W&F 2022/4

»Don‘t burn your bridges«

33. Jahrestagung des Forum Friedenspsychologie, Marburg, 23. - 24. September 2022

Die 33. Tagung des Forum Friedenspsychologie wurde dieses Jahr unter dem Motto »Don‘t burn your bridges: Zum Umgang mit der Spaltung der Gesellschaft« an der Philipps-Universität in Marburg abgehalten. Dabei berieten Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen aus verschiedenen Phasen ihrer wissenschaftlichen Laufbahn eine Vielzahl von Aspekten des Tagungsthemas: von »politischer Polarisierung auf globaler Ebene« über »Diskriminierung« bis hin zu »Eigengruppen-Verhalten« und »Identität«.

„So wie Kriege in den Köpfen der Menschen beginnen, beginnt auch der Frieden in unseren Köpfen“ – mit diesem Zitat aus der Präambel der UNESCO leitete Silu Shrestha ihren Vortrag zum ersten Panelbereich »Wahrnehmung von Krieg und Frieden« ein. In ihrer kulturübergreifenden Studie untersuchte sie das Verständnis und die psychologischen Komponenten von Frieden. Junge Erwachsene verschiedener Länder, die Langzeitkonflikten und langjähriger Gewalt ausgesetzt waren, wurden zu ihrer Wahrnehmung befragt. Besonders spannend erschienen die Ergebnisse der »Photo Voice«-Methode, bei der fünf Repräsentant*innen aus unterschiedlichen Kulturen Frieden mit Hilfe eines Bildes darstellen sollten. Interessanterweise hatten alle Bilder einen Bezug zur Natur und im Besonderen zu Gewässern. In der späteren Diskussion wurde die Überlegung aufgestellt, ob die Natur für uns Menschen das Sinnbild einer beständigen Komponente in ungeheuren Zeiten darstellt. Shresthas Ergebnisse zeigen, dass die Auffassung von Frieden sich (in Konfliktregionen) kulturell kaum unterscheidet. Frieden wurde durchweg mit positiven Worten assoziiert und, um nur zwei Beispiel zu nennen, mit der Fähigkeit glücklich zu sein und mit einer Zukunftshoffnung beschrieben. Im Vergleich zu jungen Menschen, die keiner Gewalt ausgesetzt waren, unterschied sich die Beschreibung von Frieden jedoch stark. Hier standen beispielsweise ökonomische Entwicklungsmöglichkeiten im Vordergrund.

Unter der Überschrift »Politische Polarisierung« referierte unter anderem Mónica Gerber zu Legitimität, Gerechtigkeit und Rechtfertigung im Konflikt zwischen der Polizei und Protestierenden in Chile. In den Jahren 2019 und 2020 kam es in Chile zu gewalttätigen sozialen Unruhen, weshalb die Regierung sogar einen Ausnahmezustand ausrief. Im Zuge der Nachsorge ließen Frau Gerber und ihre Kolleg*innen im Frühjahr 2021 eine Umfrage in Chile unter der Frage laufen, warum Menschen Polizei- und Protestgewalt rechtfertigen. Sie analysierten die Rolle von wahrgenommener Ungerechtigkeit in der Behandlung durch Polizeibeamt*innen gegenüber den Demonstrierenden, wahrgenommener polizeilicher Legitimität und Gruppenidentifikation. Die Ergebnisse zeigen unter anderem, dass die Wahrnehmung von Verfahrensungerechtigkeit innerhalb dieses Konflikts eine verstärkende Wirkung auf die Legitimation von Gewalt innerhalb der Interaktion zwischen Polizeibeamt*innen und Demonstrant*innen hat. Besonders bei Menschen, die sich mit den Demonstrierenden identifizierten, hat ihr Eindruck einen Effekt auf die wahrgenommene Delegitimation der Polizei. Außerdem führt die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit indirekt zu einer größeren Unterstützung von Gewalt durch Demonstrant*innen und einer geringeren Befürwortung von Polizeigewalt.

Angesichts ausgeprägter Tendenzen wachsender gesellschaftlicher Ungleichheit auf verschiedenen Ebenen stand das dritte Panel unter der Überschrift »Ungleichheit, Diskriminierung und Inklusion«. Der Beitrag von Charlotte Hohnemann, die ein Studienprojekt an der Bergischen Universität Wuppertal vorstellte, griff in diesem weiten Feld das Thema der Ungleichheit zwischen sozialen Klassen auf und verwies auf das Risiko von gesellschaftlicher Spaltung. In dem Bestreben, die Mechanismen dieser Spaltung besser erklären zu können, haben sie und ihre Kolleg*innen eine Untersuchung des Zusammenhangs zwischen sozio­ökonomischem Status, Wohlbefinden und Arbeitsleistung aus arbeitspsychologischer Perspektive ausgearbeitet. Dabei spielen, so Hohnemann, Stressoren und aufbauende Erlebnisse die entscheidenden Rollen, die je nach Status unterschiedlich häufig vorkommen und unterschiedlich stark wirken. Die Forscher*innengruppe geht davon aus, dass sich an beiden Enden der sozioökonomischen Pole ein Spiraleffekt einstellt, durch den Menschen mit vielen Ressourcen leichten Zugang zu mehr Ressourcen haben (»Gain Spiral«) und Menschen mit wenig Ressourcen diese leichter verlieren (»Loss Spiral«). Die erhobenen Daten könnten für Arbeitgeber*innen und Sozialpolitik Anhaltspunkte für mögliche Stellschrauben zur Reduzierung von Konflikten um innergesellschaftliche Ungleichheit dienen.

Wie Identitäten soziale Spaltung beeinflussen, diskutierten die Referent*innen im vierten Panel. Bosnien-Herzegowina diente dabei in zwei Vorträgen als Kontext für Identitätsforschung. Patrizia John hielt ihren Vortrag unter dem Titel »Das Zusammenspiel von Identität und politischer Partizipation der »Anderen« in konföderativen Demokratien – Eine Fallstudie über die bündnisfreien Bürger in Bosnien und Herzegowina«. Unter dem diskriminierenden Merkmal »Die Anderen« versteht man in diesem Falle alle, die sich nicht mit der Konkordanzdemokratie identifizieren. Unter ihnen nennen sich einige »die bündnisfreien Bürger*innen«. Identität und politische Partizipation dieser Gruppe wurden in Interviews untersucht. Es stellte sich heraus, dass sie sich individuell für ihre Identität entschieden hatten und diese als mobilisierenden Faktor nutzen. Unter den bündnisfreien Bürger*innen gibt es eine hohe Bereitschaft, multiethnische Parteien und politische Akteure, die gleiche Ziele anstreben, durch Wahlbeteiligung zu unterstützen. Ihre Beteiligung könnte den Weg zu einer liberaleren Demokratie unterstützen.

Wie eine Gesellschaft mit Bedrohung umgeht, kann sicherlich als eine der heißen Fragen der Friedenspsychologie insgesamt betrachtet werden. Dieser konnte im Panel zu »Ingroup Attitudes« durch verschiedenste Forschungsprojekte nachgegangen werden. Ein interessantes Beispiel war dabei die Forschung von Mohammad Mustafa Barie-Azizi et al. (Hamburg), die sich damit beschäftigt, welchen Einfluss kollektiver Narzissmus von Deutschen auf die Wahrnehmung von Juden hat. In seiner Studie zeigte er, dass die Verweigerung einer vergebenden Haltung in Bezug auf die Shoa einer jüdischen Person im Zusammentreffen mit einem hohen Grad an Narzissmus bei der ihr*ihm gegenüberstehenden deutschen Person einen negativen Effekt darauf hatte, wie »warm« die jüdische Person bewertet wird. Seine Ergebnisse geben Anstoß, die deutsche Erinnerungskultur kritisch zu hinterfragen und zu prüfen, inwiefern diese daraus motiviert ist, ihr bedrohtes Selbstbild zu schützen und ultimativ doch auf »Vergebung« ausgerichtet ist.

Prof. Dr. Beate Küpper von der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach bereicherte die Tagung mit ihrem Keynote-Vortrag zum Thema »Soziale Spaltung und Populismus in Zeiten von Klimawandel und Energiewende«. Darin stellte sie ihre Forschung vor, die sie u.a. in einem Verbundprojekt u.a. mit dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung erarbeitet hat. Ein besonderes Augenmerk legte sie auf das Thema Populismus und die Rolle von »Bystandern«. Zwar stimmen 80 % der Deutschen einer Energiewende im Allgemeinen zu, doch sind viele mit ihrer Umsetzung unzufrieden. Dies hat Auswirkung auf ihr Handeln und ihre Meinungsäußerung. Viele Menschen gehen dabei fälschlicherweise von der Annahme aus, ihre Mitmenschen hätten mehr gegen erneuerbare Energie als sie selbst. Was für Konsequenzen hat dies für unsere Gesellschaft und den Klimawandel? An den Vortrag schloss sich eine angeregte Diskussion der Tagungsbesucher*innen über Populismus an.

Auch der zweiten Keynote-Vortrag regte zu interessantem Austausch an. Maria Malksöo vom Center of Military Studies der Universität Kopenhagen brachte dabei eine gänzlich andere Perspektive ein. Mit ihrem politikwissenschaftlichen Hintergrund beleuchtete sie Russlands Krieg in der Ukraine von einer Warte der kritischen Sicherheitsstudien aus und stellte tiefgreifende und poetisch anmutende Fragen: wenn dieser Krieg ein Spiegel ist, was reflektiert er? Welche Bedeutung hat »Sieg« in einem Krieg, den keiner gewinnen kann? Wie mobilisiert die Erinnerungspolitik einer »aggressiv sich selbst suchenden Nation«? Und nicht zuletzt: kann das westliche Europa die Lehren des Zweiten Weltkriegs genügend reflektieren oder bleibt er bei einer intellektuell-belehrenden Haltung des »westplaining«?

Den diesjährigen Gert-Sommer-Preis für Friedenspsychologie erhielt Verena Muckermann für ihre Masterarbeit, die das Verhältnis der Gerechtigkeitsvorstellungen von syrischen Geflüchteten mit deren wahrgenommener Bedürfnisbefriedigung erkundete. Ihre Arbeit hat die Jury durch ihre innovative Verknüpfung verschiedener theoretischer Modelle überzeugt, die auf eine aktuelle friedenspsychologisch relevante gesellschaftliche Herausforderung angewandt wurde.

Organisiert wurde die diesjährige Tagung von Prof. Dr. Christopher Cohrs, Dr. Adrian Rothers, Dr. Edward Clarke, Dr. Tijana Karić, Isabel Müller, Frank Eckerle und Michaela Bölinger.

Für ihre finanzielle Unterstützung bedankt sich das Organisationsteam herzlich bei der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie und der Fachgruppe Sozialpsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie.

Greta Stöblen und Nicola Kuhle

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2022/4 Gewalt/Ökonomie, Seite 47–49