W&F 1989/4

Editorial

von Paul Schäfer

Die aus der DDR stammende Schriftstellerin Monika Maron hat ihr deutsches Herz bei der ersten Begegnung mit dem »alten Vater Rhein« entdeckt. Die Menschen brauchen Mythen. Den deutschen Rhein, die Bayreuther Festspiele und Schalke 04. Zugegeben auch mich erfassen Heimatgefühle am Rhein. Ich bin ihn noch durchschwommen – ohne Froschanzug. Die Elbe bei Dresden finde ich schön. Wie die Donau bei Budapest. Im übrigen braucht`s internationale Anstrengungen, um diese Gewässer zu reinigen.

In Hambach 1835 ging es um »einig Vaterland« und die »freie Republik«. Das Nationale hat in Verbindung mit sozialer und demokratischer Emanzipation vorwärtsweisenden Charakter. Davon abgelöst ist es umso mehr auf Sentiment und Symbolik angewiesen. Und auf Exklusivität. Die inzwischen hergestellte Hackordnung zwischen Umsiedlern, Aussiedlern und Asylanten zeigt, wie das funktioniert.

Die DDR-Intellektuellen, die den Appell „Für unser Land“ verfasst haben, sind höchst ehrenwerte Leute. Mit dem 9. Nov. aber, dem Wegfall der »Systemgrenze«, scheinen die Weichen gestellt für die sukzessive »Vereinigung«. Der dominierende deutsche Staat wird dem anderen den Stempel einprägen. Die Frage, in welcher Staatsform (Konföderation etc.) sich diese Durchdringung vollzieht, ist sekundär. Je mehr Eigenständigkeit für den Osten, umso besser. Damit ist die Frage nach der »Friedensbewegung in Ost und West« neu gestellt. Sie muss sich neu formieren und diesen Prozess beeinflussen. Es liegt auch in ihrer Verantwortung, welche Rolle Deutschland bzw. seine Teile im künftigen Europa spielen.

  1. Noch werden nur die Medaillen addiert, die ein künftiges Deutschland bei Olympia erringen würde. Aber unterschätzen wir nicht die Dynamik, die eine solche Entwicklung vor dem Hintergrund des grassierenden Rechtsextremismus bekommen könnte! Im Klartext: deutsch-imperiale Mitteleuropakonzeptionen sind noch nicht gänzlich abgeschrieben. Die deutsche Annäherung muß im europäischen Rahmen stattfinden. Geeignet dafür ist die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Mit der Schlußakte von Helsinki und den Folgedokumenten sind grundlegende Bedingungen der europäischen Friedensordnung (Integrität der Grenzen etc.) formuliert, die gegen Neuordnungsfanatiker verteidigt werden müssen.
  2. Aber auch die »friedlichen« Kolonisierungsphantasien der euphorisch gestimmten Konservativen stellen eine Gefahr dar. Es liegt in ihrer Logik militärisch gestützter Machtpolitik gegenüber dem Osten (Kohl: Der NATO-Doppelbeschluß hat die Reformen im Osten erst möglich gemacht) aber auch dem Süden (!), daß eine starke NATO „auch künftig gebraucht wird“. Die kritische Auseinandersetzung mit diesen Hegemonialkonzepten und den Militärbündnissen ist bitter nötig – auch damit die eigentlichen Zukunftsfragen – Ökologie, Weltwirtschaft & Entwicklung – auf Punkt Eins der Tagesordnung kommen.
  3. Es ist gut, daß die Militärapparate schrumpfen. Im Osten kräftig; im Westen mäßig. Natürlich stehen auch die Cheney, Wörner, Stoltenberg & Co., die Vertreter der Rüstungsfirmen, unter dem Druck enger werdender Spielräume. Aber den Kernbereich des Militarismus möchten sie nicht antasten. Um die in der gegenwärtigen Entwicklung liegenden Gefahren der Destabilisierung zu vermeiden, muß jedoch der Abrüstungsprozeß an Tempo und Umfang gewinnen. Fünfzig Prozent des derzeitigen NATO-Niveaus sind mehr als genug. Nach einem greifbar nahen, ersten VKSE-Abschluß muß zügig weiter verhandelt werden. Hier wird weiterhin öffentlicher Druck vonnöten sein.

Die neue europäische Friedensordnung, in welche die deutsche Entwicklung eingebettet ist, kann nur entstehen und langfristig bestehen, wenn allseits eine konsequente Entmilitarisierung und Zivilisierung betrieben wird.

Ihr Paul Schäfer

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/4 Die 90er Jahre: Neue Horizonte, Seite