W&F 2017/1

Ein Plädoyer für den Pazifismus

von Christine Schweitzer

Der Pazifismus wird häufig missverstanden, oft werden »Friedensbewegung« und »Pazifismus« einfach gleichgesetzt. Das wird den Begriffen aber nicht gerecht. Nicht alle Menschen, die sich zur Friedensbewegung rechnen, lehnen jeglichen Waffeneinsatz ab. Manche*r hält den Einsatz von Gewalt als allerletztes Mittel durchaus für eine Option, um einen gewaltförmigen Konflikt zu beenden. Pazifismus andererseits bedeutet keineswegs, einem sich anbahnenden oder bereits gewaltförmig verlaufenden Konflikt einfach passiv zuzusehen. Die Autorin untersucht einige Aspekte des Begriffs und zeigt gewaltfreie Alternativen der Konfliktlösung auf.

Pazifismus, in diesem Beitrag verstanden als die Ablehnung jeglichen Krieges, erregt heute nur dann Aufsehen, wenn er wieder einmal zu Grabe getragen wird, wie es vor allem Journalist*innen und Politiker*innen alle paar Jahre aufs Neue versuchen.

Sucht man im Internet nach »Pazifismus« in neueren Diskussionsbeiträgen, findet man jenseits von friedensbewegungsinternen Texten und Lexikaeinträgen vor allem Aussagen wie diese von Christian Geyer im Feuilleton der FAZ von 2014. „Welche Rolle spielen die intellektuellen Restbestände pazifistischer Reinkultur?“ und „Keine Demo, nirgends, gegen Waffenlieferungen an die Kurden, gegen mögliche neue Nato-Stützpunkte in Osteuropa. Noch nicht einmal ein Aufschrei – der Pazifismus, einst ein Straßenfüller, ist erkennbar ein Ideologem von vorgestern.“1 Oder Hannes Stein in der WELT am 31.3.2016: „Mit Liebe müsse man den Brüsseler Terroristen begegnen, meint die evangelische Theologin Margot Käßmann. Solcher Pazifismus ist aber nicht moralisch. Warum der gerechte Krieg gelebte Feindesliebe ist.“2

Die letzte relevante öffentliche Debatte über Pazifismus fand vor knapp 15 Jahren statt. Damals subsumierte Staatsminister Ludger Volmer angesichts der Ereignisse vom 11. September 2001 in der Frankfurter Rundschau unter dem Titel »Was bleibt vom Pazifismus«3 zunächst alle Argumente, die jemals gegen bestimmte Kriege bzw. gegen Krieg allgemein vorgebracht worden waren, unter dem Begriff des »Pazifismus«. Dann pries er den »Krieg als letztes Mittel« als neueste Entdeckung des »politischen Pazifismus« an.

Doch weder die Entdeckung des »politischen Pazifismus« durch Volmer noch die Wiedererweckung des »gerechten Krieges« durch Hannes Stein sind wirklich originell. Diese Autor*innen setzen fälschlicherweise Friedensbewegung mit Pazifismus gleich, obwohl längst nicht alle in der Friedensbewegung grundsätzlich jeden Militäreinsatz ablehnen. Sie übersehen auch, dass die gleichen Fragen schon 1991 im Zweiten Golfkrieg, während des Bosnienkrieges 1992 bis 1995 (u.a. vom späteren Außenminister Fischer) und während des Kosovokrieges 1999 aufgeworfen worden waren. Die Grundthese war stets, es gäbe Situationen, in denen nur Militär bzw. der Einsatz von Gewalt helfen könne. Dieselbe Frage wurde übrigens auch schon im Ersten und im Zweiten Weltkrieg, im Spanischen Bürgerkrieg, anlässlich des Vietnamkriegs und im Kontext der Befreiungskriege im Globalen Süden gestellt. Dies waren alles Ereignisse, die Kriegsbefürworter*innen zur Pazifismus-Schelte veranlassten – und selbst manche Pazifist*innen verunsicherten.

Kriegsrechtfertigungen

In den 1990er Jahren standen »humanitäre Interventionen« im Mittelpunkt der Debatte, das heißt die Anwendung von Gewalt durch Staaten(gemeinschaften), um die weit verbreitete und systematische Verletzung fundamentaler Menschenrechte zu verhindern oder zu stoppen, auch ohne Zustimmung des Landes, in dessen Territorium interveniert wird.4 Das Argument lautete, „Wir können doch keinen Bruch von Völkerrecht und möglichen Genozid hinnehmen“, und zur Begründung wurde oft auf den Zweiten Weltkrieg verwiesen. Während des Bosnienkrieges, besonders 1994/95, als Raketenangriffe die belebten Innenstädte von Sarajewo und Tuzla trafen und serbische Truppen die ostbosnischen UN-Schutzzonen angriffen, wurde der jugoslawische Präsident Milosevic mit Hitler verglichen, so wie dies 1991 bereits beim irakischen Präsidenten Saddam Hussein der Fall war. Auch die Reaktion Europas auf den Krieg in Bosnien wurde mit der Appeasement-Politik 1938/39 gegenüber Deutschland gleichgesetzt.

In den vergangenen fünfzehn Jahren wurde dann die Doktrin der »Schutzverantwortung« ausgearbeitet, die militärisches Eingreifen als allerletztes Mittel vorsieht. Bislang wurden zwei Militärinterventionen mit der »Schutzverantwortung« begründet: die Interventionen in Libyen und der Elfenbeinküste, beide 2011 durchgeführt und vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gemäß Kapitel VII der UN-Charta mandatiert. Angesichts des Misserfolgs beider Einsätze ist der Enthusiasmus, die Schutzverantwortung für militärisches Vorgehen anzurufen, deutlich abgekühlt, wenngleich das Konzept in späteren UN-Sicherheitsratsresolutionen und in Berichten der Vereinten Nationen weiterhin Erwähnung findet.

Seit dem 11. September 2001 dient zur Begründung von Krieg aber nicht mehr nur eine Bedrohung anderer Staaten, denen Beistand geleistet werden soll, sondern auch eine vermeintliche oder reale eigene Bedrohung. In den Worten Volmers (a.a.O.): „Doch heute gilt: Es gibt nicht nur eingebildete Feindbilder, es gibt auch wirkliche Feinde […].“ Dementsprechend zog Deutschland 2001 mit der NATO, die zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall ausgerufen hatte, in den Afghanistankrieg und den »Krieg gegen den Terror«. 2015 baute Deutschland zur Entlastung Frankreichs im Rahmen der EU-Beistandsklausel seine Mitwirkung an der UN-Mission in Mali aus.

Eine Begriffsklärung

Angesichts zahlreicher »Bindestrich-Pazifismen« – Nuklearpazifismus, politischer Pazifismus, relativer Pazifismus, radikaler Pazifismus, absoluter Pazifismus usw. –, ist es erforderlich, eine Begriffsklarstellung vorzunehmen.

Der Begriff »Pazifismus« entstand Anfang des 20. Jahrhunderts. Er wurde das erste Mal 1901 von dem französischen Friedensaktivisten E. Arnaud benutzt und setzte sich in der politischen Diskussion schnell durch. Die radikale Ablehnung von Krieg ist hingegen schon wesentlich älter und findet sich als Gebot zur Nichtgewalt in vielen Religionen und Philosophien. Die Gleichsetzung von Pazifismus mit jeglicher friedensbewegten Haltung, wie sie z.B. Karl Holl, der Verfasser eines der deutschen Standardwerke über die Geschichte des Pazifismus,5 vornimmt, wird dem Thema nicht gerecht.

Eugen Drewermann schrieb: „Wenn ich keinen Krieg will, weil ich Angst vor dem Krieg habe, dann will ich lediglich diesen Krieg nicht, der mich erreichen wird. Das ist aber noch keine Haltung gegen den Krieg als solchen. Ganz im Gegenteil: Wer Angst hat, wird aus lauter Angst um sich schlagen, wenn Gewalt ihn selbst bedroht. Wir müssen gegen den Krieg sein, weil Krieg darin besteht, Menschen zu Morden zu präparieren. Was Menschen im Rahmen von Militär und Krieg mit Menschen machen können und machen sollen, das ist das Grauenhafte.“6 Dies macht in den Augen der Autorin Pazifismus aus: die Ablehnung jeglichen Krieges. Das gleiche Verständnis von Pazifismus brachte 1921 die Grundsatzerklärung der War Resisters’ International zum Ausdruck: „Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Ich bin daher entschlossen, keine Form von Krieg zu unterstützen und für die Beseitigung der Ursachen von Krieg einzutreten.“

Bis heute ist der religiös begründete Pazifismus, wie er schon vor Jahrhunderten bei bestimmten christlichen Freikirchen (Wiedertäufer*innen, Quäker*innen, Mennonit*innen) formuliert wurde, die vornehmliche Ausprägung von Pazifismus. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch humanistische Argumentationen geben würde. Sie werden in Darstellungen über Pazifismus oft nicht genügend berücksichtigt. Zu ihren gehören

1. die Überzeugung, dass die Kosten von Krieg praktisch immer höher sind als sein Nutzen, wenn die totalen Kosten, also auch die langfristiger und sozialer Art, mit berücksichtigt werden,

2. die Überzeugung, dass das Recht auf Leben eines der grundlegendsten Menschenrechte und deshalb die Verteidigung von Menschenrechten durch Töten absurd ist,

3. die Überzeugung, dass es keiner aufs Jenseits und/oder eine höhere göttliche Autorität gerichteten Begründung bedarf, um Leben – nicht notwendigerweise nur menschliches – als »heilig« anzusehen, und

4. die Überzeugung, dass es gewaltfreie Alternativen der Konfliktbearbeitung gibt, die einen dritten Weg zwischen Nichtstun und Gewaltanwendung eröffnen. Dazu unten mehr.

Pazifismus und der »Gerechte Krieg«

Die Pazifismus-Debatte wird primär unter moralisch-ethischen Gesichtspunkten geführt. Es geht um die Berechtigung der Anwendung von Gewalt. Beide Seiten bedienen sich dabei der Kriterien des »Gerechten Krieges« – vonseiten der Kriegsgegner*innen wohl nicht immer bewusst oder sogar im Widerspruch zu der oftmals geäußerten Ablehnung dieses Konzepts. Zu den über die Jahrhunderte entwickelten Kriterien für »Gerechten Krieg« gehören in erster Linie: Legitime Autorität, gerechter Grund, letztes Mittel (Ultima Ratio), rechte Intention und Verhältnismäßigkeit der Mittel. Während die Befürworter*innen eines bestimmten Krieges darauf verweisen, dass »nichts anderes mehr übrig blieb«, argumentieren Pazifist*innen, dass noch »nicht alle zivilen Mittel ausgeschöpft wurden«. Beide beziehen sich damit auf das Kriterium der Ultima Ratio. Verweisen Kriegsgegner*innen auf die »tatsächlich verfolgten Interessen«, z.B. die Sicherung wirtschaftlicher und geopolitischer Vorteile, ist die Verneinung der rechten Intention unübersehbar. Wird auf die zu befürchtenden Opferzahlen eines Angriffs oder die Gefahren einer Eskalation in einer Region hingewiesen, steht das Kriterium der Verhältnismäßigkeit im Raum. Und der Verweis bei bestimmten Kriegen (Kosovo, Irak, teilweise jetzt auch Syrien), dass ein Mandat der Vereinten Nationen fehle, ist nicht nur ein völkerrechtliches Argument, sondern auch der Hinweis, dass die Legitime Autorität nicht gegeben sei.

Ein Problem ist all diesen Argumentationen gemein: Sie räumen implizit die Berechtigung von Krieg ein. Wenn keine zivilen Mittel mehr denkbar sind, wenn es wirklich um die Verhinderung von Genozid und nicht um Erdöl geht, wenn die Opferzahlen voraussichtlich nicht hoch sind und wenn ein Mandat des UN-Sicherheitsrats vorliegt – ist Krieg dann gerecht(fertigt)?

Ein zweites Element der Diskussion ist die Rolle von Moral und Ethik in der Politik, die u.a. Heiko Hänsel und Heinz-Günter Stobbe in ihrer Studie über die deutsche Debatte um den Kosovokrieg nachzeichneten.7 Überspitzt formuliert wird dann, wenn ein ethischer Gesichtspunkt nicht per se entkräftet werden kann, argumentiert, Moral tauge leider nicht als politischer Maßstab. In der Öffentlichkeit wird kaum als Widerspruch wahrgenommen, dass dieser Hinweis oftmals von denselben Politiker*innen kommt, die gerade eben noch erklärt hatten, jetzt müsse man dringend eingreifen, weil sonst Unschuldige schutzlos der Gewalt preisgegeben seien. An dieser Stelle kommt Max Webers Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik zum Zuge.

Verantwortungspazifismus

Den Pazifist*innen wird immer wieder vorgeworfen, »gesinnungsethisch« zu handeln und nicht die Verantwortung für »das Ganze« zu übernehmen. Der Friedensforscher Harald Müller schrieb in seiner zustimmenden Antwort auf Volmer 2002: „Der Pazifist muss zu Gunsten seiner prinzipiellen Gewaltlosigkeit in Kauf nehmen, dass das Böse widerstandslos Gewalt anwenden kann.“8

Dem ist zu widersprechen! Nur eine Minderheit von Pazifist*innen – zumeist gerade erst erwachsen gewordene männliche Kriegsdienstverweigerer – haben nicht nach der Verallgemeinerbarkeit ihrer Gewissensentscheidung gefragt und sich nur für das eigene Nicht-Mitmachen und das vermeintliche sich dadurch Nicht-Schuldig-Machen interessiert. Die weitaus meisten Pazifist*innen denken stets weiter und leben – in der Regel, ohne diesen Begriff zu verwenden –einen »verantwortungsethischen« Pazifismus vor. Sie verweigern sich nicht der Frage, wie ein politischer Konflikt gelöst, ein Krieg verhindert oder gestoppt oder gravierende Menschenrechtsverletzungen beendet werden können. Sie beschränken sich nicht auf das »Ohne uns« oder das »Hättet Ihr mal früher«, sondern greifen aktiv in das politische Geschehen ein und suchen Antworten auf die Frage »Was jetzt?«. Im Sinne Gandhis und Martin Luther Kings gilt Pazifist*innen Gewaltfreiheit als der dritte Weg zwischen dem desinteressierten Wegschauen oder der Hinnahme vermeintlich unveränderlichen Unrechts einerseits und der Anwendung von Gewalt andererseits.

Die meist pauschal vorgetragene Auffassung, Gewaltfreiheit habe nur auf niedrigen Eskalationsstufen eines Konfliktes Aussicht auf Erfolg, also bevor offene Gewaltanwendung den Konflikt dominiert, ist durch zahlreiche Beispiele widerlegt. Die Geschichte, insbesondere die des 20. Jahrhunderts, ist reich an Beispielen gewaltfreier Aufstände und zivilen Widerstands, in denen sich eine Akteursseite nicht für Gewalt, sondern für Gewaltfreiheit als »letztes Mittel« entschied. Gewaltfreiheit als Instrument der Konfliktaustragung stand selbst in den Fällen zur Verfügung, in denen Gewalt ohnehin keine Option war, z.B. weil es an Waffen fehlte, das Militär auf der gegnerischen Seite stand oder ihm nicht zu trauen war (Kapp-Putsch 1920, Prag 1968, Philippinen 1986) oder weil zu erwarten war, dass Gewalt zur Vernichtung führen würde (das Hauptargument der gewaltlosen Bewegung im Kosovo bis 1997).

Natürlich kann auch eine gewaltfreie Konfliktaustragung misslingen oder zu viel Zeit beanspruchen, bevor sie »greift«. Wo massive Gewalt herrscht, wie z.B. heute in den Einflussgebieten des »Islamischen Staates«, gibt es keine schnelle Lösung.

Letzteres gilt in aller Regel aber auch für militärische Maßnahmen. »Humanitäre Interventionen« beispelsweise haben keine überzeugende Erfolgsbilanz. Es gibt historisch nur sehr wenige Beispiele erfolgreicher Interventionen in laufende Kriege oder genozidale Gewalt. Zu ihnen gehören die Befreiung Kambodschas von den Roten Khmer durch Vietnam 1978/79 und nahezu zeitgleich die Intervention Tansanias in Uganda, die zum Sturz Idi Amins führte. Interessanterweise gaben in beiden Fällen die eingreifenden Akteure keine humanitären Begründungen vor, und in beiden Fällen verurteilte die internationale Gemeinschaft die Intervention als Aggression. Ein Grenzfall könnte der Kosovokrieg von 1998 sein. Durch ihn wurden möglicherweise Verbrechen wie in Ostbosnien verhindert, allerdings um den Preis der Flucht und Vertreibung der bis dahin dominanten Bevölkerungsminderheit der Serben.

»Humanitäre Interventionen« sind zu unterscheiden von »normalen« Kriegen. Der in der Pazifismusdebatte oft angeführte Zweite Weltkrieg war keine Militärintervention, sondern ein internationaler Krieg, in dem die beteiligten Staaten auf alliierter Seite entweder Angegriffene waren oder diesen Beistand leisteten. Hätte Krieg niemals zumindest einer Kriegspartei einen Vorteil gebracht, könnte Krieg nicht gewonnen werden, dann hätte er sich als menschheitsgeschichtliche Institution nicht so lange erhalten und ökonomische und geostrategische Interessen hätten sich andere Vehikel zur Durchsetzung gesucht. Dem Uppsala Conflict Data Program zufolge endeten zwischen 1946 und 2005 372 bewaffnete Konflikte, davon etwa ein Drittel mit dem Sieg einer Partei und ein Viertel durch eine Verhandlungslösung.9

Gewaltfreie Alternativen entwickeln

Für »humanitäre Interventionen« wie für Kriege allgemein gilt: Es gibt in der Regel Alternativen, die werden aber aus unterschiedlichen Gründen nicht genutzt. Im Englischen gibt es das Sprichwort „Wer einen Hammer besitzt, für den sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.“ Mit wenigen Ausnahmen, wie Costa Rica, verfügen fast alle Staaten der Welt über ein Militär, seine Nutzung liegt also auf den ersten Blick nahe. Denn gewaltfreie Alternativen erfordern zunächst viel mehr Planung (und vielleicht auch Mut) als militärische Lösungen. Zivile Konfliktbearbeitung ist nicht ein einzelnes Instrument, sondern ein Sammelbegriff für Hunderte von Instrumenten. Zu ihnen gehören Ansätze, die der Suche nach einer friedlichen Vereinbarung zwischen den Konfliktparteien dienen, Ansätze, bei denen es um das Stoppen von Gewalt geht, und Ansätze, die sich mit den Ursachen und den langfristigen Folgen eines Konflikts befassen. Für viele dieser Instrumente halten die Staaten nur in Ausnahmefällen menschliche und finanziellen Ressource vor, d.h. sie müssen diese vor einem Einsatz zuerst aufbauen. Außerdem gerät eine Regierung beim Verzicht auf einen Militäreinsatz leicht unter außenpolitischen, unter Umständen auch innenpolitischen Druck. Man erinnere sich an die Vorwürfe gegen jene europäischen Regierungen, die 2003 eine Beteiligung am Krieg der USA gegen den Irak verweigerten.

Und es gibt weitere Gründe, Militär vorzuhalten. Wo wäre die mächtige Rüstungsindustrie, würde sie keine Abnehmer mehr finden? Was würde mit den Soldat*innen geschehen, die ihren Job verlören? Wie ließe sich ohne Waffengewalt die gegenwärtige, auf Ausbeutung beruhende internationale Weltordnung aufrechterhalten? Mit Ziviler Konfliktbearbeitung jedenfalls nicht.

Pazifist*innen haben verschiedene Strategien entwickelt, wie Rüstung und Militär überwunden und durch gewaltfreie Ansätze ersetzt werden können. Das ist für beide offiziell propagierten Hauptzwecke des Militärs möglich: die Verteidigung und die »humanitäre Intervention«. So wurde schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine Alternative zur militärischer Verteidigung ausgearbeitet: die Soziale Verteidigung. Sie war die Reaktion auf die Unmöglichkeit, sich in einem Atomkrieg zu verteidigen. Ihr Grundgedanke lautet, der mögliche Aggressor lasse sich von einem Angriff abhalten, sobald er erkenne, dass er seine Kriegsziele nicht erreichen kann, weil die Bevölkerung die Zusammenarbeit mit ihm verweigern wird. Greift er trotzdem an, dann werden nicht die Grenzen verteidigt, sondern die eigene Lebensweise, indem Anordnungen des Besatzers nicht befolgt werden. Vorbild sind die zahlreichen erfolgreichen gewaltfreien Aufstände und Beispiele zivilen Widerstands der letzten 100 Jahre, wie sie in etlichen Studien der jüngeren Zeit gut belegt wurden. Einige von ihnen, besonders die von Anderson und Wallace beschriebenen Fälle, wo ganze Volksgruppen, Regionen oder auch nur einzelne Gemeinden es schafften, sich aus Kriegen herauszuhalten, die um sie herum tobten, können als Beispiele für Soziale Verteidigung gelten.10

Analog dazu bieten die oben angesprochenen umfassenden Instrumentarien der Zivilen Konfliktbearbeitung eine Alternative zu den »humanitären Interventionen«. Eine weitere Option ist der Einsatz jener gewaltfreien »Friedensarmeen«, die Gandhi einst ins Spiel brachte – ein Ansatz, den wir heute als ziviles Peacekeeping kennen.11

Eng hiermit verbunden ist die Entwicklung konstruktiver Programme – alternative Weisen, wie man Lebensmittel herstellt, Wirtschaft treibt, Energie nutzt und zusammenlebt. So ließe sich nicht nur das oben angesprochene Problem der Konversion von Rüstungsindustrie und Armeen lösen, sondern sogar die Frage der gegenwärtigen Weltordnung angehen.

Pazifist*innen haben heute oft das Gefühl, dass sie auf verlorenem Posten kämpfen, so sehr haben Krieg und Militär in diesen Jahren eine neue »Normalität« erreicht. Aber die Autorin ist überzeugt, dass sich das wieder ändern wird. Radikaler Wandel ist möglich. Sonst gäbe es immer noch legale Sklaverei, sonst würden Frauen nirgendwo auf der Welt wählen und ihr Leben unabhängig von Ehemann oder Vater gestalten dürfen, und sonst würden Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle überall ins Gefängnis gesteckt oder hingerichtet werden. Auch gäbe es keine Konzepte und Instrumente wie Zivile Konfliktbearbeitung, und niemand würde autoritäre Regierungsformen in Frage stellen.

Erst wenn das Verhältnis der Ressourcenverwendung für gewaltfrei-zivile und für militärische Formen der Konfliktbearbeitung umgekehrt wird – das heißt, mindestens zehnmal so viel für friedliche als für militärische Mittel ausgegeben wird – lässt sich beurteilen, ob die angeblich »utopische« Idee des Pazifismus nicht die realpolitisch effektivere ist.

Anmerkungen

1) Geyer, C.: Pazifismus – ein Abgesang. faz.net, 1.9.2014.

2) Stein, H.: Käßmanns Pazifismus ist vor allem eines – nicht christlich. welt.de, 31.3.2016.

3) Volmer, L.: Was bleibt vom Pazifismus. Frank­furter Rundschau, 7.1.2002.

4) Frei nach Amnéus, D.: Responsibility to Protect – Emerging Rules on Humanitarian Intervention? Global Society, Vol 26, No 2, April 2012, S. 241-276, hier S. 243.

5) „Mit Pazifismus sollten alle individuellen und kollektiven, auf friedliche und gewaltfreie zwischenstaatliche Konfliktaustragung gerichteten Bestrebungen bezeichnet werden, mit deren Hilfe sich schließlich eine auf das Recht gegründete Völker- und Staatengemeinschaft organisieren lasse.“ Holl, K. in: Donat, H. und Holl, K. (1983): Hermes Handlexikon Die Friedensbewegung – Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Düsseldorf: Econ, S. 300.

6) Drewermann E. (2002): Krieg ist Krankheit, keine Lösung – Eine neue Basis für den Frieden. Im Gespräch mit Jürgen Hoeren. Freiburg i. Breisgau: Herder, S. 61.

7) Hänsel, H.; Stobbe, H.-G. (2002): Die deutsche Debatte um den Kosovo-Krieg – Schwerpunkt und Ergebnisse. Versuch einer Bilanz nach drei Jahren, verfasst im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung. Berlin (unveröffentlichtes Manuskript).

8) Müller, H.: Stachel im Fleisch der Selbstgerechten. Zur Ehrenrettung des unbedingten Pazifismus. Frankfurter Rundschau, 24.1.2002.

9) Der Trend ging aber hin zu Verhandlungslösungen: Seit den 1990er Jahren bis 2005 ist die Zahl der Fälle, die durch Verhandlungen beigelegt wurden, auf das bis zu Vierfache der Kriegsbeendigungen durch den Sieg einer Partei gestiegen. Siehe Mack, A.: Human Security Brief 2006. Vancouver: Human Security Centre at the Liu Institute for Global Issues at the University of British Columbia, Canada.

10) Chenoweth, E.; Stephan, M.J. (2011): Why Civil Resistance Works – The Strategic Logic of Nonviolent Conflict. New York: Colombia University Press.
Anderson, M.B.; Wallace, M. (2013): Opting Out of War – Strategies to Prevent Violent Conflict. Boulder/London: Lynne Rienner Publishers.

11) Mehr dazu in: Furnari, E.; Julian, R.; Schweitzer, C.: Ziviles Peacekeeping – Menschen wirksam schützen ohne Drohung oder Gewalt. W&F-Dossier 83, November 2016.


Dr. Christine Schweitzer ist Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung e.V.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/1 Facetten des Pazifismus, Seite 6–9