, Privatdozent am FB Politikwissenschaften der FU Berlin.