Ein europäischer Unfrieden
Politische Reisenotizen von Skopje nach Zagreb (I)
von Michael Kalman
Vom 20. Februar bis 1. März 1993 unternahm eine gemischte bayerische Delegation aus dem Bayerischen Landtag, Flüchtlingsrat, Friedensbewegung, Studentenvertretung und Friedensforschung eine Informationsreise in das ehemalige Jugoslawien. Die Stationen waren Skopje, Pristina, Belgrad, Novi Sad und Zagreb. Das dichtgedrängte Programm umfaßte Gespräche und Diskussionen mit Oppositionsparteien, Friedensbewegung, Menschrechtsgruppen, Hilfsorganisationen, Intellektuellen und Offiziellen. Daneben besuchte die Delegation Flüchtlingslager bei Belgrad und Zagreb, sowie Albanerviertel in Skopje und Pristina.
Die Mitglieder der elfköpfigen Delegation hatten ein mulmiges Gefühl, als die kleine Maschine der »Palair Makedonia« von München aus in Richtung Skopje startete. In Makedonien herrscht noch kein Krieg, aber manche Medien befürchten seinen Ausbruch. Diese Sorgen schienen unbegründet, denn zumindest äußerlich war es in der Innenstadt von Skopje ruhig. Auffällig waren lediglich die ärmlich gekleideten Geldwechsler, die an jeder Straßenecke mit dicken Bündel Geldscheinen zum Schwarzmarktkurs anboten.
Makedonien
Unsere erste Station ist Haracin, ein Vorort von Skopje, der fast ausschließlich von Albanern bewohnt ist. Wir entfernen uns von der leidlich geteerten »Hauptstraße« und gehen in die Nebenwege aus festgetretenem Lehm. Zwei albanische Männer mit der traditionellen muslimischen Kopfbedeckung begegnen uns mit großer Freundlichkeit. Sie beklagen die mangelnde Unterstützung des makedonischen Staates. Es gibt keine Mittel für den Straßen- und Wegebau, eine Kanalisation fehlt. Die albanische Bevölkerung würde systematisch im Stich gelassen. Die Hauptstraße hätten die albanischen Anwohner aus ihren spärlichen Privatmitteln gebaut. Auch die Moschee sei aus Spenden der Gemeinde errichtet worden. Sie überragt die kleinen, geduckten Ziegelsteinhäuser der Albaner und entfaltet für diese primitive ländliche Gegend eine gewisse Pracht. Vielleicht sind auch Gelder aus Saudi-Arabien geflossen, aber das sind Vermutungen.
Ein Blick auf ein verödetes Grundstück zeigt eine verfallene orthodoxe Kirche. In diesem Vorort müssen also auch einmal Makedonier südslawischer Herkunft und orthodoxen Glaubens gewohnt haben. Ein Blick auf die Geburtenstatistik der ethnischen Gruppen scheint eine Erklärung zu bieten. Die Albaner in Makedonien, wie auch im Kosovo haben eine erheblich höhere Geburtenrate als die slawische Bevölkerung in Makedonien. In einer Zeit der Desintegration, des Zerfalls, sowie ethnonationaler Reorientierungen und Ausgrenzungen spielen die ethnischen Bevölkerungsanteile und ihre Veränderungen plötzlich eine explosive politische Rolle. So wie die slawischstämmigen Makedonier in diesem Vorort möglicherweise herausgedrängt worden sind, werden sie vielleicht auch einmal aus ganz Makedonien herausgedrängt werden. Solche übertriebenen Ängste können Gewalt und Unterdrückung hervorrufen und davon müssen die Albaner scheinbar unbillig viel ertragen.
Die Repression gegenüber den Albanern
Ein anderer Albaner auf der Straße erzählt uns von den Repressionen durch die makedonische Staatsgewalt. Um jedes albanische Haus sind traditionell dicke halbhohe Mauern aus Steinen und bröckeliger Erde gezogen. Die Stadtverwaltung von Skopje habe den Abriß aller dieser Mauern verlangt, weil sie nicht den baurechtlichen Bestimmungen entsprächen. Die Albaner hätten sich geweigert, woraufhin Bulldozer anrückten, um die Mauern mit Gewalt zu entfernen. Die albanische Bevölkerung hätte eine Straßenblockade errichtet, um die vorrückenden Maschinen zu stoppen; dabei sei ein Albaner umgekommen. Die Stadtverwaltung hätte ihr Ziel nur teilweise erreicht. Hiervon zeugen die Reste von zerstörten Mauern. In Einzelfällen sollen ganze Häuser dem Erdboden gleichgemacht worden sein. Ferner sei das Minarett der Moschee abgerissen worden.
Zurück auf der Hauptstraße sehen wir ungeklärte Fäkalien- und Abwasserströme in einen Rinnsal längs der Straße fließen. Die behauptete und hier auch sichtbare ökonomische Diskriminierung der Albaner in Makedonien fällt in eine Zeit allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs. Makedonien ist durch seine geopolitische Lage de facto international geächtet. Der Handel mit Serbien ist stark zurückgegangen. KSZE-Beobachter an der makedonisch-serbischen Grenze achten u.a. darauf, daß keine kriegswichtigen Güter mehr nach Serbien gelangen. Ferner ist das Land durch den Wirtschaftsboykott Griechenlands sehr hart getroffen.
Am kleinen Marktplatz schildert uns ein albanischer Lehrer die Benachteiligung der Albaner im Erziehungswesen. Von den 31 Mittelschulen in Skopje gäbe es nur eine einzige für Albaner. Der Zugang zu den anderen wäre seiner ethnischen Gruppe verwehrt, dort wäre auch die albanische Sprache verboten. Mir kommt das Gutachten Nr. 5 der EG-Schiedskommission in den Sinn. Darin wird Makedonien auf normativer, vor allem verfassungsrechtlicher Ebene ein ausreichender Minderheitenschutz attestiert. Damit hat Makedonien die Voraussetzung für eine Anerkennung durch die Mitgliedsstaaten der EG erfüllt, muß jedoch seit über einem Jahr darauf warten.
Auch der deutsche Generalkonsul, mit dem wir uns am Abend zum Essen treffen, hält das Problem der Minderheiten in Makedonien für kalkulierbar. Ich spreche ihn auf die VMRO, der deutsche Kürzel lautet IMRO (übersetzt: Innermakedonische Revolutionäre Organisation), eine starke nationalistische Partei, an. Die sei harmloser als die deutschen »Republikaner« und eher zu belächeln. Allerdings werden der IMRO großmakedonische Pläne nachgesagt, die Teile Westbulgariens und Saloniki in Griechenland mit einschließen. Das Symbol der IMRO, deren Ursprünge bis in das 19. Jahrhundert hineinreichen, ist die sechzehnzackige Sonne, die einst am Grab des makedonischen Königs Philipp II. freigelegt wurde. Der antike Herrscher verschaffte seinem Binnenstaat mit dem erfolgreichen Vorstoß zur Halbinsel Chalkidike im Jahre 357 v. Chr. erstmals einen Zugang zum Meer. Später besiegte er die verbündeten Athener und Thebaner und übernahm im Korinthischen Bund als Hegemon die Führung Griechenlands (337 v. Chr.).
Die Geschichte macht die Namensgebung des neuen Staates aus der Sicht Griechenlands so brisant. Athen weigert sich strikt, das »Land der Skopjaner« unter dem Namen »Makedonien« anzuerkennen, weil es glaubt, damit einem destabilisierenden großmakedonischen Anspruch Vorschub zu leisten. Das EG-Mitglied Griechenland erweist sich damit auch als Bremser für die Anerkennung seitens der Europäischen Gemeinschaft.
Ordnungspolitisch ist in Makedonien ein Machtvakuum entstanden, das den Begehrlichkeiten der Nachbarländer auf dieses Land nicht gerade entgegenwirkt. Nur wenige Staaten haben Makedonien bisher anerkannt, so z.B. Bulgarien und die Türkei. Allein dies aber schon zum Verdruß Griechenlands. Athen läßt vermehrt Großmanöver an der Grenze zu Makedonien abhalten. Die Republik Serbien im Norden sieht sich zunehmend als Protektor der kleinen serbischen Minderheit in Makedonien und könnte sich auch irgendwann zum Eingreifen genötigt sehen. Chauvinistische großserbische Vorstellungen schließen Makedonien durchaus ein, dessen nördliche Gebiete nach den Balkankriegen 1912/13 schon einmal zu Serbien gehörten. Bulgarien hat bisher den Staat, wohlweißlich aber nicht die »Nation« Makedonien anerkannt, deren Territorium mindestens bis in die westbulgarischen Siedlungsgebiete der Makedonier um Blagoevgrad reichen würde. Nationalistische Kreise in Bulgarien, die jedoch bislang keine Mehrheit darstellen, wünschen sich den Anschluß Makedoniens an Bulgarien. Schließlich grenzt im Westen und Nordwesten Albanien und der Kosovo an, die für Serbien wie für Makedonien das Schreckgespenst »Großalbanien« symbolisieren.
UN-Blauhelme in Makedonien
Wir besuchen das neu eingerichtete »Macedonian Command« der UN-Blauhelme im ehemaligen Jugoslawien (UNPROFOR). Die Blauhelme in einer neuen Rolle: Sie werden in ein Krisengebiet geschickt, noch bevor der Konflikt sich in kriegerische Auseinandersetzungen entlädt. Diese Form der Konfliktprophylaxe mag friedenspolitisch sogar sinnvoll sein. Das 700-köpfige Bataillon wird an der Grenze zu Serbien, den Kosovo und Albanien stationiert und soll an den Grenzen Zwischenfälle beobachten und an das UNPROFOR-Hauptquartier in Zagreb melden. Von unserer albanischen Dolmetscherin wird der freundliche Kommandant gefragt, warum nicht auch einige Trupps entlang der Grenze zu Griechenland stationiert werden. Hier verweist der Oberst auf sein begrenztes Mandat. Die Dolmetscherin schüttelt ungläubig den Kopf, daß von dem militärisch bedeutungslosen europäischen Armenhaus Albanien mehr militärische Gefahr ausgehen soll, als vom hochgerüsteten NATO-Mitglied Griechenland.
Am zweiten und letzten Tag in Makedonien begeben wir uns in die mehrheitlich von Albanern bewohnten Gebiete südwestlich von Skopje in Richtung albanischer Grenze. Wir passieren Gorce Petrov, einen Außenbezirk Skopjes. Am Straßenrand steht eine größere Menschenmenge, die von schwerbewaffneten Polizeikräften in Schach gehalten wird. Wir halten an und mischen uns unter die Leute. Nun kommt erstmals unser serbokroatischer Dolmetscher zum Zuge, denn es handelt sich bei den Demonstranten um slawische Makedonier. Zuerst sind uns die Motive des Protestes nicht klar. Dann erblicken wir auf der anderen Straßenseite ein größeres eingezäuntes Gelände, das früher von der Jugoslawischen Volksarmee genutzt wurde. Das ganze Gelände ist von Polizei besetzt. Ab und zu fahren LKWs mit Erdreich weg. Unsere aufgebrachten Gesprächspartner erklären, daß hier mit Mitteln der nordrhein-westfälischen Landesregierung Häuser für bosnische Flüchtlinge errichtet werden sollen. Das humanitäre Engagement Düsseldorfs erscheint in ihren Augen als Kolonialismus: damit die Flüchtlinge nicht nach Nordrhein-Westfalen gehen oder dort bleiben, setzt die Landesregierung die Muslime einfach der makedonischen Bevölkerung vor die Haustür. Hier mischt sich Sozialneid mit ethnischem und religiösem Haß. Die Häuser werden neu sein und von besserer baulicher Qualität als die grauen Hochhäuser der Makedonier. Den fremden Flüchtlingen wird es womöglich besser gehen, als den Einheimischen und die Anzahl der Muslime wächst ständig. So sieht es offenbar eine große Anzahl der slawischen Makedonier im angrenzenden Wohnviertel.
Die Emotionen kochen allmählich über, man unterstellt uns, daß wir aus Nordrhein-Westfalen kommen und den Bau beaufsichtigen. Von einigen werden wir mit dem deutschen Wort »Schweine« beschimpft. Als einige herausfinden, daß unter uns eine albanischstämmige Dolmetscherin ist, wird sie rüde beschimpft. Es wird uns allmählich mulmig. Wir ziehen uns in den Bus zurück und fahren in das große Siedlungsgebiet mit überwiegend albanischer Bevölkerung, welches bereits zehn Kilometer westlich von Skopje beginnt. Bei der Abfahrt erkennen wir ein Plakat mit historischen Persönlichkeiten der IMRO aus dem späten 19. Jahrhundert, Mitstreiter des IMRO-Gründers Goce Deltcev. Auf dem Plakat prangt die sechzehnzackige makedonische Sonne … In den Abendnachrichten hören wir, daß es zu Tumulten und Schlägereien gekommen sei, die Polizei setzte Tränengas ein. Unsere Delegation hat auch Erwähnung gefunden. Bei der Rückkehr nach Skopje mußten wir einen großen Umweg fahren, weil Gorce Petrov großräumig von der Polizei abgeriegelt worden war.
Im überwiegend von Albanern bewohnten westlichen Teil Makedoniens besuchen wir die »Partia Per Prosperitet Demokratik« (deutsches Kürzel: PDP), die größte albanische Partei in Makedonien. Sie stellt immerhin fünf Minister im Kabinett des jungen Ministerpräsidenten Branko Crvenkovski. Ist damit nicht eine angemessene Repräsentanz für die Belange der Albaner in Makedonien gegeben? Der Präsident der PDP, Nervat Halili, wiegelt ab. Die fünf Minister hätten entweder keinen Geschäftsbereich oder verträten unbedeutende Ressorts. Die anderen Kabinettsmitglieder könnten sie regelmäßig majorisieren. Die PDP trete nicht für einen Anschluß der kompakten albanischen Siedlungsgebiete an Albanien ein, sondern verlangt die juristische, vor allem aber faktische Gleichberechtigung der Albaner in Makedonien mit den slawischstämmigen Makedoniern, die nach der Volkszählung von 1991 64,6% der Gesamtbevölkerung Makedoniens ausmachten.
Mit den prozentualen Bevölkerungsanteilen wird Politik gemacht. Unsere albanischen Gesprächspartner sprechen von 35 bis 40% Albanern in Makedonien, die Volkszählung von 1991 nennt lediglich 21%. Spiegelfechtereien mit Zahlen lassen jedoch den Grundsatz gänzlich unberührt: Menschen- und Minderheitenrechte sind unveräußerlich und an keine Bedingungen geknüpft.
Das »Demokratische Forum für die Verteidigung der Menschenrechte und Freiheit in Makedonien« empfängt uns in Gostivar. Es wird von Albanern getragen und beobachtet die Menschenrechtssituation in Makedonien. Es wird nicht verschwiegen, daß alle politischen Gefangenen im Jahre 1992 freigelassen worden sind. Es werde allerdings nichts getan für deren Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Im Staatsapparat wie bei den Medien seien die Albaner deutlich unterrepräsentiert. Fernsehsendungen in albanischer Sprache würden nur 45 Minuten täglich laufen, das Radio sendet sechs Stunden pro Woche albanisch, es gebe für Albaner nur eine Zeitung, die zudem nur dreimal pro Woche erscheint. 80% der Staatsbediensteten seien Nichtalbaner.
Eine Synopse des Demokratischen Forums soll uns die Verschlechterung der rechtlichen Position der albanischen Bevölkerung im Spiegel der Verfassungen von 1974 und 1991 zeigen: 1974 waren die Albaner noch ein »staatsformendes Element«, also ein den Staat Makedonien mit konstituierendes Staatsvolk. In der 1991er Verfassung steht demgegenüber: „ … Makedonien (ist) als ein Nationalstaat des makedonischen Volkes konstituiert …, in dem die vollständige bürgerliche Gleichberechtigung und dauerhafte Koexistenz des makedonischen Volkes mit Albanern …, die in der Republik Makedonien leben, gesichert ist ….“ Ein anderes Beispiel bezieht sich auf den Gebrauch der albanischen Sprache. In Artikel 180 von 1974 werden die Sprachen der Nationalitäten als völlig gleichberechtigt mit der makedonischen Sprache bezeichnet. In Artikel 7 der 1991er Verfassung heißt es dagegen: „In der Republik Makedonien ist die Amtssprache die makedonische Sprache in ihrer kyrillischen Schreibweise.“ Nur in Gemeinden der lokalen Selbstverwaltung, in denen mehrheitlich Angehörige der Nationalitäten leben, kann neben der makedonischen auch die betreffende andere Sprache in öffentlichen Angelegenheiten benutzt werden.
Makedonische Menschenrechtsgruppen
Am Vorabend unserer Abreise von Skopje treffen wir verschiedene makedonische BürgerInnenbewegungen. Der Vertreter einer Menschrechtsgruppe kümmert sich um die Menschenrechte der Makedonier in Griechenland, sicher eine wichtige und ehrenvolle Aufgabe, die allerdings nicht im besten Licht erscheint, weil der Menschenrechtler eher abwertend von den Albanern spricht und die albanische Kollaboration mit Mussolinis Italien im Zweiten Weltkrieg hervorhebt.
Nicht selten auf unserer Reise im ehemaligen Jugoslawien begegnen wir der unheilvollen Verquickung von berechtigten Forderungen nach ökonomischer und demokratischer Partizipation, sowie nach Umsetzung der Menschenrechte und neuen Staatsvorstellungen, die wie eine Art Zauberformel alle Probleme zu lösen versprechen.
Im PDP-Büro sahen wir an Wänden und als Wimpel ein Wappentier, einem Adler ähnlich, mit zwei Köpfen. Auf die Frage, was dieses Wappen bedeute, sagte der Vorsitzende, es stehe für Albanien. Den Staat Albanien? Nicht nur. Das Fabelwesen steht auch für alle anderen albanischen Siedlungsgebiete, also insbesondere im angrenzenden Makedonien und Kosovo. Dann wäre ein Großalbanien – hier symbolisch vorweggenommen – nicht mehr weit. In der makedonischen Verfassung von 1974 war jeder Nationalität in Makedonien noch das öffentliche Vorzeigen der eigenen Nationalflagge erlaubt. Die neue Verfassung von 1991 beinhaltet dieses Recht bereits nicht mehr. Die Gegensätze der Nationalitäten werden deutlicher. Der Wimpel mit dem albanischen Fabelwesen erhält neue Bedeutungen, auch wenn die PDP eine Abspaltung und gar Vereinigung mit Albanien gar nicht anstrebt.
Kosovo
Die unmenschliche Unterdrückung der albanischen Frauen und Männer im Kosovo durch die serbische Staatsmacht ist ein Fakt. Die im humanitären Gestus vorgetragene Forderung nach einer staatlichen Unabhängigkeit des Kosovo kann jedoch Eskalationen auslösen, die außer Kontrolle geraten. Falls die Albaner durch Lippenbekenntnisse auswärtiger Politiker ermutigt werden sollten, für die staatliche Unabhängigkeit auf die Straße zu gehen, so werden sie unter dem Kugelhagel des schwerbewaffneten serbischen Korps in Pristina und den Spezialeinheiten des serbischen Innenministeriums verbluten – eine unerträgliche Vorstellung, die durch die allseits vorgetragene humanitäre Gesinnung nicht unwirklicher wird.
Die Forderung einflußreicher westlicher Politiker, insbesondere aus dem US-Repräsentantenhaus, nach einer Unabhängigkeit des Kosovo wird leider nur vordergründig von Menschenrechtserwägungen getragen. Hier sind vor allem geopolitische und ideologische Motive tragend. Die Sezession würde den letzten sozialistischen Betonstaat in Europa schwächen und das letzte Hindernis für die lückenlose Neuordnung des »balkanischen Raumes« durch die Hegemonialstaaten wegräumen.
Es muß befremden, wie undifferenziert und abgehoben von außen die staatliche Unabhängigkeit und Abspaltung des Kosovo gefordert wird, ohne den gefährlichen Würgegriff der serbischen Repression und die ökonomische Zerrüttung des Kosovo in Betracht zu ziehen.
Unser nächstes Ziel ist Pristina, die Provinzhauptstadt des Kosovo. Die Einreise nach Serbien, dieses geächtete Land, verläuft völlig problemlos. Am Grenzübergang ist ein weißer gepanzerter Mannschaftstransportwagen der UN-Blauhelme ständig stationiert. Das Schneegestöber wird dichter, die Kälte schneidender. Wir befinden uns im ärmsten Landesteil des ehemaligen Jugoslawien: Bereits Mitte der achtziger Jahre wurde hier fast ein Viertel weniger verdient als im Landesdurchschnitt, sogar 41% weniger als in Slowenien. Unser Reisebus durchfährt eine monotone, verschneite Hochebene. Das ist Kosovo Polje, das Amselfeld, Symbol für die Remythisierung der Politik. 1389 wurde hier das serbische Heer von den Kämpfern des Osmanischen Reiches vernichtend geschlagen. Ein sterbender serbischer Krieger wird im Augenblick seines Todes noch vom Kosovo-Mädchen mit Wein gelabt. Die »serbische Seele« liegt hier begraben. Das Motiv soll in vielen serbischen Wohnzimmern und Gaststätten als kitschiges Ölgemälde zu sehen sein. Dieser Mythos eignet sich hervorragend als emotional-irrationales Unterpfand für Chauvinismus und Repression gegen nichtserbische ethnische Gruppen, wie die Albaner, deren Bevölkerungsanteil in der ehemals autonomen Provinz der Jugoslawischen Föderation 90% beträgt. Allerdings hatte sich dieser Anteil im Laufe der Jahrzehnte zugunsten der Albaner verschoben. Nach der Volkszählung von 1991 gab es in ganz Serbien inklusive Wojwodina und Kosovo 29,4% mehr Albaner als 1981. Die Serben hatten demgegenüber lediglich einen Zuwachs von 4%. Im Kosovo selbst, wo praktisch alle Albaner Serbiens leben, hat es bis Ende der achtziger Jahre eine stete Abwanderung von Serben gegeben. Ein Wiedererwachen des albanischen Nationalismus reicht bis in Titos Jugoslawien zurück. Zu ersten Unruhen zwischen der albanischen Bevölkerungsmehrheit und der serbischen Republiksregierung war es bereits 1968/69 gekommen. Tito versuchte dem albanischen Nationalismus durch ein großangelegtes Investitionsprogramm und die Gründung einer albanischen Universität in Pristina den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die neue jugoslawische Verfassung von 1974 hatte dem Kosovo die Autonomie und einen eigenen Sitz im achtköpfigen Staatspräsidium gebracht. Die Migration der Serben aus dem Kosovo verstärkte sich mit der im gleichen Jahr erlassenen Provinzverfassung. Sie sah die Beherrschung sowohl des Albanischen als auch des Serbokroatischen für die meisten Arbeitsplätze vor. „Da eher die Albaner Serbokroatisch als die Serben Albanisch lernten, führte dies de facto zu einer Bevorzugung der Albaner und in der Folge zu einer beständigen … Abwanderungsbewegung“, formuliert Heinz Vetschera, ein österreichischer Politikwissenschaftler. Der Anteil der serbischen Schulkinder ging dramatisch zurück und zwischen 1981 und 1986 verließen nach Angaben der »Neuen Züricher Zeitung« rund 40.000 Serben und Montenegriner die Provinz.
Die Studentendemonstration gegen zu hohe Mensapreise und das brutale Einschreiten der Polizei im Frühjahr 1981 brachte wohl die endgültige Wende von einer jugoslawischen zu einer nationalen Sichtweise. Die serbisch dominierte Polizei wurde von den Albanern nämlich nicht mehr als jugoslawische, sondern als serbische Ordnungsmacht gesehen, eine Perzeption, die – mit welcher Berechtigung auch immer – Schule machen und bald auch in den nördlichen Teilrepubliken virulent werden sollte, wie in Serbien selbst, wo der Nationalismus seit der Machtübernahme Milosevics im Jahre 1986 die heftigste Ausprägung erfuhr. Die Repressionen gegen die Kosovo-Albaner nahmen zu, 1989 wurde de facto die Autonomie abgeschafft, ein Jahr später erfolgte die faktische Annexion des Kosovo durch Serbien. Die Gewalt des serbischen Staates wurde mit politischen Manifestationen, Streiks und Demonstrationen der Albaner beantwortet. Sie alle wurden brutal niedergeschlagen. Verschärfte Repressionen auf nahezu allen Gebieten gehören seit mindestens drei Jahren zum Alltag.
Pristina – eine ganz normale Großstadt im Kosovo?
Wir erreichen Pristina und sind erstaunt, eine Großstadt mit relativ modernen Hochhäusern zu sehen. Der Kulturpalast ist in seinem progressiven Pathos der Tito-Jahre schon fast wieder liebenswert. Wir sehen kein Militär auf den Straßen, keine Kontrollen, kaum Polizei. Im Zentrum der Stadt ist das riesige Fünf-Sterne-Hotel, das wir uns leisten können, weil der Geldwertzerfall die harten ausländischen Währungen begünstigt. Eine »normale« Stadt also? Wir werden am Mittag von einem unserer albanischen Gesprächspartner abgeholt. Wir gehen die Hauptstraße hoch, vorbei am trutzigen Gebäude der serbischen Provinzregierung. Nach zehn Minuten werden die Häuser niedriger, einfacher. Kleine, unverputzte Ziegelsteinhäuser, einstöckig, werden nun zur Regel. Auf einem offenen verschneiten Platz ist der Schnee schwarz vor Dohlen. Sie picken ihre Nahrung aus großen Abfallhaufen. Hier ist eine der wilden Müllkippen, mitten im Wohngebiet. Unser albanischer Begleiter lobt die eisige Kälte. Sobald es wärmer werde, im Frühjahr, könne man den Gestank kaum aushalten.
Nur 150 Meter von dieser Müllkippe entfernt liegt die einzige Krankenstation für Albaner im ganzen Kosovo – sechs Betten! Ja, es gäbe Krankenhäuser, aber für Albaner sei die Behandlung unerschwinglich teuer. Und wer möchte sich schon von einem serbischen Arzt operieren lassen?
Später treffen wir in einem Hinterhaus Mitglieder einer albanischen Menschenrechtsorganisation. Die Zahlen und Fakten, die uns genannt werden, sind niederschmetternd, auch wenn nur die Hälfte der Wahrheit entspräche. Seit dem Jahr 1981 hätten Albaner aus politischen Gründen 125.000 Jahre in serbischen Gefängnissen verbracht. Seit 30 Monaten seien alle albanischen Grundschullehrer ohne Bezahlung, vor 25 Monaten kamen alle Lehrer der Mittel- und höheren Schulen hinzu, vor 18 Monaten schließlich bekamen auch alle Hochschullehrer kein Geld mehr. Mittlerweile sind alle Mittelschulen für Albaner geschlossen, auch der Zugang zur Universität ist ihnen verwehrt. Die albanischen Lehrer dürfen lediglich die Gebäude der Grundschulen benutzen und dort ehrenamtlich Unterricht für albanische Schulkinder abhalten. Spärliche Gelder werden von der albanischen Bevölkerung für die »Löhne« gespendet, maximal 40,- DM pro Monat. Mittlerweile seien 1.150 albanische Schulklassen auf diese Weise »illegal« organisiert. Von 1987 bis 1992 sind 70% aller arbeitenden Albaner entlassen worden. Die Albaner seien auch in den Medien fast nicht mehr vertreten. An den Kiosken sehe ich eine einzige albanische Zeitung. Am 5. Juli 1990 wurde die albanische Fernsehanstalt von serbischer Polizei besetzt, in der Folge wurden 1.300 Mitarbeiter entlassen. Einst hätten 3 Kanäle 34 Stunden pro Tag albanisch gesendet, jetzt würden vier Fernsehsender keine einzige Stunde albanisch mehr bringen. Die Lebensbedingungen werden immer schlechter und demütigender – eine »ethnische Säuberungswelle« in einer Vorkriegszeit? Viele Albaner versuchen in der Tat auszuwandern. Umgekehrt ist ein Gesetz zur Ansiedlung von Serben im Kosovo mit gezielten Anreizen erlassen worden. Die neuen »Mitbürger« sind in der Regel serbische Offiziere und Polizisten.
An vielen Plakatwänden und Häuserwänden sieht man das Wahlplakat des Kandidaten Zelko Raznjatovic, der sich am 20. Dezember 1992 für das serbische Parlament im Kosovo bewarb und schließlich für seine Bewegung fünf Sitze in Belgrad errang. Dieser lächelnde Mann im blauen Anzug ist »Arkan«, ein international zur Fahndung ausgeschriebener Verbrecher, der u.a. von Interpol gesucht wird. Arkan befehligt eine besonders brutale paramilitärische Einheit, die autonom agierend in den kroatisch-bosnischen Kriegsgebieten Greueltaten verübt. Zur Zeit unseres Aufenthaltes in Pristina kämpfte seine Truppe gerade in der kroatischen Krajina gegen die kroatischen Streitkräfte. In einem Nebenzimmer der Rezeption des besten Hotels von Pristina sehen wir denselben Arkan auf einem anderen Plakat in militärischer »Wojwod-Uniform« mit Säbel als serbischer Führer, darunter ein Schriftzug „Serbien soll wieder lächeln…“. Die Kehrseite dieses »Lächelns« sehen wir auf Farbphotos von mißhandelten AlbanerInnen, die uns die albanischen MenschenrechtlerInnen vorlegen. Diese Eindrücke lassen uns verstummen und treiben uns die Blässe ins Gesicht.
Am Abend gibt es ein Treffen mit der LDK (Demokratischer Bund Kosovos), die größte politische Kraft der Kosovo-Albaner mit 700.000 Mitgliedern – nach eigenen Angaben. Die LDK und ihr Vorsitzender Rugova streben die staatliche Unabhängigkeit des Kosovo und Abspaltung von Serbien an. Es gäbe kein Zurück mehr, der serbische Druck sei unerträglich geworden, die Geduld der Albaner gehe zu Ende. Werden die Albaner, die selbst keine Waffen haben und wehrlos sind, in ihrer Verzweiflung serbische Depots stürmen und sich die Waffen besorgen? Auch die serbischen Soldaten im Kosovo fürchten sich natürlich. Noch herrscht hier ein äußerst labiles Gleichgewicht der Angst.
Belgrad
Wir machen uns auf den Weg nach Belgrad. Bei Nis fahren wir auf die einzige Autobahn Ex-Jugoslawiens, normalerweise die Lebensader des Landes. An diesem verschneiten Wintertag ist die Autobahn leer, alle fünf Minuten kommt uns ein Auto entgegen. Dieses Faktum spricht mehr Bände als detaillierte Statistiken. Die ökonomischen Austauschverhältnisse in Serbien sind buchstäblich eingefroren.
Das totale Handelsembargo der UNO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien hat nicht nur die industrielle Basis Serbiens paralysiert, sondern treibt auch die Kosovo-Albaner unter den Rand des Existenzminimums. Hinzu kommt noch die ökonomische Diskriminierung durch Belgrad.
Das Embargo trifft alle gleich hart – die Opposition, die nichtserbischen ethnischen Gruppen. Nur die Herrschenden profitieren, können mit ihrer Medienmacht von eigenen Fehlern ablenken und für alle Mißstände dieses Embargo verantwortlich machen. Viele Delegationsmitglieder äußerten vor Reisebeginn eher Verständnis für die Handelssanktionen. Nach den Eindrücken und Gesprächen in Pristina und Belgrad waren die embargokritischen Stimmen durchgängig.
Wer in ein Lebensmittelgeschäft in Belgrad geht, sieht leidlich volle Regale, aber kaum Kunden. Die Preise sind exorbitant. Für ein Kilo Bananen bezahle ich Ende Februar 1993 20.000 Dinar, ein großes Glas lösliches Kaffeepulver ist für den Einheimischen praktisch unerschwinglich: 140.000 Dinar, 1/5 des Monatslohns eines Arbeiters. Die Inflationsrate dürfte mittlerweile weltrekordverdächtig sein: 12.000% im Jahr, also über 30% pro Tag, mit steigender Tendenz, berichten uns Einheimische.
Zweifelhaftes Embargo
Die Friedensgruppe in Novi Sad, die mit ihren bescheidenen Mitteln 14tägig eine Zeitung herausgibt, kann von den Einnahmen nicht einmal die Hälfte der Unkosten für die nächste Ausgabe bezahlen.
Mit dem Embargo soll die Regierung Milosevic in die Knie gezwungen werden. Das Gegenteil wird allerdings bewirkt. Die Bevölkerung der Republik Serbien wird in einer künstlichen Gemeinschaft der Angst gehalten, die entweder zu einem radikalen Nationalismus oder zur politischen Apathie führt. Der tägliche Kampf der BelgraderInnen um ihr Überleben verhindert Opposition. Der propagandistische Verweis staatlich gelenkter Medien auf die negativen Folgen des Embargos erhält leider argumentative Schützenhilfe durch die offensichtlich einseitige Anwendung der Sanktionen.
Die Offensive der kroatischen Streitkräfte in die Krajina, Ende Januar 1993, war ein klarer Bruch der Waffenstillstandsvereinbarung vom 3. Januar 1992. Dennoch muß die Republik Kroatien nicht mit negativen UN-Sanktionen rechnen.
Die Diskussionen um eine Ausweitung des Embargos auf Post und Telekommunikation, also in Richtung Totalisolierung Serbiens, aber auch die breiter werdende Anzahl derer, die eine umfassende militärische Intervention in Bosnien-Herzegowina und Strafaktionen gegen Restjugoslawien fordern, müssen friedenspolitisch und aus humanitären Gründen befremden. Wo ist das Konzept, daß auch die Wiedereingliederung Serbiens in das Europa der Nachkriegszeit reflektiert? „Serbien muß sterbien“ war der Ruf im Ersten Weltkrieg, aber jeder muß im KSZE-Europa wissen, daß man Serbien nicht einfach abschaffen kann. Die Volkswirtschaft des Landes ist durch das Embargo bereits zerschlagen, die industrielle Produktion nahezu lückenlos lahmgelegt. Wo die Maschinen nicht mehr laufen und gewartet werden können, werden sie dem Verfall überlassen. Das trifft sicher auch die militärischen Fähigkeiten der Jugoslawischen Streitkräfte, es trifft aber vor allem die Chancen für eine zivile Entwicklung in der Nachkriegszeit. Die serbische Wirtschaft ist jetzt bereits um Jahrzehnte zurückgeworfen. Armut und Verelendung breiter Bevölkerungsschichten ist schon jetzt offensichtlich und wird die Zukunft bestimmen.
Vor allem aber werden im kollektiven Gedächtnis vieler – nicht nur ausgesprochen nationalistischer – SerbInnen die Strafaktionen als Demütigung durch auswärtige Mächte haften bleiben. Auch militärische Schläge werden den Nationalismus nicht aus serbischen Köpfen bomben können.
Die humanitäre Balance ist aus dem Ruder gelaufen. Hilfe kommt aus die Bundesrepublik in Jugoslawien nur unzureichend an. Allein Serbien hat nach Angaben seines Kommissariats für Flüchtlinge zum 31. Januar 1993 575.000 Flüchtlinge registriert und aufgenommen. Das UNHCR Zagreb bestätigt diese Größenordnung, obwohl seine Zahlenangaben etwas niedriger liegen. Hinzu kommen noch etwa 150.000 bis 200.000 unregistrierte Flüchtlinge.
Die Schwierigkeiten, Hilfsgüter nach Serbien zu bringen, liegen an den langen Genehmigungsverfahren. Private Hilfslieferungen aus Deutschland müssen lückenlos inventarisiert dem Bundesamt für Wirtschaft zur Genehmigung vorgelegt werden. Bis zum Genehmigungsbescheid können vier Wochen vergehen.
Häufig wird das Rote Kreuz des Absenderlandes eingeschaltet, das sich erst beim UN-Embargokomitee die Erlaubnis für die Hilfssendungen besorgen muß. Nach der Genehmigung wendet sich der Absender mit eingereichten Papieren an Spediteure, die für Überfahrten nach Serbien zugelassen sind. Diese Prozeduren dauern lange und werden nur wegen des Handelsembargos notwendig.
Die Vorsitzende des Serbischen Roten Kreuzes räumt unserer Delegation gegenüber ein, daß sich die ausländische Hilfe etwas verbessert hat. So sei der Anteil des Volumens der Flüchtlingshilfe von internationalen Organisationen (vor allem: IKRK, UNHCR, UNICEF, EG, Roter Halbmond) gegenüber der nationalen Hilfe von 10% auf 30% gestiegen. Dies läge allerdings auch daran, daß die nationalen Mittel immer mehr zurückgehen. Der UNHCR betreibt in Zusammenarbeit mit dem Serbischen Roten Kreuz neun regionale Magazine über das ganze Land verstreut, um eine wirksame Verteilung der Hilfssendungen zu gewährleisten. Der UNHCR stellt auch LKWs für den Transport der von ihr Monat für Monat gelieferten 12.000 Tonnen Nahrungsmittel. Daneben hilft die UN-Flüchtlingsorganisation auch bei dem Umbau und der Errichtung von sogenannten »kollektiven Unterbringungszentren«, deren Beheizung wegen der Embargosituation jedoch immer wieder ungesichert ist.
Trotz dieser positiven Ansätze ist die Situation vieler Flüchtlinge in der Republik Serbien verzweifelt. Fast 97% sind in Familien untergebracht, die sich wegen des Embargos und der desolaten wirtschaftlichen Lage kaum noch selbst ernähren können. Hinzu kommt, daß eine Durchschnittswohnung in Belgrad lediglich 40 qm umfaßt und die überwiegende Anzahl der Flüchtlinge zumeist bei den niedrigen sozialen Schichten anzutreffen ist. Der Extremfall in Belgrad liegt bei 20 Personen pro Wohnung. Mittlerweile liegen den Behörden 286.000 Anträge von betroffenen Familien auf kollektive Unterbringung vor. Diese Unterbringungsmöglichkeiten sind jedoch wegen der fehlenden finanziellen Möglichkeiten nicht vorhanden. Nun wird befürchtet, daß die Familien die aufgenommenen Flüchtlinge im Frühjahr aus purer Verzweiflung einfach vor die Tür setzen.
Die Hilfsorganisationen sollten alles unternehmen, um diesen Exodus zu verhindern. Denn die Benachteiligung der Republik Serbien in humanitären Fragen ist frappierend: Obwohl Serbien 25% aller aus den Jugoslawienkriegen erwachsenen Flüchtlinge aufnimmt, erhält sie nur 14% der gesamten Flüchtlingshilfe.
Selbstbestimmungsrecht, Unabhängigkeit und Menschenrechte
Es gibt in der Diskussion um die Jugoslawienkrise niemanden, der die Dringlichkeit humanitärer Hilfe in einem tragfähigen friedenspolitischen Konzept verortet. Dieses Konzept hätte die Möglichkeiten und Grenzen des Staates als immer noch dominierende Bauform der internationalen Politik mitzureflektieren.
Meistens wird vergessen, daß mit der Schaffung neuer Staaten das Problem der Repression und des Machtmißbrauchs durch herrschende Eliten nicht gebannt ist. Um es drastisch auszudrücken: Ob die Kosovo-Albaner von Mitgliedern der eigenen ethnischen Gruppe in einem unabhängigen und souveränen Kosovo unterdrückt werden oder vom serbischen Staat in einem abhängigen Landesteil Serbiens ist aus menschenrechtlicher Sicht egal. Nun wird die Unabhängigkeit des Kosovo auch von humanitär gesinnten Persönlichkeiten deswegen gefordert, weil sie eine Verbesserung der Aussicht verspricht, daß sich die Menschenrechtssituation der Albaner dramatisch verbessert. Dies mag stimmen, ist jedoch keine zwangsläufige Entwicklung. In vielen Staaten mit einer formaldemokratischen Verfassung ist die Menschenrechtssituation nicht zufriedenstellend, ja werden Menschenrechte zuweilen mit Füßen getreten. Der schillernde Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker erweist sich als abgehobenes Recht, neue Staaten zu bilden, die als solche noch keineswegs die Gewähr gegen Diskriminierung und Benachteiligung einzelner Bevölkerungsgruppen bieten.
Wir sprechen mit Sonja Licht, eine Schlüsselfigur der europäischen BürgerInnen- und Friedensbewegung. Ihre Analyse der Situation ist wohltuend rational und hebt sich von den Stellungnahmen anderer ZeitgenossInnen ab. Sie redet einer raschen Unabhängigkeit des Kosovo nicht das Wort, sieht dabei lediglich ein Spiel mit dem Feuer, weil die serbische Reaktion Krieg bedeuten würde, in dem alle Verlierer sind. Friedhöfe sind unzulängliche Orte für die Wahrung der Menschenrechte. Die stellvertretende Vorsitzende der Helsinki Citizen's Assembly betont die Notwendigkeit der ökonomischen Emanzipation der Albaner. Sie fordert das Ausland und deren Unternehmen zu Direktinvestitionen in albanischen Klein- und Mittelbetrieben auf und eine Aufhebung der Sanktionen gegenüber dem Kosovo sowie Gewährung von Wirtschaftshilfe. Eine Autonomie des Kosovo sieht sie als unabdingbar an.
Freilich stellt sich auch bei mir die Frage der Praktikabilität. Wie könnte Serbien es zulassen, daß die meisten ausländischen Ressourcen nach Pristina gehen und Belgrad leer ausgeht? Eskalationsrisiken gibt es bei nahezu allen Vorschlägen. Sonja Lichts Betrachtungen sind jedoch eher evolutionärer, mittel- bis langfristiger Natur. So spricht sie etwas aus, was in der Zwergstaatenmentalität in Ex-Jugoslawien derzeit wohl eher verpönt ist: Die Logik der ökonomischen Zusammenarbeit könnte in der weiteren Zukunft (wieder) zu einer jugoslawischen Konföderation führen. In ökonomischer Hinsicht haben in der Tat sämtliche neue Staaten des ehemaligen Jugoslawien dramatisch verloren. Der jugoslawische Binnenmarkt ist zerstört, die neuen, auf dem Weltmarkt allein kaum konkurrenzfähigen Republiken begeben sich wie nie zuvor in die außenwirtschaftliche Abhängigkeit von Hegemonialmächten. Slowenien fühlt sich inzwischen alleingelassen und eine Aufnahme der beiden Nordrepubliken in die Europäische Gemeinschaft ist unkonkrete Utopie.
Sonja Lichts Ehemann Milan Nikolic, der Vorsitzende einer kleinen sozialdemokratischen Partei und Geisteswissenschaftler, erarbeitet derzeit für die UNO eine Studie über die Politische Ökonomie des Zerfalls Jugoslawiens. Eine seiner leitenden Hypothesen ist, daß im ehemaligen Jugoslawien keine Ausbeutung der einen durch eine andere Teilrepublik stattgefunden habe. Vielmehr habe gerade der Fond für Entwicklung ausgleichend gewirkt, nicht zuletzt der rückständige und ländliche Kosovo machte durch ihn eine rasante wirtschaftliche Entwicklung durch. Die vorhandenen Disparitäten führe Nikolic auf endogene Standortfaktoren zurück.
Sonja Licht sieht im Auseinanderfallen Jugoslawiens denn auch weniger ökonomische, sondern nationale Ursachen. Nicht zuletzt Nationalisten der Nordrepubliken hätten scheinbar stichhaltige ökonomische Argumente benutzt, und damit bewußt oder unbewußt sezessionistischen Tendenzen Vorschub geleistet. Inwieweit der Ressourcenabfluß von Nord nach Süd im ehemaligen Jugoslawien nicht doch ohne ausreichende Kompensation und politische Honorierung erfolgte, bleibt sicherlich historisch kontrovers.
Friedenskultur
Sonja Licht kommt zu ihrem zentralen Thema, der Entwicklung einer civil society in Europa, gerade auch in Serbien. Eng damit verbunden ist die Vorstellung einer Friedenskultur, die in Serbien noch eher in den Kinderschuhen steckt. Jahrzehntelang schien Jugoslawien als Führer der Blockfreien eine globale Friedensmacht zu sein; eine entwickelte Friedenskultur im Innern schien daher überflüssig. Die Blockfreien haben nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ihre Bedeutung verloren, Jugoslawien ist zerfallen. Sonja Licht verweist auf das schlummernde gesellschaftliche Potential in Serbien. Über 100.000 Leute seien im Frühjahr gegen die Bombardierung Sarajevos in Belgrad auf die Straße gegangen. Es gibt einen breiten passiven Widerstand gegen die Reservisteneinberufungen in die Jugoslawischen Streitkräfte. Landesweit würden nur 43% der Reservisten ihren Einberufungsbescheiden Folge leisten. In Belgrad allein verweigern sich 90% den Einberufungen! Der deutsche Generalkonsul nennt uns die Zahl von 120.000 anhängigen Desertionsfällen, die sich mittlerweile seit über einem Jahr angesammelt haben. Diese Flut kann kein Gericht mehr bewältigen. Sonja Licht möchte die Aufmerksamkeit auf die beachtliche Wirkung dieser Friedensbewegungen auf die politische Kultur des Landes lenken. Zahlreiche Oppositionsparteien haben zentrale friedenspolitische Forderungen in ihr Programm aufgenommen. Bei den Parlamentswahlen hätten immerhin 35% für Panic, also gegen den kriegsfördernden großserbischen Nationalismus gestimmt.
Die kulturellen Aktivitäten Sonja Lichts in einem sich ständig vergrößernden Netzwerk einer zivilen Gesellschaft sind langfristig angelegt. So initiiert die Soros Foundation, in der die Soziologin federführend mitarbeitet, Projekte zur Flüchtlingskinderbetreuung unter dem Motto »Let's live together«. Die Gründerin des Antikriegszentrums Belgrad, Vesna Pesic, berichtet uns von einem pädagogischen Projekt, das militaristische und ethnizistische Tendenzen in Schulbüchern nachweisen und neue Schulbücher konzipieren soll, die der Entwicklung einer Friedenskultur dienlich sind. Der Belgrader Klub von kritischen Intellektuellen hat ein Forum gegen Diskriminierung mit SOS-Notruf für Diskriminierte, insbesondere nichtserbischer Nationalitäten eingerichtet. Vielfach wird vergessen, daß neben den Serben in den Grenzen der heutigen Republik Serbien noch 34,2% der Gesamtbevölkerung 16 anderen Ethnien, darunter Albaner, Magyaren, Rumänen, Bulgaren, Slowaken, Ruthenen u.a. angehören. Von den Flüchtlingen in der Republik Serbien sind nach offiziellen Angaben immerhin 15,8% Nichtserben, davon 36.000 Muslime und 9.000 Kroaten.
Der Krieg in Bosnien-Herzegowina hat das lähmende Politikparadigma des Ethnonationalismus hoffähig gemacht. Selbst der Vance-Owen-Plan mit seiner Kantonalseinteilung der Kriegsrepublik folgt tendenziell der Logik »ethnisch reiner« Gebiete. In der Behörde des serbischen Flüchtlingskommissars sehen wir gemeindescharfe Karten mit der ethnischen Verteilung und ethnischen Zuordnung der Grundbucheintragungen. Dieses Paradigma läßt vergessen, daß die multikulturellen, überethnischen Bezüge auch in diesem grausamen Krieg fortbestehen, wenn auch in reduzierter, teilweise kaum noch erkennbarer Form. Die »ethnische Reinheit« ist allein schon deswegen eine Fiktion, weil es auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawien 35% Mischehen gibt.
Wir besuchen den Humanitarian Law Fund, eine Nichtregierungsorganisation in Belgrad zur Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Ihre Vorsitzende Natasa Kandic nennt Beispiele von fortbestehenden Solidarzusammenhängen im Schatten der Kriegsgreuel. Immer wieder hätte sie Zeugnisse über bosnische Serben, die bosnische Muslime in den Kriegsorten vor anrückenden serbischen Einheiten bei sich verstecken und umgekehrt. In einer von muslimischen Soldaten besetzten Kaserne in Sarajevo seien dreizehn serbische Mädchen gefangengehalten und regelmäßig vergewaltigt worden. Eine muslimische Köchin, die dort arbeitete, hätte unter hohem Risiko einem serbischen Mädchen zur Flucht verholfen.
Nichts liegt dem Humanitarian Law Fund ferner als ethnische Parteinahme. Akribisch werden die Kriegsverbrechen dokumentiert, Opfer und womöglich Täter ermittelt, wenn möglich mit Namen. Auch der Kreis der Drahtzieher und Befehlshaber soll in kriminalistischer Detailarbeit eingegrenzt werden. Der Fund befragt Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet, und besitzt auch das Vertrauen derjenigen Muslime, die sich nicht mehr anders zu helfen wissen, als in der Republik Serbien Zuflucht zu suchen. Natasa Kandic begreift die Kriegsverbrechen als individuelle Straftaten, die Einzelpersonen verüben, die identifizierbar sind und einem Tribunal zugeführt werden sollen, so ein Fernziel. Der Fund möchte identifizieren und dokumentieren. Die Exekutive und Jurisdiktion müßten andere legitime Organe wahrnehmen. In Vorbereitung ist eine umfangreiche Dokumentation über Kriegsgreuel in der Region Foca. Dort haben serbische paramilitärische Gruppierungen und Einheiten der bosnischen Serben einen Dauerterror gegen die überwiegend muslimische Bevölkerung ausgeübt. Zum Schluß waren die Muslime froh, daß sie von den Marodeuren die »Erlaubnis« erhielten zu fliehen.
In Heft 2/93 erscheint der zweite Teil des Berichtes, in dem es um die Kriegsschuldfrage, um das Flüchtlingselend und um die letzte Station der Reise »Zagreb« geht.
Michael Kalman ist Mitarbeiter im Institut für Friedenspolitik, Weilheim e.V.