W&F 1997/1

Editorial

von Albert Fuchs

Rassismus und Totalitarismus seien keine unabwendbaren Naturkatastrophen; sie seien verschuldet und ihre Anfänge lägen im kleinen. Das war der Tagespresse zufolge der Kern der Botschaft des deutschen Außenministers zum diesjährigen Holocaust-Gedenktag im Land der Täter. Wörtlich erklärte Klaus Kinkel 52 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz: „Wir Deutche tragen in besonderer Weise Verantwortung dafür, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten.“

All das ist nun gewiß nicht neu, aber deswegen auch nicht überflüssig und noch weniger falsch. Im Gegenteil! Dennoch stört mich einiges an diesen wohlklingenden Worten. Zunächst: Was meint Kinkel eigentlich, wenn er uns Deutsche in besonderer Weise für die Erinnerung an den Holocaust, an diese bis dahin unerhörte Behandlung von Minderheiten durch die Mehrheit eines Staatsvolks, in die Pflicht genommen sieht? Geht es um eine Erinnerung um der Erinnerung willen? Oder geht es darum, daß wir uns aufgrund dieser Erinnerung in besonderer Weise verantwortlich dafür sehen sollten, daß sich das Erinnerte nicht wiederholt? Das ist m.E. ein höchst bedeutsamer Unterschied. Denn so sehr ein gesteigertes Verantwortungsbewußtsein in diesem zweiten Sinn ein besonderes Verantwortungsbewußtsein für die Erinnerung an den Holocaust voraussetzen mag, so wenig ist es damit gegeben. Schließlich pflegen ja auch Alt- und Neu-Nazis die Erinnerung!

Doch kann man nicht darauf vertrauen, daß ein Mitglied der Bundesregierung die »politisch korrekte« Erinnerung fördern will und sich für ein geschärftes Verantwortungsbewußtsein in einem integralen Sinn einsetzt? Ich denke: das erste vielleicht, das zweite keineswegs! Damit bin ich bei meinem tieferen Unbehagen gegenüber wohlklingenden Worten »von oben« zum Thema Holocaust u.ä.: Selbst wenn Kinkel – oder wer auch immer seitens der Regierenden sich zu diesem Thema äußert – ein integrales Verständnis von der politisch-moralischen Verantwortung Deutschlands und der Deutschen haben und vertreten sollte, er oder sie ist unglaubwürdig, er oder sie wird durch die herrschende minoritäts- und ausländerpolitische Praxis, die ja doch von ihm oder ihr mit zu verantworten ist, fortlaufend Lügen gestraft.

Den neuesten Coup diesbezüglich landete Innenminister Kanther knapp 14 Tage vor dem Holocaust-Gedenktag: Seit dem 15. Januar dürfen Türken, Marokkaner, Tunesier und Ex-Jugoslawen unter 16 Jahren, anders als bisher, nur noch mit einem Visum in die Bundesrepublik einreisen, und die hier geborenen und/oder aufgewachsenen Kinder und Jugendlichen aus diesen ehemaligen Anwerberstaaten benötigen nun eine Aufenthaltsgenehmigung. Der zweite Teil der neuen Verordnung betrifft rund 600.000 in der Bundesrepublik geborene und lebende Kinder und Jugendliche – 600.000 von einem Tag auf den anderen strukturell ausgegrenzt!

Kanthers Diskriminationsakte ist jedoch lediglich ein Beispiel von vielen für die Wiederbelebung eines »amtlichen Rassismus« in Deutschland. Nur an ein zweites sei noch erinnert: In namentlicher Abstimmung votierte im November des vergangenen Jahres die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten für eine von der Regierungskoalition vorgeschlagene Verschärfung des Ausländerrechts; u.a. schreibt diese Neuregelung zwingend vor, einen Ausländer – auch einen als asylberechtigt anerkannten politisch verfolgten – abzuschieben, wenn er zu mindestens drei Jahren Haft verurteilt wird. Ausländer sollen in einem solchen Fall also doppelt bestraft werden; für sie gilt die grundgesetzlich garantierte Gleichheit vor dem Gesetz nur noch auf dem Papier (falls der Bundesrat dieser Novelle zustimmt).

Rechnet man zu den Vorgängen dieser Art die gravierenden minoritäts- und ausländerpoltischen Versäumnisse und Unterlassungen der Regierungskoalition hinzu – vor allem den Verzicht auf eine Reform des völkisch gefärbten deutschen Staatsbürgerrechts und den hinhaltenden Widerstand gegen eine Zuwanderungs- und Antidiskriminierungsgesetzgebung –, wird vollends deutlich, daß der diagnostizierte amtliche Rassismus den »Beginn im kleinen« längst hinter sich gelassen hat; er ist längst nicht mehr (nur) Sache der Denk- und Handlungsweise einzelner Individuen – auch nicht einzelner Regierungsmitglieder –, sondern bereits fest in die Organisation des Miteinanders von Mehrheit und Minderheit(en) hierzulande verwoben.

Probleme im Verhältnis von Mehrheit und Minderheit(en) sind jedoch keine deutsche Spezialität. Auf die Wiederkehr der deutschen Gespenster war hier näher einzugehen, weil es im vorliegenden Heft um diese Gespenster eben nur am Rande oder einschlußweise geht. Angst vor »dem Fremden«, Vorurteile gegenüber »den anderen«, Diskriminierung von Minoritäten, Ausländerfeindlichkeit und die Verwebung dieser Gefühls-, Denk- und Handlungsweisen in die Organisation der Gesellschaft scheinen geradezu zur »condition humaine« zu gehören. Die hier zum Schwerpunktthema »Mehrheiten und Minderheiten« veröffentlichten Arbeiten sind zwar auf die Analyse konkreter Zustände und Vorgänge angewiesen; es geht jedoch durchweg um Aufklärung über Erscheinungsweisen, Entstehungsbedingungen, Funktionen und Bearbeitungsmöglichkeiten dieser Eigenart des menschlichen Soziallebens als anscheinend ubiquitäre Eigenart.

Ihr Albert Fuchs

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1997/1 Neben-einander – Gegen-einander – Mit-einander, Seite