Die Nuklearwaffen der USA in Europa
Doch kein Ende in Sicht?
von Otfried Nassauer
Die NATO kann sich nicht entscheiden und entscheidet sich doch. Soll sie künftig auf die US-Nuklearwaffen in Europa verzichten? Bei den zwei Gipfeltreffen in Lissabon 2010 und Chicago 2012 konnte kein Konsens erzielt werden. Bleibt es dabei, könnte die Allianz bald neue Nuklearwaffen in Europa stationieren, obwohl das viele gar nicht wollen.
Svein Efjestad war Norwegens Vertreter in der High Level Group (HLG) der NATO, als er sich im August 2009 mit dem US-Botschafter bei der NATO, Ivo Daalder, traf. Efjestad erzählte Daalder von einer Beobachtung, die überrascht: „Nach mehr als 15 Jahren, in denen es in der HLG kaum eine Debatte“ über die Nuklearwaffen in Europa gegeben habe, sei es möglicherweise an der Zeit, dass die HLG sich wieder „mit dem Thema befasst“.1 Die HLG ist zusammen mit der Nuklearen Planungsgruppe das wichtigste Gremium der Allianz für die Nuklearpolitik.
Efjestads Beobachtung impliziert, dass die NATO sich zuletzt in der ersten Hälfte der 1990er Jahre ernsthaft mit ihrer Nuklearpolitik befasst hat. Im Herbst 1991, nach dem Ende des Kalten Krieges, einigte sich die Allianz darauf, den größten Teil der von den USA für das Bündnis in Europa stationierten Nuklearwaffen abzuziehen. Wenig später wurden im schottischen Glenneagles neue Richtlinien für Konsultationen im nuklearen Bereich vereinbart. Seither hat die NATO die Zahl der nuklearen Waffen in Europa mehrfach reduziert, jedoch ohne größere Diskussion. Waren zunächst noch rund 1.400 Kernwaffen in Europa verblieben, so ging deren Zahl später auf rund 700 und dann auf etwa 480 Waffen zurück. Nach der jüngsten Reduzierungsrunde Mitte des letzten Jahrzehnts verblieben noch „rund 180 substrategische Nuklearwaffen“ 2 auf dem europäischen Kontinent. Bis zu zwanzig davon befinden sich in Büchel, dem einzigen verbliebenen Nuklearwaffenstandort in Deutschland. Auch der Ausbildungsstand der Piloten und der Bereitschaftsgrad der nuklearwaffenfähigen Einheiten wurde wiederholt abgesenkt, sodass es inzwischen monatelanger Vorbereitungen bedürfte, bevor ein Einsatz der Nuklearwaffen möglich wäre.
Der militärische Nutzen dieser Waffen ist gering, weil sich in Reichweite ihrer Trägerflugzeuge kaum noch denkbare Ziele befinden. Der politische Symbolwert ist dagegen hoch, signalisieren diese Waffen als konkrete Manifestation der nuklearen Teilhabe doch, dass auch nicht-nukleare NATO-Staaten in einem Krieg zu einem Nuklearwaffeneinsatz befähigt wären.
Allerdings erreichen gegen Ende dieses bzw. im nächsten Jahrzehnt sowohl die nuklearen Waffen als auch deren Trägerflugzeuge und Lagersysteme das Ende ihrer geplanten Lebensdauer. Es stellt sich also in der NATO die Frage »modernisieren oder abziehen«?
Die Abzugsdebatte
Öffentlich aufgeworfen wurde diese Frage im Herbst 2009 durch den Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP. Die Koalitionspartner versprachen, sich „im Bündnis sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten dafür ein[zu]setzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden“.3 Der Deutsche Bundestag unterstützte diese Position im März 2010 parteiübergreifend mit überwältigender Mehrheit und forderte die Bundesregierung auf, dieses Ziel „mit Nachdruck“ zu vertreten und sich dafür einzusetzen, „die Rolle der Nuklearwaffen in der NATO-Strategie zurückzuführen“.4 Um Kritik anderer NATO-Staaten vorzubeugen, sicherte die Bundesregierung zu, einen Abzug nicht einseitig oder ohne Konsultationen im Bündnis zu erzwingen. Sie bat gemeinsam mit Belgien, Luxemburg, Norwegen und den Niederlanden NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, das Thema im Kontext der Diskussion über eine neue NATO-Strategie und die Vision einer nuklearwaffenfreien Welt im April 2010 auf die Tagesordnung des NATO-Außenministertreffens in Tallin zu setzen: „Wir glauben, dass wir auch in der NATO diskutieren sollten, was wir tun können, um uns diesem übergeordneten politischen Ziel anzunähern.“5
Gegenwind entstand rasch: Hillary Clinton, die Außenministerin der USA, argumentierte in Tallin: „Wir sollten anerkennen, dass die NATO eine nukleare Allianz bleibt, solange Nuklearwaffen existieren.“ Und sie mahnte: „Für ein nukleares Bündnis ist es fundamental, die nuklearen Risiken und Verantwortlichkeiten breit zu teilen.“6 Clintons Vorgängerin, Madeleine Albright, und eine von ihr geleitete Expertengruppe überreichten dem NATO-Generalsekretär im Mai 2010 Vorschläge für das neue »Strategische Konzept« und empfahlen „unter den gegenwärtigen Sicherheitsbedingungen die Beibehaltung von einigen vorne-stationierten US-Systemen auf europäischem Boden“, da diese „das Prinzip der erweiterten Abschreckung und der kollektiven Verteidigung stärken“.7
Das neue »Strategische Konzept« wurde im November 2010 in Lissabon verabschiedet. Es hielt fest: „Die Abschreckung auf der Grundlage einer geeigneten Mischung aus nuklearen und konventionellen Fähigkeiten bleibt ein Kernelement unserer Gesamtstrategie. Umstände, unter denen der Einsatz von Kernwaffen in Betracht gezogen werden müsste, sind höchst unwahrscheinlich. Solange es Kernwaffen gibt, wird die NATO ein nukleares Bündnis bleiben.“ Die NATO werde auch künftig eine „möglichst umfassende Beteiligung der Bündnispartner an der kollektiven Verteidigungsplanung mit Bezug auf deren nukleare Anteile, an der Stationierung von nuklearen Kräften in Friedenszeiten und an Führungs-, Kontroll- und Konsultationsverfahren gewährleisten“.8 Das Dokument weist den nicht-strategischen Nuklearwaffen9 der NATO keine spezifische Rolle mehr zu und wiederholt auch nicht die frühere Aussage, dass „die Präsenz der konventionellen und nuklearen Kräfte der USA in Europa für die Sicherheit Europas äußerst wichtig“ sei.10
Hintergrund der Weglassung war der bündnisinterne Disput über die künftige Notwendigkeit einer Stationierung von Nuklearwaffen in Europa. Diese Diskussion sollte bis zum nächsten NATO-Gipfel im Kontext einer »Überprüfung des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs«,11 dem »DDPR« (Defense and Deterrence Posture Review), weitergeführt werden. Wesentliche Fortschritte wurden nicht erzielt.
Zum Chicagoer Gipfeltreffen im Mai 2012 lag der von den NATO-Außen- und Verteidigungsministern zuvor in Brüssel abgesegnete DDPR vor. Er wiederholt die Kernaussagen des »Strategischen Konzeptes«, verzichtet erneut darauf, die Rolle nicht-strategischer Nuklearwaffen genauer zu beschreiben, und erwähnt diese vor allem im Kontext der Rüstungskontrolle. Das Bündnis erklärt seine Bereitschaft, „die Bedingungen für eine weitere Reduzierung der der NATO zugewiesenen nicht-strategischen Kernwaffen zu schaffen“, und will sicherstellen, dass „alle Elemente der nuklearen Abschreckung solange zuverlässig, sicher und effektiv“ bleiben, „wie die NATO ein nukleares Bündnis bleibt“. Die NATO sei „bereit, eine weitere Reduzierung ihres Bedarfs an dem Bündnis zugewiesenen nicht-strategischen Kernwaffen im Zusammenhang mit reziproken Schritten Russlands unter Berücksichtigung der größeren russischen, im euro-atlantischen Raum stationierten nichtstrategischen Kernwaffenbestände in Betracht zu ziehen“ und zu „ergründen, was die NATO hinsichtlich reziproker Maßnahmen Russlands erwartet, um den Weg für eine deutliche Reduzierung der der NATO zugewiesenen, vorwärts stationierten nichtstrategischen Kernwaffen zu ebnen“.12
Diese komplizierten Formulierungen lassen den Schluss zu, dass an der Stationierung nuklearer Waffen in Europa festgehalten werden soll. Ein Verzicht wird im DDPR nicht erwogen. Allenfalls eine Reduzierung des Stationierungsumfangs käme infrage, sofern Russland sich zu Gegenleistungen bereit zeigt. Wer will, kann diese Aussagen sogar als dauerhafte Verpflichtung lesen, an in Europa stationierten Nuklearwaffen festzuhalten: Sie gehören zu den Elementen der Abschreckung, die solange effektiv gehalten werden sollen, „wie die NATO ein nukleares Bündnis bleibt“.
Die deutsche Initiative für den Abzug der NATO-Nuklearwaffen hat sich damit vorläufig tot gelaufen. Im Bündnis konnte darüber kein Konsens erzielt werden. Was aber ist dann der Plan? Gibt es einen Konsens in der Allianz, an den taktischen Nuklearwaffen festzuhalten oder diese gar zu modernisieren? Darüber steht in den Beschlüssen der NATO ebenfalls kein Wort. Trotzdem ist die Frage höchst aktuell.
Die Modernisierungspläne
Kurz vor dem Ministertreffen der NATO in Tallin veröffentlichte die Regierung Barack Obamas im April 2010 ihren »Nuclear Posture Review«, eine strategische Blaupause für die künftige Nuklearpolitik der USA, die sich unter anderem mit den nuklearen Waffen, deren Trägersystemen und der nuklearindustriellen Infrastruktur befasst. Der Review erklärt eine Modernisierung der nuklearen Bomben vom Typ B61 für notwendig und vordringlich. Entsprechend planen die USA, bis 2019 den Prototyp einer neuen Nuklearwaffe zu entwickeln, die ab 2020 auch Nachfolger der heute in Europa gelagerten nuklearen Bomben werden könnte – die Bombe B61-12. Die technische Entwicklung der neuen Waffe soll noch dieses Jahr beginnen. Dafür hat die US-Regierung beim Kongress für 2013 ein Entwicklungsbudget in Höhe von 361 Mio. US$ beantragt. Die Gesamtkosten des Vorhabens werden auf rund sieben Mrd. US$ geschätzt. Parallel dazu wird die Integration des neuen Bombentyps in vorhandene Trägerflugzeuge vorbereitet. Die Entwicklung eines neuen nuklearwaffenfähigen Trägersystems, des Joint Strike Fighter, ist vorgesehen, wegen technischer und finanzieller Schwierigkeiten aber vorerst auf Eis gelegt.
Die B61-12 soll das Nachfolgemodell für vier Versionen der B61werden: die taktischen Versionen B61-3, B61-4 und B61-10 sowie für die strategische Version B61-7. Das hat sowohl rüstungskontrollpolitische als auch militärische Relevanz: Wird die neue Bombe eingeführt, so gibt es keine »taktischen« und »strategischen« Versionen dieser Waffe mehr. Es gibt nur noch eine Version, die sowohl strategische als auch nicht-strategische Funktionen erfüllen kann. Nur über das Trägerflugzeug kann noch unterschieden werden, welchem Zweck die Waffe gerade dient. Die Kategorie der »taktischen« bzw. »nicht-strategischen« Nuklearwaffen verschwindet damit aus dem Arsenal der USA und der NATO. Dies hat komplexe und Komplikationen hervorrufende Folgen, z.B. für die künftigen Abrüstungsverhandlungen mit Russland.13
Militärisch ergibt sich die Relevanz aus anderen Gründen: Die bisherigen, wenig zielgenauen, »dummen« nuklearen Bomben sollen zu Lenkwaffen umgerüstet werden, die eine deutlich höhere Zielgenauigkeit erreichen können.14 Ein neues, elektronisch gesteuertes Heckleitwerk (tailkit) an den Bomben soll das ermöglichen. Die größere Zielgenauigkeit erlaubt den Verzicht auf jene Versionen der B61-Bombe, die eine hohe Sprengkraft haben. Für die B61-12 soll der nukleare Sekundärsprengsatz15 des Modells B61-4 wiederverwendet oder nachgebaut werden. Deshalb wird es auch künftig möglich sein, für einen Einsatz wahlweise die Sprengkraft auf 0,3, 1,5, 10 oder 50 Kilotonnen einzustellen. Dieselbe Bombe kann also entweder als »mini nuke« oder mit der vierfachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe zur Explosion gebracht werden. Sie kann militärische Punktziele ebenso zerstören wie große Flächenziele. Der »Kollateralschaden« wird kalkulierbarer und begrenzbarer, die nukleare Waffe somit militärisch besser nutzbar als ihre Vorgängerversionen. Damit vergrößert sich die Gefahr, dass die Hemmschwelle gegen einen Nuklearwaffeneinsatz sinkt. Oder anders gesagt: Die Versuchung, solche Nuklearwaffen tatsächlich einzusetzen, kann steigen. Politische Bemühungen, die militärische Rolle nuklearer Waffen weiter zu reduzieren, können von solchen Waffen ernsthaft behindert werden. Aus gutem Grund verbot ein Gesetz aus dem Jahr 1994, das Spratt-Furse Amendment, in den USA viele Jahre lang, Entwicklungsarbeiten an neuen Nuklearwaffen mit weniger als fünf Kilotonnen Sprengkraft durchzuführen.
Begründet wird die dringende Notwendigkeit einer Modernisierung der B61-Bomben von der US-Regierung damit, dass deren technische Lebensdauer in Kürze abläuft. Zudem könne man die Gelegenheit nutzen, um die Waffen noch sicherer vor einem potentiellen Missbrauch durch Unbefugte oder vor Unfällen zu machen. Beide Argumente haben inzwischen erheblich an Glaubwürdigkeit verloren.
Das Argument der knappen Zeit und hohen Dringlichkeit erwies sich als dehnbar. Zunächst hieß es, die Nuklearwaffen in Europa erreichten ab 2017 das Ende ihrer technischen Lebensdauer und müssten spätestens ab 2018 ersetzt werden, wenn die USA ihre Verpflichtungen im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO weiterhin erfüllen wollten. Heute wird argumentiert, es reiche aus, wenn die B61-12 bis 2019 fertig entwickelt sei und ab 2020 stationiert werden könne. Auch das neue Trägerflugzeug muss jetzt nicht mehr 2017 zur Verfügung stehen, sondern erst 2020. Technische Zwischenlösungen, wie eine Nutzungsdauerverlängerung für die bisher eingesetzten Flugzeuge des Typs F-15E, und der Austausch von Komponenten begrenzter Lebensdauer bei den vorhandenen Bomben sollen dies möglich machen.
Die erhöhte Sicherheit der B61-Familie hat anscheinend ebenfalls an Bedeutung verloren. Zunächst gab es dazu kaum konkrete Angaben; inzwischen fällt ins Auge, dass für die nächste Entwicklungsphase ausgerechnet solche Teilvorhaben des Modernisierungsprogramms gestrichen wurden, die der Verbesserung der Sicherheit dienen sollten. Grund: zu große technische und finanzielle Risiken. Zudem gelten die Bomben der Typen B61-3 und B61-4 als ziemlich sichere Waffen. Sie weisen jedoch eine bekannte Schwachstelle auf: Der Pit, das ist die nuklearen Kernkomponente des Primärsprengsatzes, ist nicht feuerresistent. Bei einem Flugzeugunfall mit längerem Treibstoffbrand kann deshalb aus einer beschädigten Waffe unter Umständen Plutonium freigesetzt und über Rauch- und Aerosolwolken weiträumig verteilt werden.16 Das ist ein Gefahrenpotential, insbesondere an den Stationierungsorten, weil startende und landende Flugzeuge einem gewissen Unfallrisiko ausgesetzt sind. Dieses Sicherheitsmanko wird jedoch auch durch die geplante Modernisierung der B61-Bomben nicht abgestellt. Um es zu beseitigen, müsste man die neue Waffe testen, das aber steht aus politischen Gründen nicht zur Diskussion.
Die Debatte in den USA
In den USA stehen drei Aspekte im Vordergrund der Debatte über die Modernisierung der B61:
Geht es um deren Notwendigkeit, so wird argumentiert, Washington dürfe keinen Zweifel an seinem Willen aufkommen lassen, seine nuklearen Bündnisverpflichtungen in der NATO auch künftig zu erfüllen.
Der zweite Aspekt ist eine Zusage von US-Präsident Obama an die Republikaner. Im Kontext der Ratifizierung des neuen START-Vertrages mit Russland versprach Obama ihnen mit dem »Nuclear Posture Review« eine umfassende Modernisierung des Nuklearwaffenkomplexes, um das Nuklearwaffenpotential der USA bis weit in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts »modern« zu halten. Das erste Vorhaben war eine gegenüber der ursprünglichen Planung vorgezogene und umfassendere Modernisierung der B61-Bomben und ihrer Trägersysteme.
Die Republikaner nutzen seither die Haushaltsgesetzgebung, um den Präsidenten jedes Jahr an die Einhaltung seiner Zusage zu erinnern. Das Gesetz zum US-Verteidigungshaushalt 2012 schreibt die Beibehaltung der in Europa stationierten taktischen Nuklearwaffen und der nuklearen Teilhabe vor. Der Entwurf des Verteidigungshaushaltsgesetzes 2013, den das republikanisch dominierte Repräsentantenhaus im Juni 2012 vorlegte, geht noch weiter: Er will die Möglichkeiten des Präsidenten beschränken, mit Russland eine Reduzierung der Nuklearwaffen in Europa zu verhandeln oder gar deren Abzug zu erwägen. Der Gesetzesentwurf befürwortet zwar Gespräche mit Moskau, die zu einer Reduzierung der taktischen Nuklearwaffen Russlands führen könnten, da das zahlenmäßig größere Arsenal Russlands bei dieser Waffengattung eine „Bedrohung der USA und ihrer Alliierten“ darstelle. Eine zentrale Einlagerung oder Umstationierung dieser Waffen in das östliche Russland – wie in der NATO überlegt – wird in dem Gesetzesentwurf jedoch explizit nicht als Reduzierung betrachtet, die eigene Abrüstungsschritte rechtfertige. Die in Europa gelagerten US-Nuklearwaffen, so der Gesetzesentwurf weiter, seien nützlich zur „Kontrolle über die Proliferation“ und „im Umgang mit Nachbarstaaten, die der NATO feindlich gegenüberstehen“. 17 Auf eine solche Sichtweise wird sich Russland kaum einlassen.
Den dritten Aspekt bringen Kritiker der Modernisierungspläne in die Debatte ein: Sie werfen die Frage auf, ob die Modernisierung der B61-Bomben einer Vorgabe des »Nuclear Posture Review« 2010 widerspricht: „Die USA werden keine neuen Nuklearsprengköpfe entwickeln. Lebensdauerverlängerungsprogramme werden nur nukleare Komponenten verwenden, deren Design bereits zuvor getestet wurde und die weder neue militärische Aufgaben unterstützen noch neue militärische Fähigkeiten bereitstellen werden“.18 Ist es mit dieser Vorgabe vereinbar, wenn eine Nuklearwaffe mit neuen Fähigkeiten entwickelt wird, die „das größte Vorhaben seit mehr als 30 Jahren, wahrscheinlich das größte seit der Entwicklung der B61-3 und –4“ ist, wie der ehemalige Entwicklungsleiter beim Sandia National Laboratory, J.F. Nagel, im letzten Jahr stolz festhielt?19
In der innenpolitischen Debatte der USA wird die Unfähigkeit der NATO, sich derzeit im Konsens auf einen Abzug der in Europa stationierten Nuklearwaffen zu einigen, zu einer Verpflichtung Washingtons umgedeutet, diese weiterhin zu stationieren und folglich zu modernisieren. Daraus entwickelte sich ein wesentliches Argument für ein nationales Modernisierungsprogramm, das unabhängig von der NATO geplant wurde und für die Republikaner eine Herzensangelegenheit darstellt, die sie Präsident Obama abgerungen haben. Die nuklearen Verpflichtungen der USA gegenüber der NATO sind also weniger Ursache der Modernisierungsnotwendigkeit als ein willkommenes innenpolitisches Hilfsargument, um eine umfassende Modernisierung des Nuklearwaffenpotentials durchzusetzen.
Eine Modernisierung, die kaum einer will?
Für viele NATO-Länder mag es 2010 noch eine attraktive Option gewesen sein, russische Gegenleistungen für einen künftigen Verzicht auf die Stationierung der militärisch weitestgehend irrelevant gewordenen Nuklearwaffen in Europa zu fordern. Diese Aussicht hat einen Minimalkonsens gefördert, der vorläufig noch an der Stationierung dieser Waffen festhält. Dieser Ansatz barg jedoch schon immer ein Risiko: Was, wenn Moskau kein Entgegenkommen zeigt oder sich gar an den umstrittenen NATO-Doppelbeschluss aus dem Jahr 1979 erinnert fühlt und seinerseits ein Modernisierungsprogramm seiner taktischen Nuklearwaffen auflegt? Würde dann die Beibehaltung und Modernisierung der Nuklearwaffen der USA in Europa unausweichlich, obwohl es dafür kaum Befürworter gibt?
Dazu könnte es kommen, denn die innenpolitische Schlüsselrolle der Modernisierung der B61 als Einstiegsprojekt in eine umfassende Modernisierung des gesamten Nuklearwaffenpotentials der USA verstärkt die Tendenz zu diesem Ergebnis. Gelingt es den Republikanern, eine rüstungskontrollpolitische Lösung mit Moskau zu verhindern oder mit dem Argument zu punkten, jede Abkehr von der Modernisierung dieser Bomben sei ein Verrat an der Zusage, das Nuklearwaffenpotential der USA umfassend zu modernisieren, so wird die Modernisierung der Waffen in Europa zu einer Frage des politischen Gesichtsverlustes. Die Chance, die Stationierung nicht-strategischer Nuklearwaffen in Europa als Relikt des Kalten Krieges zu beenden und die völkerrechtlich umstrittene Praxis der nuklearen Teilhabe in der NATO endgültig zu beenden, wäre dann auch verspielt.
Anmerkungen
1) U.S. Embassy in Norway: USNATO AMBASSADOR DAALDER‘S DISCUSSION WITH NORWEGIAN DEPUTY DEFENSE MINISTER IN OSLO, Cable 09OSLO0526, 25.8.2009.
2) U.S. Mission to NATO: PDUSDP MILLER CONSULTS WITH ALLIES ON NUCLEAR POSTURE REVIEW, Cable 09USNATO0378, Brussels, 4.9.2009.
3) CDU/CSU, FDP: Wachstum, Bildung, Zusammenhalt. Koalitionsvereinbarung vom Oktober 2009, S.120.
4) Deutscher Bundestag: Drucksache 17/1159, Berlin, 24.3.2010.
5) Brief der Außenminister vom 26.2.2010.
6) Secretary of State Hillary Rodham Clinton Excerpts from Remarks at NATO Working Dinner on Nuclear Issues and Missile Defense, Tallinn, Estonia, April 22, 2010.
7) Group of Experts: NATO 2020: Assured Security, Dynamic Engagement. o.O. (Brussels), 17.5.2010, S.43.
8) NATO: Aktives Engagement, moderne Verteidigung, Lissabon, 19/20.11.2010, Punkte 17 und 19.
9) Die Begriffe taktische, substrategische und nichtstrategische Atomwaffen bezeichnen dieselbe Waffenkategorie, nämlich Atomwaffen mit einer Reichweite, die kleiner als 5.500 Kilometer ist. Die Begriffe haben aber eine unterschiedliche Konnotation: »Taktisch« betont die militärische Rolle einer Waffe im Rahmen der Kriegführung. Deshalb benutzte die NATO diesen Begriff nach dem Ende des Kalten Krieges bald nicht mehr für die eigenen Waffen, sondern nur noch für die Waffen Russlands. Die eigenen Waffen bezeichnete sie als substrategisch, um deren politischen Charakter zu betonen. Nun scheint auch diese Phase vorbei zu sein. Die NATO verwendet zunehmend den bedeutungsneutralen Begriff der nichtstrategischen Atomwaffen für diese Potentiale Russlands und der USA.
10) NATO: The Alliance’s Strategic Concept. Washington DC, 24.4.1999, Punkt 42.
11) Unter Dispositiv wird die Gesamtheit sämtlicher Ressourcen verstanden, die für einen Einsatz vorgehalten werden.
12) NATO: Überprüfung des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs. Chicago, 20./21.5.2012, Punkte 8, 9, 11, 26 und 27.
13) Die START-Verträge befassen sich ausschließlich mit strategischen Waffen. Deren Verfikationsmechanismen betreffen die Trägersysteme. Ein Verifikationsmechanismus für nichtstrategische Nuklearwaffen oder deren Träger müsste neu entwickelt werden. Dies dürfte schwierig werden, wenn sich nur eine Seite den neuen Mechanismen unterwerfen muss, die andere aber nicht.
14) Um die verbesserte Zielgenauigkeit der B61-12 in vollem Umfang nutzen zu können, müssen Bombe und Flugzeug hinreichend digitalisiert sein. Dies wird erst mit neuen Trägerflugzeugen erreichbar sein.
15) Vereinfacht: Die B61-Bomben bestehen aus einem primären Sprengsatz, der nach dem Kernspaltungsprinzip funktioniert und die Energie bereitstellt, die zur Zündung des sekundären Sprengsatz erforderlich ist, der nach dem Kernverschmelzungsprinzip (Kernfusion) funktioniert.
16) Kidder, R.E.: Report to Congress: Assessment of the Safety of U.S. Nuclear Weapons and Related Nuclear Test Requirements. Livermore, CA: Lawrence Livermore National Laboratory, Dokument UCRL-LR-107454 vom 26.7.1991, S.5f.
17) 112th Congress, 2nd Session: H.R. 4310, Washington, 19.6.2012, S.542-547. Im Gegensatz zu weiteren Restriktionen, die sich gegen den neuen START-Prozess richteten, drohte Präsident Obama im Blick auf diese Vorgaben nicht mit einem Veto: Vgl: Executice Office of the President: Statement of Administration Policy H.R. 4310 – National Defense Authorization Act for FY 2013, 15. Mai 2012.
18) Department of Defense: Nuclear Posture Review. Washington DC, April 2010, S. XIV
19) N.N.: Launching the B61 Life Extension Program. Sandia Lab News, 23.3.2011, S.6
Otfried Nassauer ist Gründer und Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS), freier Journalist und berät die Kampagne »atomwaffenfrei.jetzt«.