W&F 1997/2

Editorial

von Paul Schäfer

Daß auf der Bühne internationaler Diplomatie viel Schönes deklariert wird, ist bekannt. Auch der türkische Staatspräsident setzt seine Unterschrift unter ein Dokument, in dem der Grundsatz der territorialen Integrität der Staaten hochgehalten wird. Derweil bombardieren zehntausende türkischer Soldaten Ziele im Nordirak. Mit Hilfe von Nato-Waffen und mit wohlwollender Unterstützung der USA und der Bundesrepublik.

Daß in einer auf vordergründige Symbolik getrimmten Öffentlichkeit den schönen Deklarationen geglaubt wird, ist ebenfalls nichts Neues. Folgt man den beteiligten politischen Akteuren und ihren treuherzigen Kommentatoren, so ist mit dem geschichtsträchtigen Datum 27. Mai 1997 eine neue Ära angebrochen. Mit der Grundakte zwischen NATO und Rußland sei das Gerüst einer euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur des 21. Jahrhunderts errichtet worden, hören wir. Nur Nörg-ler von vorgestern können jetzt noch Haare in der Suppe der Nato-Osterweiterung finden.

Betrachten wir die Sache nüchtern: Der Vertrag war und ist zur Schadensbegrenzung gedacht. Der durch die selektive NATO-Ausdehnung drohende Rückfall in frühere Konfrontationen sollte verhindert werden. Der Schaden aber bleibt. Er liegt in der NATO selbst. Die NATO bleibt eine Militärallianz, die an der Aufrechterhaltung ihres Militärpotentials interessiert ist und die Krisen durch militärische »Machtprojektion« beikommen will. Dies geht auf Kosten der universellen und vornehmlich zivil ausgerichteten Institutionen wie UNO oder OSZE. Die Osterweiterung des Bündnisses muß im Zusammenhang dieses Prozesses gesehen werden, der das internationale System nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation nachhaltig verändert hat.

Wer die NATO-Mitglieder a priori als »die Guten« im weltpolitischen Spiel ansieht, mag diese Wendung der Ereignisse am Ende dieses Jahrzehnts begrüßen. Doch was, wenn die Mitglieder dieser Allianz, die sich nun die Verteidigung »westlicher Interessen« auf die Fahne geschrieben hat, maßgeblich die Konflikte produzieren, zu deren Lösung sie vorgeblich bereit stehen? Welche Sicherheit brächte eine sich möglicherweise herausbildende »nördliche Konstellation«, zu der perspektivisch ja auch Rußland gehören könnte (!), die mit aller Macht ihre Interessen gegenüber den Emporkömmlingen und Habenichtsen des Südens verteidigen will? Würde die Festigung eines solchen Blocks, der den Rest der Welt politisch und wirtschaftlich dominierte, nicht nur die Bedingungen verschärfen, die heute die vielen Kriege, Bürgerkriege und Gewaltakte hervorbringen? Steht nicht die mitgelieferte Suggestion, die gestärkte NATO hätte die Mittel und Instrumente, um Krisenentwicklungen in den Griff zu bekommen, im Widerspruch zu den tatsächlichen Gestaltungsmöglichkeiten? Und zwar von Afghanistan bis Zypern?

Sieht man sich die Grundakte NATO-Rußland im Detail an, so erkennt man schnell, daß hier Wasser als Wein verkauft werden soll.

Die Nato bestätigt, keine Kernwaffen in Osteuropa stationieren zu wollen. War dies je beabsichtigt? Zugleich bekräftigt sie, daß sie ihre Nuklearpolitik in keinem Punkt verändern will – heute nicht und auch nicht in Zukunft. Also auch nicht die Doktrin des Ersteinsatzes von Kernwaffen! Rußland hat seit kurzem diesbezüglich gleichgezogen. Die spektakuläre Ankündigung Jelzins, die Zielprogramme der Atomraketen ausbauen zu wollen, ist als Stabilisierungsmaßnahme zu begrüßen, kann uns aber vor diesem Hintergrund nicht beruhigen.

  • Substantielle Abrüstung ist – auch wenn ein anderer Eindruck erweckt wird – nicht zu erwarten. Der in Aussicht gestellte neue Vertrag über konventionelle Streitkräfte, wohlweislich KSE-Anpassungsübereinkommen genannt, soll die Obergrenzen bei Großwaffensystemen lediglich an die Ist-Bestände annähern. Gleichzeitig läuft der Prozeß der offensiven Umstrukturierung (Schnelle Eingreiftruppen) und rüstungstechnologischen Runderneuerung in Ost und West ungebrochen weiter.
  • Die NATO verzichtet auf die dauerhafte Stationierung von Truppenkontingenten in den neuen Mitgliedsstaaten. Im völlig veränderten »Sicherheitsumfeld« ist der Bedarf nach Aufmarschkapazitäten gegen das ohnehin arg geschwächte Rußland nur gering. Unter dem Stichwort »angemessene Infrastruktur« geht es vorrangig um den Ausbau der logistischen Möglichkeiten zur weltweiten Militärintervention.

Es gibt noch genug Gründe, den Jubelorgien zum Trotz, die NATO-Osterweiterung abzulehnen. Auch wenn die Entscheidung nicht mehr aufzuhalten ist: Die Suche nach einer zivil ausgerichteten europäischen Sicherheitsarchitektur bleibt weiterhin notwendig.

Ihr Paul Schäfer

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1997/2 Quo vadis Europa, Seite