W&F 1994/4

Editorial

von Achim Schmillen

was für eine Hektik in den besinnlichen Adventswochen. Die NATO fragt nach bundesdeutschen Tornado-ECR-Bombern für einen möglichen Einsatz in Bosnien und wird mit großer Wahrscheinlichkeit eine Abfuhr aus Bonn erhalten; die NATO will die Ostausdehnung auf die Reformstaaten in Mittelosteuropa und bekommt eine saftige Ohrfeige vom russischen Außenminister; die KSZE will zu einer Organisation werden, die das Sicherheitsdilemma endgültig löst, aber auch hier prallen der Westen und Rußland aufeinander. Und kommende Woche steht uns nochmal dasselbe Stück bevor, diesmal auf dem EU-Gipfel in Essen mit wahrscheinlich einem ähnlichen Ausgang. Verdammt viel los auf der europäischen Diplomatenbühne.

Europa ist auf der Suche nach einer stabilen Sicherheitsarchitektur und kommt nicht so recht voran. Kein Wunder, die, die dieses Meisterstück versuchen, sind in ihrem Denken und Handeln doch nur die Lehrlinge von gestern, die im Kalten Krieg einen Ordnungsfetischismus und den Konfrontationskurs verinnerlicht haben.

In Budapest werden also 53 Staats- und Regierungschefs versuchen, die europäische Sicherheitsarchitektur neu zu strukturieren. Dieses Gipfeltreffen wird hoffentlich dazu führen, daß die KSZE als ein Instrument der Konfliktlösung und Friedenssicherung organisatorisch gestärkt wird. Einen neuen Namen wird sie höchstwahrscheinlich erhalten. Das »K« für Konferenz wird durch ein »O« für Organisation ersetzt. Das ist der richtige Weg, denn es wird höchste Zeit, die KSZE gegenüber der NATO und der WEU aufzuwerten und zu einer Organisation mit eigenen Regeln und Befugnissen umzuwandeln. Die große Leistung der KSZE ist darin zu sehen, daß sie sich stets den europäischen Problemen anpassen konnte, statt es umgekehrt zu versuchen. Die entscheidende Frage für die Zukunft lautet, wie die KSZE in die Lage versetzt werden kann, vorhandene Kriege zu beenden und wie neue vermieden werden können.

Für alle Gipfeltänze gilt: Wenn es keine einigermaßen akzeptable Perspektive für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur unter Einschluß aller Organisationen und Staaten in Europa (einschließlich Rußland) gibt, dann besteht die große Gefahr einer Renationalisierung in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Nicht zuletzt das Drama in Bosnien zeigt, daß der Westen kurz vor der Aufkündigung seines Konsenses steht.

Die Anforderung von bundesdeutschen Tornado-Jagdbombern ist ein deutliches Zeichen, daß ein tiefer Riß durch die Nordatlantische Allianz geht. Denn aus dem Diplomatennebel befreit, bedeutet dieser NATO-Wunsch, daß die USA ihre Kampfflugzeuge für derartige Einsätze nicht mehr zur Verfügung stellen. Und wenn man die besten Flugzeuge nicht mehr bekommen kann, dann will man halt die zweitbesten. Und schlägt damit – interessanterweise – die zwei berühmten Fliegen mit einer Klappe. Deutschland soll in der Frage des Bosnienkonfliktes und insbesondere in der Diskussion um die Aufhebung des Waffenembargos aus einer sich abzeichnenden Koalition mit den USA herausgelöst werden.

Der amerikanische Führungsanspruch, der europäische Konflikte oft austarieren konnte, welkt dahin. Die Lösung des »Sicherheitsdilemmas« fällt somit immer mehr in europäische Hände. Damit droht aber die Gefahr, daß die europäischen Staaten in alte Verhaltensmuster zurückfallen drohen, die auf diesem Kontinent in der Vergangenheit zu unheilvollen Konfliktkonstellationen geführt haben.

Auf allen drei Gipfeltreffen werden wir immer wieder dieselbe Frage zu hören bekommen: Wer darf in welchem Zeitraum in welchen Integrationszusammenhang? Und was sagen Boris Jelzin und vor allem seine Generalität dazu? Das ist schwierig, denn schon die alten Griechen, immerhin die Erfinder der Idee Europa, wußten nicht zu bestimmen, wo denn nun die Grenzen Europas im Osten zu sehen sind.

Vielerorts wird Europa dabei als eine Festung gedacht, manche wünschen sich sogar ausdrücklich ein solches Europa. Aber selbst wenn es einen modernen Limes geben sollte, so dürfte doch gerade in Deutschland klar geworden sein, daß keine Mauer in der Lage ist, die Geschichte aufzuhalten. Politische und kulturelle Gemeinschaften können sich nicht auf Dauer hinter Mauern verschließen.

Damit sind wir auch schon beim Schwerpunktthema des Heftes. Denn wer sich Gedanken über die Grenzen von Europa macht, der kommt früher oder später auch auf die Frage, was hinter diesen Grenzen liegt. Denn letztlich ist Europa nicht mehr als die westliche Ausbuchtung einer gigantischen Landmasse, die Geographen auch Eurasien nennen.

Wenn von Asien die Rede ist, bekommen unsere Wirtschaftskapitäne glänzende Augen beim Träumen von gigantischen Absatzmärkten, gepaart mit einer Wut der Enttäuschung, daß man hier kaum Fuß fassen wird. Lange Zeit galt das asiatische Universum verdammt zur japanischen Vorherrschaft. Solange China dem Markt ferngebliben war, hatte Japan leichtes Spiel. Mit den gigantischen Umwälzungen in China zeichnet sich ein gigantischer Wettbewerb am Horizont ab. Denn nun hat es Japan nicht nur mit China zu tun, sondern mit einem kaum entwirrbaren Knäuel, einem vielfältigen Wesen, mit einem undurchschaubaren Komplex vieler Chinas. Alain Minc hat mit Blick auf die Entwicklung China erst kürzlich gefragt:

„Wie ließe sich der Begriff (klassischer Freihandel, A.S.) noch rechtfertigen angesichts von Konkurrenten, die mehr Leistungen bringen als wir, die selbstverständlich mehr arbeiten, die ein Dreißigstel von unserem Lohn verdienen, die sich für die am weitesten entwickelten Industrien und Dienstleistungen eignen, die über Führungskräfte mit internationalem Niveau verfügen, über dieselbe Ausrüstung wie westliche Unternehmen und die sich auf beträchtliche finanzielle Mittel stützen können?“.

Ihr Achim Schmillen

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1994/4 Asien, Seite