W&F 1999/3

Editorial

von Jürgen Nieth

„Nach UNHCR-Angaben wurden bei den jüngsten Kämpfen insgesamt 4.000 Menschen vertrieben.“

„Die italienische Küstenwache hat am Samstag mehr als 1.000 Flüchtlinge in Auffanglager gebracht, die aus dem Kosovo geflohen waren.“

„Sie sind um Mitternacht gekommen und haben uns fünf Minuten gegeben. Als wir nach hier oben flohen, haben wir unser Haus schon brennen sehen.“

Können Sie diese Zitate zeitlich zuordnen? Das erste ist vom 04. März 1999, die beiden anderen sind vom Juli und August. Dazwischen liegen 11 Wochen Krieg. Ein Angriffskrieg der NATO geführt im Namen der Menschenrechte.

Den Kriegsverlauf kennen wir: Die Eskalation der Flüchtlingsströme, das Elend, die Bilder von den Opfern fanatisierter Milizen, von Bomben und Raketen. Ein »High-Tech-Krieg«, indem die Zivilbevölkerung die Zeche zahlte. Tausende toter Zivilisten auf der einen Seite, auf der anderen eine Hand voll »verunglückter« NATO-Soldaten und 258 tote jugoslawische Soldaten und Polizisten.

Jetzt sind viele, die während des Krieges geflohen sind oder vertrieben wurden, in ihre verwüstete Heimat zurückgekehrt. Frieden ist nicht eingekehrt. Die Gewalt der Waffen hat Hass geschaffen. Früher wurden die Rechte der Bevölkerungsmehrheit durch die Regierenden beschnitten, heute flüchten die Minderheiten. Auf 200.000 schätzte das UN-Flüchtlingswerk die Zahl der Albaner, die in den zwei Jahren vor dem Krieg aus dem Kosovo flohen. Seit dem Krieg flüchteten 195.000, also 85 Prozent der dort vor dem Krieg lebenden Serben.

Die Tausend Roma, die Anfang Juli an der Küste Italiens anlandeten (siehe Zitat am Anfang) bekamen übrigens kein politisches Asyl.

Es sieht so aus, als hätten die Serben, die Roma und die Goraner im Kosovo keine Zukunft, als hätte der Krieg die Chancen auf eine politische Ordnung, in der Menschen unterschiedlicher Nationalitäten zusammenleben können, endgültig zerbombt.

Es sieht so aus, als ob die ethnische »Säuberung« im Kosovo bald vollendet sei. Und das bei Anwesenheit der NATO-Truppen, die vorgaben Krieg zu führen um ethnische Vertreibungen zu verhindern. Die Nachkriegs-Realität: Französische Soldaten in Mitrovica sahen zu, als 7.000 Roma vertrieben und ihr Viertel niedergebrannt wurde; Deutsche Truppen in Prizren gaben militärischen Geleitschutz bei der Flucht von 10.000 Serben – das kann man auch als Beihilfe zur Vertreibung deuten. Die Internationale Polizei aber, die eben diese Entwicklung verhindern und eine ethnisch gemischte örtliche Polizei aufbauen sollte, ist faktisch nicht anwesend. Von der Sollstärke von 3.155 waren zwei Monate nach dem Krieg nicht einmal zehn Prozent vor Ort.

Und nun? 700.000 Serben aus Kroatien und Bosnien leben bereits im Restjugoslawien, dazu noch 200.000, die im Kosovo ihre Heimat verloren haben.

Die Infrastruktur dieses Landes ist zerstört; Brücken, Straßen, Eisenbahnlinien, die größeren Betriebe, die Energieversorgung, Krankenhäuser, Schulen und Universitäten wurden zerbombt. Allein auf die eigene Kraft angewiesen, wird dieses Land auf Jahrzehnte zum Armenhaus Europas und zu einem dauernden Konfliktherd. Nicht der einzige auf dem Balkan, schließlich wurde mit dem Krieg auch die Lage in den Nachbarstaaten destabilisiert, wurden Hass und Nationalismus beflügelt.

Vor diesem Hintergrund ist ein »Stabilitätspakt« für den Balkan, ist Hilfe zur Lösung der humanitären Probleme, zum Aufbau der Infrastruktur, zur Entwicklung demokratischer Strukturen, zur zivilen Konfliktbearbeitung, dringend erforderlich.

Wirksam kann ein solcher Stabilitätspakt aber nur dann sein, wenn alle betroffenen Staaten einbezogen werden, wenn ein Zukunftsprogramm für die Region erarbeitet wird und wenn möglichst schnell ein Hilfsprogramm anläuft, das den Namen tatsächlich verdient. Doch davon sind wir weit entfernt.

Der Ausschluss Jugoslawiens, so lang Milosevic im Amt ist, das ist die Fortsetzung der alten Machtpolitik, das sieht mehr nach Rache aus als nach Lösungssuche. Selbst Außenminister Fischer muss zugeben, dass man ohne die Serben im Boot zu haben, „wesentliche Entscheidungen nicht treffen“ kann.

Die Summen, die bisher für die humanitäre Soforthilfe genannt werden, stimmen auch nicht gerade optimistisch. Auf 100 Milliarden Mark werden die NATO-Kriegskosten veranschlagt, von den 1,5 Milliarden Mark, die das UNHCR und das Rote Kreuz als Mindestsumme genannt haben, um vor dem Wintereinbruch die Grundversorgung für Hunderttausende sicherzustellen, war Anfang August nicht einmal die Hälfte bereitgestellt.

Im Krieg wurde geklotzt, geht's um die Kriegsfolgen, wird gekleckert. »Nachkrieg« im Namen der Menschenrechte?

Jürgen Nieth

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1999/3 Tödliche Bilanz, Seite