Editorial
von Caroline Thomas
Mehr als eine Milliarde Menschen (80% der Weltbevölkerung) verdienen heute gerade mal 1,4% des Welteinkommens.
Das Jahr 1992 ist ein Jahr, das unsere nordwestlichen Industriegesellschaften mit dem wichtigsten Strukturproblem des ausgehenden 20. Jahrhundert konfrontiert: die Teilung der Welt in Habende und Habenichtse, in Unterdrücker und Unterdrückte. Mehrere historische und aktuelle Daten erinnern uns WesteuropäerInnen an unsere Schuld und an unsere unterlassenen Taten.
So wird sowohl in Spanien als auch in den USA mit großem Pomp und Gloria der 500. Jahrestag der Entdeckung Amerikas gefeiert. Den Völkern der sog. Dritten Welt jedoch – insbesondere in Lateinamerika – bleibt das Feiern schlicht im Halse stecken, und sie stellten in der Erklärung von Mexico fest, „daß der 12. Oktober 1992, der in seiner eurozentristischen Version als »Entdeckung« oder »Begegnung zweier Welten« bezeichnet wird, den Beginn eines der größten Völkermorde, Plünderungen und Ausbeutungsprozesse der menschlichen Geschichte darstellte“. Diesen Tag zu feiern, sei ein „Akt der Arroganz und Verachtung gegenüber den Völkern der 3. Welt“.
Dieses Datum 1492 steht aber nicht nur für den Beginn eines Völkermordes und für die Zerstörung jahrtausendealter gewachsener Kulturen, sondern auch für den Beginn der Teilung der Welt in den »reichen, zivilisierten, entwickelten« Norden und den »armen, unzivilisierten, unterentwickelten« Süden. Europas Griff über die eigenen Grenzen begann. Der Eurozentrismus fand seinen Anfang, Europa wurde zum »Zentrum der Welt«. Es folgten Eroberungskriege, Zerstörung, Ausbeutung; kurz gesagt: die Jahrhunderte des Kolonialismus.
Dieser läßt uns bis heute auf Kosten der sog. Dritten Welt unser wachstumorientiertes Leben genießen. Der Prozeß, der damals begann, die Macht des Kapitalismus und seine strukturellen Folgen, sind bis heute sichtbar. So treffen sich am 6./7. Juli in München die 7 Staatschefs der größten Industriestaaten, um die ihren Interessen entsprechenden Machtstrukturen in der Weltwirtschaft zu stabilisieren.
Neben dem 500. Jahrestag des Kolonialismus und dem G7-Gipfel in München gibt es noch zwei weitere Daten, die uns in diesem Jahr an die Probleme zwischen Nord und Süd erinnern. Da ist zum einen die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung im Juni '92 in Rio de Janeiro. Die Idee war gut: alle Staatschefs setzen sich an einen Tisch, um den Zusammenhang zwischen Entwicklung und Umweltproblemen zur Kenntnis zu nehmen und gemeinsam Lösungsstrategien zu verabschieden. Aber die Dialogunfähigkeit zwischen Nord und Süd wird schon in der Vorbereitungsphase der Konferenz deutlich und birgt die Gefahr des Scheiterns.
Das vierte und letzte Datum ist die Jahreswende 1992/93. Zum 1.1.93 tritt der EG-Binnenmarkt in Kraft. Die wirtschaftlichen Vorteile für Westeuropa werden auf Kosten der sog. Dritten Welt gehen. Während sich EG-Europa auf einen gemeinsamen Markt ohne Zollschranken vorbereitet, haben Entwicklungsländer zu diesem Markt kaum Zugang. Der Anteil der Entwicklungsländer am Welthandel sank von 34% 1950 auf 24% 1989.
Zwischen diesen beiden Daten liegen zwei Entwicklungsdekaden der UNO, zwei Jahrzehnte sog. Entwicklungspolitik der Industrieländer. Der damals proklamierte Dialog ist gescheitert.
Die Politik reagiert mit Ohnmacht auf die anstehenden globalen Probleme. Diese Ohnmacht wird deutlich an den »Lösungsstrategien«, die sie anbieten. Ihnen fällt nichts besseres ein, als die Abschottung der »heilen Welt« gegenüber dem Süden zu proklamieren (Flüchtlingsdebatte), und die Probleme, die außerhalb unseres Tellerrandes entstehen mit militärischen Interventionen zu lösen (nach dem im Februar vorgelegten Bundeswehrplanungspapier des BmVgs soll es zukünftig sog. deutsche Krisenreaktionskräfte geben).
Diese Ohnmacht geht einher mit einer Rotstiftpolitik, die in diesem Jahr die Mittel des Bundes zur Unterstützung der Friedens- und Konfliktforschung massiv beschnitten hat. Für das Haushaltsjahr 1992 sind die Gelder bereits um 1 / 3 gestrichen worden. Für 1995 wird dies voraussichtlich zu 100% der Fall sein (s. hierzu im Heft S. 49).
Die Lösungsstrategien und Veränderungsvorschläge, die von den FriedenswissenschaftlerInnen entwickelt werden, sind der Politik offensichtlich zu grundsätzlich. Aber nur eine radikale – an den Wurzeln ansetzende – Strategie hat eine Chance, die globalen Probleme zu lösen.
Im übrigen: Ich hoffe trotz der immer wieder negativen Nachrichten, mit denen ich ihnen wahrscheinlich auch in Zukunft oft auf den Pelz rücken werde, auf ein angenehmes Miteinander. Ich bin ihre neue Redakteurin.
Ihre Caroline Thomas