W&F 2000/2

Ein Umweltschützer als Spion vor Gericht

Der »Whistleblower« Nikitin

von Antje Bultmann

Alexandr Nikitin, ehemaliger Kapitän eines Atom-U-Bootes und Chefinspektor für die atomare Sicherheit bei der russischen Marine, kannte die Praktiken des Verteidigungsministeriums im Umgang mit Atommüll und machte sie öffentlich. Das bezahlte er mit 10 Monaten Gefängnis, Einzelhaft und acht Prozessen innerhalb von vier Jahren. Als er am 29. Dezember letzten Jahres überraschend freigesprochen wurde hatten ihn Haft und Verfolgung schwer gezeichnet. Antje Bultmann berichtet über die Arbeit des »Whistleblowers« und die Verfolgung.

Mindestens 394 Kernreaktoren wurden während des Kalten Krieges für die russische Marine gebaut. Ohne ein Entsorgungskonzept wurde inzwischen die erste und mehr als die Hälfte der zweiten Generation der Atom-Boote ausgemustert, Nuklearraketen wurden versenkt, tonnenweise landete Atommüll im Meer. Der Hafen von Murmansk gilt heute als »Friedhof russischer Atom-U-Boote«. Nachdem die russische Regierung jahrelang tatenlos zugesehen hatte wie die Gesundheit besonders der BewohnerInnen der Regionen Murmansk und Archangelsk immer stärker gefährdet wurde, viele Menschen an Krebs erkrankten oder missgebildete Kinder zur Welt brachten, beschloss Alexandr Nikitin an die Öffentichkeit zu gehen.

Nikitin suchte dafür auch die internationale Zusammenarbeit, denn er war sich bewusst, dass er nur so wirklich »Öffentlichkeit« erreichen würde. Gleichzeitig ging er davon aus, dass die atomare Verseuchung des Nordmeers nicht nur die Bevölkerung des eigenen Landes betreffe und es nur eine Frage der Zeit sei, bis auch Menschen in anderer Gegenden betroffen sein würden, beispielsweise in den Küstenregionen Norwegens. Schließlich verteilt sich das radioaktive Material im Meer unaufhaltsam weiter, es gelangt in die Nahrungskette und jedes Plutoniumpartikel kann zeitlich unbegrenzt Krebs hervorrufen.

Geheimprozess vor dem Kriegsgericht?

1995 verfasste Nikitin erstmals gemeinsam mit der norwegischen Umweltorganisation Bellona einen Bericht über diese tödliche Bedrohung im Eismeer. Bei Arbeitsbeginn an einem zweiten Bericht, im Februar 1996, schlug dann der russische Geheimdienst FSB zu. Nikitin wurde verhaftet und der Spionage und des Vaterlandsverrats angeklagt. Darauf stehen in Russland bis zu 15 Jahre Haft. Die Bedingungen unter denen Nikitin anfangs festgehalten wurde sprechen jeder Rechtsstaatlichkeit Hohn: Ein eigener Verteidiger wurde ihm anfangs verwehrt, Stunden lang wurde er verhört. Später berichtete Nikitin wie der Untersuchungsrichter Maximenkow ihn unter Druck setzte. Er habe ihm jedesmal erklärt: „Du hast keine Chance. Der Prozess wird geheim sein, mit unseren Anwälten, unserem Staatsanwalt und unserem Kriegsgericht.“

Erst nach Wochen entschied das Verfassungsgericht, dass der 42jährige das Recht auf einen eigenen Verteidiger habe. Doch weder Jurij Schmidt, ein Staranwalt in Petersburg, der den Fall dann übernahm, noch Nikitin selbst bekamen die 5.000 Seiten umfassende Anklageschrift zu sehen. Mitarbeiter der Bellona-Organisation, die der Verteidigung Entlastungsmaterial übergeben wollten, erhielten keine Einreisevisa. Zynisch stellte der Anwalt fest: „Der Geheimdienst bangt nach Ende des Kalten Krieges um seine Jobs und weil es so schwierig ist, Spione zu finden, werden aus Umweltschützern Vaterlandsverräter.“

Vor dem Obersten Gerichtshof in Moskau kam es dann zu einem langem Tauziehen um die Frage, ob der Fall vor das Kriegsgericht kommen soll oder vor ein Zivilgericht. Gegen den Willen des FSB übergaben die RichterInnen schließlich die Sache an ein Zivilgericht in Petersburg, das dann die Anklageschrift des FSB als „einseitig“ und „vage“ zurückwies. Die Anklageschrift sollte (vom Geheimdienst) nachgebessert werden.

Das war die Chance für die Verteidigung, Nikitin nach zehn Monaten aus der U-Haft unter Auflagen frei zu bekommen. Nikitin durfte St. Petersburg nicht verlassen und war durch die Haft schwer gezeichnet: Der groß gewachsene Mann war stark abgemagert, die Augen lagen in tiefen Höhlen, seine Haare waren ergraut.

Am 23. November 1999 begann vor dem Gericht in St. Petersburg der achte Prozess innerhalb von vier Jahren gegen den Umweltschützer. Wieder fand das Verfahren überwiegend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der Staatsanwalt berief sich auf einen – nachträglich verfassten – Geheimerlass, den weder der Angeklagte, noch die Verteidigung einsehen durften. Vorgeworfen wurde dem ehemaligen Marine-Offizier wie schon in früheren Verfahren, dass er sich illegal Zugang zur Bibliothek der Marine verschafft habe. Die Dokumente dort seien geheim, behauptet der russische Geheimdienst, der die Anklageschrift verfasst hat.

Wie der Anwalt Schmidt mitteilte, wurden „... über zehn verschiedene Sachverständige eingesetzt, etwa 100 Zeugen befragt. Um zu beweisen, dass Nikitin eine Spionagetätigkeit ausgeübt hat, wandte sich die Ermittlung an das Außensicherheitsamt, an das Außenministerium, an das Verteidigungsministerium, an die Atomenergiebehörde und andere Ämter und Behörden“. Den Nachweis der Verteidigung, dass die Informationen über den Skandal im Eismeer bereits vorher in mehreren Büchern und in der Presse veröffentlicht wurden, ignorierte das Gericht.

Mit welchen Methoden der Geheimdienst arbeitete belegt u.a. auch das Schicksal von Viktor Perovsky, einem Kollegen Nikitins, der als wichtiger Zeuge geladen war. Er wurde vom Geheimdienst zusammengeschlagen, seine Wohnung verwüstet und letztendlich wurde er im Gefängnis »umgedreht«: Perovsky mochte sich zur großen Überraschung und Enttäuschung Nikitins vor Gericht an nichts mehr erinnern.

Ein unerwarteter Freispruch

Am 29. Dezember 1999 konnte Nikitin trotzdem aufatmen. Das Gericht sprach den mutigen Umweltschützer unerwartet frei. Beigetragen hat dazu sicher die mutige und engagierte Verteidigung sowie auch die große internationale Öffentlichkeit. Der Prozess war von vielen VertreterInnen des US-Kongresses begleitet worden sowie von VertreterInnen der Konsulate Deutschlands, Dänemarks, Hollands, Norwegens, Schwedens, von amnesty international, Bellona und vielen anderen Nichtregierungsorganisationen. Das Verfahren galt als Indikator für Russlands Demokratiefähigkeit.

Nikitin kein Einzelfall

Auch andere »Whistleblower«, die nicht zuschauen wollten wie das Nordmeer verseucht wird, wurden für ihren Mut ins Gefängnis geworfen. So beispielsweise die Atom-U-Boot-Kapitäne Nikolaj Mormul und Nikolaj Tscherkassin. Mormul machte z.B. öffentlich, dass an der Andrejewa-Bucht seit Jahren Container radioaktiven Mülls unter freiem Himmel stehen, deren durchgerostete Deckel die Strahlung ungehindert austreten lassen. Um die Insel Semlja herum wurde der Atomschrott aus 30 Jahren sowjetischer Marine einfach ins Meer gekippt. Mormul informierte über zwei U-Boote, die mitsamt ihren Neutronenreaktoren einfach versenkt wurden, über einen Schlepper mit 2.000 Behältern radioaktiven Mülls und über 17.000 Behälter Atommüll, die alle im Eismeer landeten. Mormul, der früher einmal Chef der Nordmeerflotte war, berichtete auch von sogenannten Entflammungsvorkommnissen (sprich Feuerausbrüchen), die auf hoher See immer mal wieder in Atom-U-Booten vorkamen und -kommen.

So. z. B. 1972 auf K19. Das Boot hatte bereits 10 Jahre zuvor eine schwere Havarie zu beklagen gehabt, bei der etliche Seeleute verbrannten. Bei dem erneuten Brand hatten die Männer das Schott im Hektorpedoraum geschlossen, damit nicht alle Soldaten umkamen. Die todgeweihten Kameraden versuchten vergeblich auszubrechen, 28 Seeleute starben. Den Berichten zu Folge wurden alle Seeleute, die Havarien miterlebten, mit vorgeschobenen Begründungen »aus dem Verkehr gezogen«. Die Katastrophen sollten streng geheim bleiben, obwohl die russische Verfassung Geheimnisse im Umweltbereich ausschließt.

Auch der Marineoffizier und Reporter Grigorij Pasko wurde vor ein nicht öffentliches Militärgericht gestellt. Er hatte publiziert, dass in Wladiwostok radioaktiver Müll entsorgt wird. Als Geheimnisverrat betrachtete die russische Militärführung auch die aufsehenerregende Enthüllung des Chemikers Vil Mirzajanov. Er hatte sich an die Öffentlichkeit gewandt, weil in Russland weiterhin chemische Kampfstoffe entwickelt wurden, obwohl das Land einem internationalen Abkommen über den Abbau chemischer Waffen beigetreten war. Jelzins früherer Umweltberater Alexey Yablokov kritisierte die Einschätzungen über die Kontaminierung des Barentssees und des Kara-Meers durch Norwegen als zu optimistisch und bezeichnete eine Studie der internationalen Atomenergie-Behörde als „lächerlich“. Das kostete ihn seinen Job.

Nikitin, Mormul, Tscherkassin, Pasko, Yablokov sind Whistleblower. Ohne Ansehen ihrer Person haben sie es gewagt, gegen alle Repressionen »Geheimnisse«, (die eigentlich keine waren) an die Öffentlichkeit zu bringen. Inzwischen haben diese Whistleblower alle ihre Strafen für ihre »Zivilcourage« abgebüßt. Mirzajanov ist nach den Repressalien, denen er in Russland ausgesetzt war, in die USA ausgewandert.

Antje Bultmann ist aktiv in der deutschen Ethikschutz-Initiative, die Mitglied des Internationalen Netzwerks von Ingenieuren und Wissenschaftlern zum Schutz und zur Förderung von ethischem Engagement (INESPE) ist.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/2 Russland – Zerfall einer Supermacht, Seite