W&F 2020/1

Ein eigener Ansatz

Die Atomwaffendoktrin Chinas

von Gregory Kulacki

Die Volksrepublik China hat ein relativ kleines ­Atomwaffenarsenal, eher vergleichbar mit dem von Frankreich und dem Vereinigten Königreich als mit den viel größeren Arsenalen von Russland und den Vereinigten Staaten. Die strategische Logik hinter dem Bau und der Aufrechterhaltung dieser kleinen Atomstreitkraft ist das Ergebnis der chinesischen Geschichte der Neuzeit. Sie unterscheidet sich von den strategischen Überlegungen der anderen Atomwaffenstaaten und wird sich höchstwahrscheinlich nicht ändern. Es ist daher davon auszugehen, dass die chinesischen Atomstreitkräfte zwar qualitativ und technologisch ausgebaut werden, die relative Größe des chinesischen Arsenals und sein Verwendungszweck aber unverändert bleiben. China ist zur vollständigen Abrüstung seines Arsenals bereit, wenn die anderen Atomwaffenstaaten zustimmen, das gleiche zu tun.

China hat einige Hundert Atom­sprengköpfe und genug waffen­taugliches Plutonium für einige Hundert weitere. Die chinesische Führung hat die genaue Zahl der Sprengköpfe nie offiziell bekanntgegeben aus Furcht, ein Gegner könnte dann versucht sein, einen vernichtenden Erstschlag auszuführen. Sie hat aber zugestimmt, sich an einem freiwilligen Moratorium für die Produktion von waffentauglichem Plutonium zu beteiligen. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass nicht beabsichtigt ist, das chinesische Atomwaffenarsenal nennenswert auszubauen.

China könnte mit seinen landgestützten Interkontinentalraketen momentan 75 bis 100 seiner Sprengköpfe gegen seinen Hauptgegner, die USA, richten. Es könnte mit Mittelstreckenraketen, die atomwaffentauglich sind, etwa 100 weitere Atomsprengköpfe auf Ziele abschießen, die näher an China liegen, wie Guam, Russland oder Indien. Die komplette landgestützte Atomstreitkraft ist nicht in ständiger Alarmbereitschaft, sondern die Sprengköpfe werden separat von den Raketen gelagert.

Bald 60 U-Boot-gestützte ballistische Raketen könnten jeweils einen Sprengkopf tragen, die U-Boote sind aber – anders als die Frankreichs, des Vereinigten Königreichs, Russlands und der Vereinigten Staaten – nicht auf bewaffneter Patrouille. Auch hat China momentan keine Atomwaffen an Bord von Flugzeugen; allerdings gibt es unbestätigte Berichte, dass China einen luftgestützten Marschflugkörper entwickelt hat, der mit einem Atomsprengkopf bestückt werden könnte.

Die strategische Logik: »nukleare Erpressung« vermeiden

Im Oktober 1950 drohte die Regierung der Vereinigten Staaten mit einem Atomangriff auf China, nachdem chinesische Truppen Nordkorea Hilfe geleistet hatten. Im März 1955 drohten die Vereinigten Staaten während einer Krise um Taiwan erneut mit einem Atomwaffeneinsatz gegen China. Die chinesische Führung bezeichnete diese Drohungen vonseiten der USA als »Erpressung« mit Atomwaffen.

Als China im Oktober 1964 seinen ersten Atomwaffentest durchführte, ließ es die Welt wissen, es entwickle Atomwaffen, „um der imperialistischen US-Politik der nuklearen Erpressung und der nuklearen Bedrohungen entgegenzutreten“. Die chinesische Regierung argumentierte, durch die Entwicklung eigener Atomwaffen „wäre [die US-] Politik der nuklearen Erpressung und der nuklearen Bedrohung nicht mehr so wirksam“. Sie versprach der Weltöffentlichkeit, China würde nicht an „die Allmacht von Atomwaffen“ glauben, hätte nicht vor, sie einzusetzen, sondern wolle mit seinen eigenen Atomwaffen „das nukleare Monopol der Nuklearmächte durchbrechen und Atomwaffen abschaffen“ (New York Times 1964).

Die strategische Logik hinter diesen Äußerungen ergibt sich in der Interpretation der heutigen Generation chinesischer Militärvertreter aus dem „wesentlichen Charakteristikum“ der Atomwaffen: ihrem gewaltigen Zerstörungspotential (Strategic Research Department 2013). Werden ballistische Raketen mit Atomsprengköpfen bestückt, gibt es keine gesicherte Verteidigung gegen dieses Zerstörungspotential. Folglich sollte die „bloße Existenz“ chinesischer Atomwaffen jeden vernünftigen Gegner aus Furcht vor Vergeltung vom Einsatz von Atomwaffen gegen China abhalten. Die chinesische Führung glaubt, dass sie jegliche Drohungen mit einem Atomwaffeneinsatz gegen China als »Papiertiger« abtun kann, solange sie die Mittel für einen Vergeltungsschlag in der Hand hat.

In ihrer Stellungnahme 1964 „erklärt“ die chinesische Regierung hiermit feierlich, das China zu keiner Zeit und unter keinen Umständen als erstes Atomwaffen einsetzen wird“ (New York Times 1964). Diese Zusicherung entspringt weniger moralischen Gründen denn einer rationalen Erkenntnis: Wenn man glaubt, dass es gegen das immense Zerstörungspotential eines nuklearen Vergeltungsschlages keine gesicherte Verteidigung gibt, dann macht es auch keinen Sinn, selbst mit einem Ersteinsatz zu drohen. China sicherte außerdem zu, niemals Atomwaffen gegen Nicht-Atomwaffenstaaten einzusetzen oder diesen mit dem Einsatz zu drohen.

Der Ausschluss eines Ersteinsatzes in der Erklärung von 1964, den chinesische Regierungsvertreter*innen in internationalen Foren bis heute wiederholen, erklärt auch, warum China keine nukleare Parität mit Russland und den Vereinigten Staaten anstrebt, obgleich es technisch und ökonomisch dazu in der Lage wäre: Es gibt keinen Grund, in ein nukleares Gleichgewicht zu investieren, wenn die Vergeltungsfähigkeit genauso gut mit einem deutlich kleineren Arsenal gesichert werden kann.

Zukunftspläne

Kurz nachdem Xi Jinping 2012 Staatspräsident wurde, veröffentlichte die Chinese Academy of Military Science (CMS) eine Studie, die die Entwicklung von Raketenabwehrsystemen, Weltraumwaffen, Cyberwaffen und konventionellen Präzisionslenkwaffen großer Reichweite als die größte Herausforderung für die Gewährleistung dafür bezeichnet, dass China nach einem Atomwaffenangriff Vergeltung üben könnte. Die Verfasser*innen warnten die chinesische Führung, China stünde einer nuklearen Erpressung der USA wehrlos gegenüber, wenn diese die neuen Waffentypen gegen das chinesische Atomwaffenarsenal sowie die wesentlichen Kommunikations-, Kommando- und Kontrollsysteme eingesetzt würden.

Die CMS-Studie deutet an, dass China Maßnahmen ergreifen wird, die es ihm ermöglichen, sein Vertrauen in die Fähigkeit zu einem Vergeltungsschlag aufrechtzuerhalten und gleichzeitig an der Nicht-Ersteinsatz-Doktrin festzuhalten sowie den Einsatzzweck des chinesischen Atomwaffenarsenals auf das Kontern der nuklearen Erpressung zu begrenzen. Die Studie stellt fest, das dazu „angemessene Anpassungen“ der Größe und Fähigkeiten der chinesischen Nuklearstreitkräfte ebenso erforderlich seien wie die Stärkung all der unterschiedlichen Subsysteme, die diese Streitkräfte unterstützen. Dabei bliebe es Chinas Ziel, eine „kleine, aber erstklassige“ Nuklearstreitkraft zu unterhalten, die gegnerischen Versuchen, sie zu schwächen, widerstehen könne.

Zu diesen Anpassungen gehört die Einführung neuer, mobiler atomwaffenfähiger Mittel- und Langstreckenraketen, die mit Festtreibstoff betrieben werden. Zwei solche Raketen, die DF-26 und die DF-41, wurden im Oktober 2019 bei einer Parade in Beijing präsentiert. Es heißt, die DF-41 könne mehrere Sprengköpfe gleichzeitig tragen – eine deutliche Erschwernis für die US-Raketenabwehr.

Eine weitere Anpassung, die in China erwogen, aber wieder verworfen wurde, ist der Aufbau eines Frühwarnsystems, vergleichbar dem der USA und Russlands. Ein solches System würde China in die Lage versetzen, einen Vergeltungsschlag auszulösen, sobald ein Atomwaffenangriff gemeldet wird. Die CMS-Studie argumentiert, dies wäre keine Verletzung der Selbstverpflichtung, keinen Ersteinsatz durchzuführen. Der Generaldirektor der Abrüstungsabteilung im chinesischen Außenministerium hingegen rief alle Atomwaffenstaaten kürzlich auf, ihre Politik aufzugeben, schon bei einer Warnung vor einem Atomwaffenangriff den Start von Atomwaffen vorzubereiten. Vor internationalen Rüstungskontrollexperten erklärte er im Oktober 2019, diese ständige Alarmbereitschaft sei nicht kompatibel mit einer Nicht-Ersteinsatz-Doktrin.

Unterstützung für Rüstungskontrolle und Abrüstung durch Völkerrecht

Die Stellungnahme der chinesischen Regierung von 1964 endete mit dem Versprechen, sie werde „alle Anstrengungen aufbieten, um das edle Ziel eines vollständigen Verbots und der kompletten Beseitigung von Atomwaffen durch internationale Verhandlungen zu fördern“ (New York Times 1964). China trat 1992 dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag bei, unterzeichnete 1996 das Umfassende Atomteststoppverbot und beteiligt sich aktuell an den Treffen der Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen in Genf. Dort unterstützt China die Aufnahme von Verhandlungen über ein Verbot der Produktion von Spaltmaterialien und brachte weiterführende Vorschläge ein für einen Vertrag zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum.

China lehnt es ab, an bi- oder multilateralen Verhandlungen über die Reduzierung von Atomwaffen mit Russland und den Vereinigten Staaten mitzuwirken. Es gibt internationalen Verhandlungen den Vorzug, die von den Vereinten Nationen ausgerichtet werden und auf bindende völkerrechtliche Abkommen zielen, die gleichermaßen für alle Staaten gelten. China sieht auch keine Grundlage für konstruktive Abrüstungsgespräche mit Russland oder den Vereinigten Staaten, bis diese ihre Atomwaffenarsenale auf eine Größe reduziert haben, die der der britischen, französischen und chinesischen Arsenale entspricht. Sowohl die USA als auch Russland besitzen jeweils mehr als 6.000 Atomsprengköpfe, während die drei anderen offiziellen Atomwaffenstaaten jeweils einige Hundert vorhalten. Dieses erhebliche Ungleichgewicht ist einer der Gründe, warum China den Vorschlag der beiden Staaten, es solle sich an trinationalen Verhandlungen zur Bewahrung des Mittelstreckenvertrages beteiligen, als nicht ernst gemeint einstufte.

Literatur

Kristensen, H.; Korda, M. (2019): Nuclear Notebook – Chinese nuclear forces, 2019. Bulletin of the Atomic Scientists, Vol. 75, Nr. 4, S. 171-177.

Kulacki, G. (2015): The Chinese Military Updates China’s Military Strategy. Cambridge: Union of Concerned Scientists, 10 S.

New York Times (1964): Statement by Peking on Nuclear Test. 17.10.1964, S. 10.

Strategic Research Department of the Chinese Academy of Military Science (2013): The Science of Military Strategy. Beijing: Military Science Publishing House.

Zhang, H. (2018): China’s Fissile Material Production and Stockpile. Princeton: International Panel on Fissile Materials.

Dr. Gregory Kulacki lebt und arbeitet zur Zeit in Tokio, Japan. Er ist Senior Analyst der Union of Concerned Scientists (­ucsusa.org) und dort im Rahmen des Global Security Program Leiter des Chinaprojektes. Außerdem ist er Visiting Fellow am Re­search Center for Nuclear Weapons Aboli­tion (recna.nagasaki-u.ac.jp/recna/en-top) an der Nagasaki University.

Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/1 Atomwaffen – Schrecken ohne Ende?, Seite 26–27