Editorial
von Erich Schmidt-Eenboom
„Der Kalte Frieden“, den der Investitionsbanker an der Wall Street, Jeffrey E. Garten, für die Konfliktkonstellation „Amerika, Japan und Deutschland im Wettstreit um die Hegemonie“ diagnostiziert, ist nicht auf die wirtschaftlich potentesten Staaten der nördlichen Hemisphäre begrenzt. In Großbritannien erregten Ende Januar zwei Reden Aufsehen, in denen der britische Außenminister Douglas Hurd und Verteidigungsminister Malcolm Rifkind die außen- und militärpolitischen Interessen ihres Landes vor dem Hintergrund des Balkankriegs definierten.
Der britische Verteidigungsminister erläuterte am 22. Januar 1993 vor dem Royal United Services Institute, unter welchen Bedingungen britische Streitkräfte im Ausland eingesetzt werden: „Erstes Kriterium muß das nationale Interesse sein … Demzufolge ist es in manchen Fällen ratsam, eine Beteiligung Großbritanniens an Operationen zu vermeiden, bei denen das nationale Verteidigungsinteresse gering oder gar nicht vorhanden ist.“
Daß Großbritannien nicht mit Bodentruppen in Bosnien intervenieren wolle, sei kein Anlaß sich zu schämen, so Rifkind, weil nicht etwa Zaghaftigkeit die Ursache sei, „sondern ein klares Urteil darüber, daß eine Militäraktion in einer bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzung keine Lösung sein kann“.
Hurd betonte vor dem Royal Institute of International Affairs eine Woche später, die Streitkräfte Großbritanniens seien durch die Auslandstationierung u.a. in Deutschland, durch Nordirland- und durch UN-Einsätze bereits stark beansprucht, die britische Diplomatie jetzt personell bis zum letzten ausgeschöpft. Der diplomatische Apparat Londons ist im Gegensatz zu den Streitkräften im Bosnienkonflikt stark involviert.
Aber auch Diplomatie kann töten. Und britische Diplomatie tut es in Bosnien. In Brüsseler NATO-Kreisen ist die Empörung kaum noch unter der Decke zu halten, seit die britische Haltung gegenüber Serbien bekannt ist. Man werde den Serben in keiner Weise entschieden entgegentreten, weder wirtschaftlich noch militärisch, ließ die britische Regierung die Großserben in Belgrad wissen. Während der britische Premier bei der Londoner Konferenz im Juli 1992 öffentlich eine umfassende Ächtung Serbiens forderte, zieht Londoner Realpolitik dort die Bremse, wo es um eine Schwächung der Position Belgrads geht.
Selbst US-Präsident Clinton mußte dieser Tage erleben, daß John Major die Beteiligung an der Luftversorgung Bosniens verweigert und seinem Versprechen gegenüber Belgrad und damit der Tolerierung des Völkermords treu bleibt. Zwar hatte der britische Verteidigungsminister ziemlich offen gegen die Achse Paris-Bonn polemisiert – mit dem Hinweis auf „Gefahren, wenn sich die europäischen Partner zu tief in geheime Argumente über den relativen europäischen Charakter von NATO, KSZE und WEU verstricken und wenn eine starke europäische Verteidigungsidentität als Synonym für ein Heraushalten der Vereinigten Staaten gälte.“ Aber selbst Rifkinds Priorität für eine US-orientierte NATO-Politik muß in diesem Fall hinter dem nationalen Interesse Londons an serbischer Gegenmacht auf dem Balkan zurückstehen.
Die vitalen Interessen Großbritanniens an einer engen Bindung an Serbien liegen im Rückfall in die Balkan-Politik des 19. Jahrhunderts. Gegen Deutschland als ambitionierte Ordnungsmacht in Osteuropa müssen aus britischer Sicht Bastionen gefestigt werden. Seit der von Bonn forcierten Anerkennung Kroatiens und Sloweniens fürchtet London Verluste im Wettlauf um Einflußzonen und die Germanisierung des ganzen Balkans.
In Chatham House hatte Douglas Hurd die enge Auslegung britischer Interessen favorisiert, die nach seinen Worten darin liegt, „daß wir keine Veranlassung haben, in einem Land wie Bosnien zu sein, weil wir keine Interessen – weder strategische noch kommerzielle – in diesem Teil der Welt haben.“ Bemühungen um eine sichere und anständigere Welt müssen – so Hurd – „höchst diszipliniert und begrenzt“ sein. Zu den Wertberichtigungen, zu denen britische Banken fortgesetzt gezwungen sind, hat die britische Diplomatie nicht gefunden. Nicht die Herausforderungen an eine internationale Friedensordnung, sondern spätkoloniale Wertschöpfung und Einflußpolitik dominieren das Denken aus der Downing Street.
Der als Außenpolitiker zwar ambitionierte, doch vom Koalitionsproporz darin gehandicapte Volker Rühe erläuterte jüngst beim Dreikönigsessen des Rheinisch-Westfälischen Handwerkerbundes, wohin die „exportorientierte Mittelmacht mit weltweiten Interessen“ Deutschland strebe: Unter dem Anspruch „verantwortlicher Wahrnehmung eigener Interessen mit den Partnern im Bündnis“ und der Forderung, „außen- und sicherheitspolitisch uneingeschränkt handlungsfähig“ zu werden, verbirgt sich der Wille nach Gleichberechtigung bei der Wahrnehmung vitaler Interessen Deutschlands – militärische Interventionsbereitschaft inklusive.
Machtbewußter Nationalismus wird nicht nur in London salonfähig. Eine verschärfte Konkurrenz von weltpolitisch ambitionierten Nationalstaaten aber mündet bestenfalls in einem Kartell des reichen Nordens, das Interessenunterschiede zu Lasten der Dritten Welt auspendelt, schlimmstenfalls aber in einer Kette neuer Stellvertreterkriege, die unterschiedlich fixierte Klienten einzelner G-7-Staaten in der vormals Zweiten und der Dritten Welt gegeneinander führen könnten.
Ihr Erich Schmidt-Eenboom