Eine Epoche der Ambivalenz
Von der Zangenkrise zum »Kampf der Sozialismen«
von Klaus Dörre
Der Beitrag argumentiert, dass wir in einer Epoche der Ambivalenz leben, in der einfache Wahrheiten vielleicht populär sein mögen, aber nicht realitätstauglich sind. Auch die Friedensbewegungen und die politische Linke müssen sich einer Widersprüchlichkeit stellen, die nicht im Selbstlauf zu einer positiven Synthese drängt. Die Suche nach Auswegen aus der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise wird umso dringlicher.
Was der Schriftsteller Peter Weiss in den 1970ern während einer Phase gesellschaftlichen Aufbruchs in seinen Notizbüchern notierte, trifft – freilich unter völlig anderen Vorzeichen – auch für die Gegenwart zu: „Die Epoche der Ambivalenz und der Kontroversen. Es war unmöglich, eine absolut richtige, zutreffende Ansicht zu haben, man kam der Wahrheit am nächsten, wenn man den bestehenden Zwiespalt in die Analyse des Sachverhalts einbezog. Monolithische Haltungen von vornherein zum Mißglücken verurteilt, und wenn sie mit Gewalt aufrecht erhalten werden, zeigen sie desto deutlicher das Atavistische ihres Charakters“ (Weiss 1981, S. 177). Auch heute leben wir in einer Epoche von Widersprüchen, die allerdings nicht zu einer positiven Synthese drängen und denen einfaches Denken keineswegs gerecht werden kann. Handelt es sich tatsächlich um eine Zeitenwende, um einen Kampf zwischen Autokratien und demokratischen Gesellschaften, wie es Robert Kagan (2008), Mitbegründer eines neokonservativen Think Tanks, und mit ihm inzwischen viele andere behaupteten? Ich plädiere für eine andere, eine alternative Sicht der Dinge. Wir befinden uns, so meine These, inmitten einer epochalen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise, die das Ende der »billigen Dinge«, das Ende von billiger Natur, billiger Energie, billiger Sorgeleistungen und auch billiger Arbeit einleitet. Diese Metakrise prägt die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts und treibt zu einer neuen Weltordnung – ein Übergang, der von Naturkatastrophen, Kriegen und Massenaufständen begleitet sein wird. Diese konfliktreiche Periode zwingt progressive soziale Bewegungen, Gewerkschaften und die verblieben Organisationen der politischen Linken zu einer strategischen Neuausrichtung, die mit einer realistischen Betrachtung der Lage beginnen muss. Nachfolgend beschränke ich mich auf vier Überlegungen.
1) Von der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise…
Beginnen wir mit der Krisendiagnose. Bei einer Krise handelt es sich ihrer allgemeinsten Definition nach um einen überwindbaren Zustand. Zangenkrise besagt, dass das wichtigste Mittel zur Überwindung ökonomischer Stagnation und zur Pazifizierung interner Konflikte im Kapitalismus, die Generierung von Wirtschaftswachstum nach den Kriterien des Bruttoinlandsprodukts, unter Status-Quo-Bedingungen ökologisch zunehmend destruktiv und deshalb gesellschaftszerstörend wirkt. Mit dem Status Quo sind in diesem Zusammenhang hoher Emissionsausstoß, ressourcenintensive Produktions- und Lebensweisen sowie ein beständig steigender Energieverbrauch auf fossiler Grundlage gemeint. Der Zangengriff von ökonomischen und ökologischen Verwerfungen markiert Störungen der Gesellschafts-Natur-Beziehungen, die in ihren Wechselwirkungen eben keine Krise wie jede andere sind. Alle sozialen Felder und gesellschaftlichen Teilsysteme werden von den Auswirkungen eines instrumentellen Verhältnisses zur Natur durchdrungen. Mit der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise ist eine Bezeichnung gewählt, die eine klare Hierarchie der Krisenursachen benennt. Es handelt sich um eine Metakrise, weil sie mit hoher Wahrscheinlichkeit den Übergang zu einem neuen Erdzeitalter, dem Anthropozän (Crutzen 2019), einleitet.
Der Begriff des Anthropozän besagt, dass die Menschheit zur einflussreichsten Kraft auf dem Planeten geworden ist. Sie hat es selbst in der Hand, nachhaltige Beziehungen zur Natur zu schaffen und ihr instrumentelles Verhältnis zu Naturressourcen und nichtmenschlichen Lebewesen zu überwinden. Ob wir die Artenvielfalt erhalten, die Überhitzung des Planeten stoppen, den Verbrauch endlicher Ressourcen einschränken, Hunger und Massenelend überwinden, den Energiebedarf aus erneuerbaren Quellen decken, eine fortschreitende Abholzung der Wälder und die nachfolgende Versteppung beenden und dem Anthropozän eine lange Dauer verleihen, hängt in erster Linie vom praktischen Tun in menschengemachten Gesellschaften ab.
Nun existiert die Menschheit allerdings nur als nach Nationen, Klassen, Geschlechtern, Alter, Machtressourcen etc. differenziertes Kollektiv. Hinzu kommt, dass die Störungen der Gesellschafts-Natur-Beziehungen in der Gegenwart in erster Linie von kapitalistischen Ökonomien ausgehen. Deshalb halten Sozialwissenschaftler wie Jason Moore die Bezeichnung Kapitalozän für angemessener (Moore 2015, S. 169ff.). In dieser Präzisierung ist auch angelegt, dass die expansive Bewegungsform kapitalistischer Gesellschaften auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen an unüberwindbare Grenzen stößt (Dixson-Decléve et al. 2022). Graduelle Prozesse wie die Erderhitzung oder auch der steigende Ressourcen- und Energieverbrauch können den Planeten auf dramatische Weise verändern und für Menschen zumindest in Teilen unbewohnbar machen. So ist der Meeresspiegel seit Beginn des 20. Jahrhunderts um ca. 20 cm gestiegen. Das Eis an den Polen schmilzt rascher als erwartet. Schon 2014 erreichte der westantarktische Eisschild wahrscheinlich einen Kipppunkt, der das gesamte Ökosystem destabilisiert und den Zerfall des Eisschilds beschleunigt. Das Ansteigen des Meeresspiegels bedroht zunächst kleinere Inseln und tiefer gelegene Küstenregionen (IPCC 2022); das macht das Graduelle des Klimawandels aus. Er wirkt zunächst unsichtbar und sozialgeographisch differenziert: Deshalb wird er über längere Zeiträume hinweg vor allem ein »Schicksal« der anderen sein; während Millionen Menschen in küstennahe Regionen des Globalen Südens das Wasser im wahrsten Sinne des Wortes bereits bis zum Halse steht, lässt es sich in den reichen Staaten des Nordens auch für die Angehörigen subalterner Klassen noch immer einigermaßen gut leben. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen beginnt sich allerdings mit zunehmender Geschwindigkeit zu ändern.
2) … zum »Würgehalsband-Effekt«
Das hängt mit einer Dynamik zusammen, die der US-amerikanische Ökonom James Galbraith (Galbraith 2016, S. 121-151) als »Würgehalsband-Effekt« bezeichnet hat. Danach sind energie- und ressourcenintensive Ökonomien, wollen sie rentabel sein, auf ein stabiles Umfeld angewiesen. Die Preise für Rohstoffe, Öl, Energie etc. müssen einigermaßen berechenbar bleiben, weil Investitionen, die sich allenfalls langfristig amortisieren, ansonsten zu risikoreich wären. In unsicheren Zeiten machen hohe Fixkosten für Gas und Öl, aber auch für seltene Erden oder Weizen und andere Nahrungsmittel hingegen eine besondere Verwundbarkeit dieser auf billigen Naturstoffen und hohem Ressourcenverbrauch basierenden Wirtschaftsweise aus. Wie das Würgehalsband bei einem Hund verhindert wirtschaftliche und politische Instabilität nicht unbedingt jegliches Wirtschaftswachstum, doch die Preise für Energie und darüber vermittelt auch für viele andere Güter steigen rasch an, um, von spekulativen Manövern beeinflusst, zeitweilig wieder zu fallen. Zugleich gibt es Krisengewinner, die, wie etwa die Öl- und Rüstungskonzerne, genau in diesen Zeiten hohe zusätzliche Gewinne abschöpfen. Insgesamt beeinträchtigt das Auf und Ab der Konjunktur und des Wachstums jedoch die Profitabilität und Leistungsfähigkeit vieler Unternehmen, ihre Investitionsbereitschaft sinkt und Verteilungskämpfe – nicht nur zwischen Klassen(-fraktionen), sondern auch innerhalb der Staatsapparate – gewinnen an Intensität (Galbraith und Dörre 2018).
Genau das ist in der Gegenwart der Fall. Die Verteuerung der »billigen Dinge« hatte bereits vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eingesetzt. Dies hat eine Vielzahl an Ursachen – Streiks in den sozialen Dienstleistungsbetrieben, öffentlichkeitswirksame Interventionen von Klimabewegungen und Gewerkschaften, Hungerrevolten, Aufwendungen für Katastrophenschutz und vieles andere mehr. Der Ukraine-Krieg und die Inflation haben diese Tendenz dramatisch forciert. Diese Entwicklung ist mit Marktmechanismen offenkundig nicht mehr zu korrigieren. Das Hauptproblem marktverträglicher Instrumente besteht darin, dass sie in ihren Auswirkungen »sozial blind« sind. Die kleinen Geldbörsen werden letztendlich immer weitaus stärker belastet als die großen Einkommen. Nehmen wir die Bundesrepublik als Beispiel: In Deutschland hat die untere Hälfte der Lohnabhängigen gemessen am steigenden Volkseinkommen seit der Jahrtausendwende kontinuierlich an frei verfügbarem Einkommen verloren. Steigen die Preise für Heizung, Strom, Mobilität, Mieten und Nahrungsmittel, wird dieser frei verfügbare Einkommensanteil immer geringer. Selbst für Durchschnittsverdiener*innen mit einem realen Nettolohn von monatlich 1.578 Euro (vgl. DGB 2021, S. 25) wird es dann schwer, ohne staatliche Hilfe über die Runden zu kommen.
Diese Entwicklung ist äußerst konfliktträchtig. Zielsicher ist die radikale Rechte dabei, den Würgehalsband-Effekt politisch auszunutzen. Der jüngste französische Präsidentschaftswahlkampf bietet dafür Anschauungsunterricht. Bereits im ersten Wahlgang zeichnete sich ein »neuer Klassenkampf« ab: Während sich hinter Emmanuel Macron vor allem die bessergestellte Wähler*innenschaft aus den großen Städten versammelte, votierten die weniger Betuchten in den Vorstädten für den Linken Jean-Luc Mélenchon, auf dem Lande aber für die rechtsradikale Marine Le Pen, die sich nur deshalb als gemäßigt geben konnte, weil mit Éric Zemmour ein noch weiter rechts stehender Kandidat um Stimmen konkurrierte. Sage und schreibe 67 Prozent der Arbeiter*innen votierten für die rechtsradikale Kandidatin (Wiegel und Záboji 2022). Zielsicher hatte sich Le Pen die Auswirkungen des »Würgehalsband-Effekts« zunutze gemacht und steigende Preise für Energie, Heizung, Nahrungsmittel und Mobilität zum Wahlkampfthema Nummer eins gemacht. Das konnte ihr gelingen, weil in Frankreich – darin zahlreichen westeuropäischen Gesellschaften ähnlich – klassenspezifische Ungleichheiten zunehmen, während die ausgleichende Kraft organisierter Arbeitsbeziehungen in Gestalt von Tarifverträgen, betrieblicher Mitbestimmung und gewerkschaftlichen Organisationsgraden seit langem rückläufig ist. Mittlerweile befindet sich Le Pen in »bester« Gesellschaft. Im schwedischen Volksheím haben die rechtsradikalen Schwedendemokraten die Wahlen gewonnen. In Italien schickt sich die verharmlosend als »Postfaschistin« bezeichnete Giorgia Meloni an, neue Regierungschefin zu werden. In Polen und Ungarn sitzen rechte Autokraten fest in ihren Regierungssesseln, während die trumpistischen Republikaner in den USA bereit zu sein scheinen, jegliche Reformmehrheit zu blockieren. Tatsächlich ist die Gefahr eines neuen Autoritarismus, ja eines neuen Faschismus riesengroß (vgl. Frankenberg und Heitmeyer 2022). Die aktuelle Schwäche sozialer Bewegungen und die Zersplitterung der Linken trägt dazu maßgeblich bei.
3) Nachhaltigkeit als Abwesenheit von Gewaltsamkeit
Das ließe sich ändern, wenn die politische Linke endlich damit beginnen würde, Streitigkeiten zurückzustellen und grassierendes Sektierertum zu überwinden, um sich zumindest in Grundfragen zu verständigen. Dabei ist zu bedenken, dass es in einer »Epoche der Ambivalenz« nicht die eine, ewig gültige Wahrheit geben kann. Inhaltliche Differenzen gehören ausgetragen; jede der streitenden Parteien sollte sich aber darüber bewusst sein, dass sie irren könnte. Dies vorausgesetzt, halte ich drei Themenkomplexe für zentral.
Die Rückkehr des intervenierenden Staates
Schon weil (1) radikal progressive gesellschaftliche Veränderungen derzeit völlig unwahrscheinlich erscheinen, kommt jede Spielart zukunftstauglicher progressiver Politik nicht umhin, Einfluss auf das aktuell dominante Krisenmanagement auszuüben. Auf europäischer wie auch auf nationalstaatlicher Ebene zeichnet sich ab, was als wirtschaftspolitischer Paradigmenwechsel über die Covid-19-Pandemie und den Ukraine-Krieg hinaus Bestand haben wird: Heute ist der intervenierende Staat zurück. Er wirkt als Ressourcenbeschaffer, Planer und Finanzier von Infrastruktur, Garant von Eigentumsrechten gegenüber der Konkurrenz aus Übersee, Seuchen-Manager und – im besten Falle – als Beschleuniger sozial-ökologischer Innovation. Nicht ob, sondern wie Staatsinterventionen aussehen, ist zumindest in den alten kapitalistischen Zentren zu einer entscheidenden Frage für die Überlebensfähigkeit des marktwirtschaftlich-kapitalistischen Systems geworden. Das Grundproblem, vor dem der neue Staatsinterventionismus steht, resultiert aus der Aufgabe, überschüssiges Kapital in die richtigen Felder zu lenken, um sozial und ökologisch nachhaltig wirken zu können. Einerseits ist der Kapitalbedarf in wichtigen wirtschaftlichen Sektoren und Branchen gewaltig, andererseits werden überfällige Investitionen in soziale und ökologische Nachhaltigkeit kurzfristig kaum Gewinne abwerfen. Sie sind deshalb für private Unternehmen wenig attraktiv und können ohne Umverteilung von den Reichsten zu den weniger Begüterten nicht sozialverträglich finanziert werden. Entscheidend ist deshalb nicht, dass der Staat interveniert, sondern wie er Einfluss ausübt. Hier grassiert jedoch industrie- und wirtschaftspolitische Fantasielosigkeit. Staatsbeamt*innen, die über Jahrzehnte hinweg gelernt haben, dass die Wirtschaft in der Wirtschaft stattfindet, können gar nicht kreativ handeln, wenn sie nicht durch Druck aus der demokratischen Zivilgesellschaft dazu gezwungen werden.
Politikgestaltung entlang der SDGs
Für die Beurteilung von Staatsaktivitäten gibt es (2) einen großartigen Maßstab, auf den sich die Staatengemeinschaft zu großen Teilen geeinigt hat – die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, bekannt als »Sustainable Development Goals« (SDGs). Diese Ziele sind hervorragend geeignet, auch solche Nachhaltigkeitspolitiken normativ zu begründen, die eine Überwindung des Wachstumskapitalismus anvisieren. In ihrer Kombination und Gleichrangigkeit können universelle Nachhaltigkeitsziele eine subversive Kraft entfalten, weil sie den kapitalistischen Expansionismus in all seinen Spielarten mit der Aufforderung zu Rechtfertigungen (Boltanski und Thevenot 1991) konfrontieren, die eine rasche Verringerung von Emissionen, Ressourcen- und Energieverbrauch anmahnen und die gerechte Verteilung eines Wohlstands einklagen, der auch künftigen Generationen noch zur Verfügung steht. Die SDGs kennen nur noch eine Welt, die sich entweder gemeinsam und solidarisch entwickelt oder eine Ära des globalen Niedergangs einleitet. Vor allem reduzieren sie Nachhaltigkeit nicht auf ihre ökologische Dimension. Ziel eins fordert die weltweite Überwindung aller Ausprägungen von Armut, Ziel zehn die Verringerung sozialer Ungleichheit – beides Orientierungen, die soziale Nachhaltigkeit anvisieren. Diese Ziele werden unauflöslich mit ökologischer Nachhaltigkeit zusammengebracht und zusammengedacht. So verlangt Ziel sieben die Sicherung des Zugangs zu nachhaltig produzierter Energie für alle, Ziel 13 fordert die wirksame Bekämpfung des Klimawandels und Ziel 14 klagt die schonende Nutzung der Meere und Ozeane ein, um nur drei besonders markante Koordinaten zu nennen. Wichtig ist jedoch, dass es keine hierarchische Rangfolge der Ziele gibt. Wenn-dann- oder Zuerst-danach-Beziehungen zwischen ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit werden ausgeschlossen. Es gibt keine Ziele erster und zweiter Klasse, sondern ein Koordinatensystem, in das alle Kriterien für Nachhaltigkeit gemeinsam eingehen. Deshalb eignen sich die SDGs als zentrale Inhalte einer neuen, weltweiten Rechtfertigungsordnung, die normative Maßstäbe für jedes Gemeinwesen setzt. Mithilfe einer an den SDGs ausgerichteten Rechtfertigungsordnung wird es möglich, alles im Sinne von Nachhaltigkeit Erreichte am Nötigen und Wünschbaren zu messen. Jeder Kompromiss, jede Bewährungsprobe eignet sich als Ausgangspunkt neuer Kritik durch gesellschaftliche Akteure. Werden Ziele nicht oder nur ungenügend umgesetzt, besteht je nach Perspektive die Gefahr oder Chance einer weitreichenden Delegitimierung des Handelns herrschender Klassen und dominanter Eliten. Die SDGs sind konfliktträchtig, weil sie zumindest diskursiv wirken. Statt Fundamentalkritik zu üben, macht es daher für progressive gesellschaftliche Akteure, die sich der Notwendigkeit einer Nachhaltigkeitsrevolution bewusst sind, Sinn, sich an Definitionskämpfen zu beteiligen, in denen darüber entschieden wird, welche Richtung der gesellschaftliche Wandel einschlägt und auf welche Weise der Staat interveniert. Statt sich in inhaltsleeren »Nachhaltigkeits«-Diskussionen zu verlieren, kann sich die politische Linke dabei an einem Nachhaltigkeitsbegriff orientieren, wie ihn der zu Unrecht fast vergessene Sozialwissenschaftler Kai Tjaden bereits zu Jahrtausendwende vorgeschlagen hat (Tjaden 2002). Er versteht Nachhaltigkeit als den Gegenbegriff zur Gewaltsamkeit. Gewaltsamkeit meint für ihn weit mehr als die Ausübung von physischem Zwang und militärischem Konflikt. Gewaltsamkeit bezieht sich nach Tjaden auch auf den strukturellen Zwang, den soziale Ungleichheiten ausüben; sie findet sich in Geschlechterverhältnissen ebenso wie in Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen und Nationen und sie findet ihren Ausdruck auch in der menschlichen Dominanz über die außermenschliche Natur und ihre Lebewesen.
Überwindung der Gewaltsamkeit fokussieren
Nachhaltigkeit bedeutet demnach (3) die Überwindung von Gewaltsamkeit. Sie beinhaltet zwingend „den Verzicht auf kriegerische Mittel der Politik“ (Tjaden 2002, S. 16). Damit ist zugleich gesagt: Politiken, die den Anteil des Rüstungsetats am BIP auf zwei Prozent und mehr festlegen wollen, können nicht nachhaltig sein; sie sind das Gegenteil – Ausweis ökologischer und sozialer Gegenrevolution. In einer »Epoche der Ambivalenz« mag vieles strittig sein, jedes Argument trifft auf gehaltvolle Gegenargumente. Nehmen wir den Ukraine-Krieg. Sicherlich war die Westausdehnung der NATO falsch und ein Verstoß gegen mündliche Abmachungen, die seinerzeit mit Michael Gorbatschows Regierung getroffen wurden; die Rechtfertigung für einen Angriffskrieg ist damit aber nicht gegeben. Selbstverständlich kann man dennoch gegen eine Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine sein – doch hieße dies, dass sich das Land mit leichten Waffen zu verteidigen hätte. Selbstverständlich kann man Sanktionen in Frage stellen – doch welche Mittel gäbe es dann, dem Aggressor etwas entgegenzusetzen? Welche Widerstandsformen stünden einer Bevölkerung zur Verfügung, die ein umfassendes Konzept ziviler Verteidigung niemals eingeübt hat? Und ja, auch die Ukraine ist, so wie alle postsowjetischen Gesellschaften, ein Oligarchenkapitalismus und damit alles andere als eine »Vorzeigedemokratie«. Erst jüngst hat ein Gesetz elementare soziale und gewerkschaftliche Rechte de facto außer Kraft gesetzt (Röthig und Yarmolyuk-Kröck 2021; ÖGB 2021). Doch das sind Konflikte, die innerhalb der Ukraine, innerhalb der russischen Föderation ausgetragen werden müssen. Kriege rechtfertigen sie nicht. Trotz kontroverser Beurteilungen der Lage gibt es einen gemeinsamen Nenner, der nicht kleingeredet werden darf: allen progressiven Kräfte bleibt nur, mit allen verfügbaren friedlichen Mitteln darauf hinzuwirken, dass es zu einem sofortigen Waffenstillstand und zu Friedensverhandlungen kommt. Einen »Siegfrieden«, gleich für welche Partei, kann es nicht geben. Die Waffen müssen schweigen, so rasch wie möglich. Alles andere bedeutet den Bruch mit Nachhaltigkeitszielen und läuft auf einen – zumindest latenten – Exterminismus hinaus.1
4) »Kampf der Sozialismen«?
Ziele sind das eine, Wege zur Zielerreichung etwas völlig anderes. Mit dem Ökonomen Thomas Piketty (2022) sei hinzugefügt, dass nichts dagegen spricht, sich den nötigen Wandel friedlich vorzustellen. Historisch betrachtet waren es allerdings stets Naturkatastrophen, große Krisen und Kriege, die revolutionäre Veränderungen mit sich brachten. Schon deshalb wäre es fatal, würden die progressiven gesellschaftlichen Kräfte die Systemfrage der radikalen Rechten überlassen. Heute geht es, um das Motiv Walter Benjamins (Benjamin 1982) aufzugreifen, bei der Suche nach gesellschaftlichen Alternativen vor allem um die Suche nach einem Notausgang, nach Auswegen aus einer epochalen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise, die das Überleben menschlicher Zivilisation infrage stellt. In Zukunft werden wir deshalb möglicherweise, so jedenfalls Thomas Pikettys Prognose, den Übergang von einem »Krieg der Kapitalismen« zum »Kampf der Sozialismen« erleben (Piketty 2022, S. 256ff.). Dem berühmten französischen Ökonomen schwebt dabei die Auseinandersetzung eines demokratisch-ökologischen, partizipativen und kulturell diversen Sozialismus mit autoritär-diktatorischen Staatssozialismen vor, wie ihn beispielsweise die kommunistische Partei Chinas zu realisieren beansprucht.
Ganz gleich wie man zu solchen Prognosen steht: Sollen, ja dürfen »wir« im wissenschaftlichen Diskurs wie im politischen Alltag hinter einen Ökonomen zurückfallen, der vom Liberalen zum überzeugten Sozialisten geworden ist? Ich hielte das für fatal und habe mich deshalb mit meiner »Utopie des Sozialismus« (Dörre 2022) selbst klar positioniert. Das vor allem, weil es innerhalb der Grenzen, die die profitgetriebene kapitalistische Marktexpansion setzt, zwar politischen Handlungsspielräume, letztendlich aber keinen nachhaltigen Ausweg aus der Zangenkrise gibt. Trotz der tristen Lage, in welcher sich die gesellschaftliche wie auch die politische Linke derzeit in vielen Ländern befindet, sind intellektuelle Suchbewegungen, die sich um Begriffe wie den des »Ökosozialismus« (Arruzza et al. 2019, S. 63), der »Gemeinwohlökonomie« (Werneke und Zanker 2022) oder den eines »radikalen Humanismus« (Mason 2019) ranken, alles andere als trivial. Zeugen sie doch von einem intellektuellen Prozess, der die Hegemonie der ratlos wirkenden kapitalistischen Eliten in Frage stellt. Historisch betrachtet wäre es nicht das erste Mal, dass radikaler Wandel sich auf diese Weise Bahn bricht (Wallerstein 2014). Politisch entscheidend ist jedoch immer der nächste Schritt – und der ist gegenwärtig leicht zu bestimmen: Er muss auf der Straße stattfinden. Wir benötigen Massenproteste für die Besteuerung von Übergewinnen und Rüstungsprofiteuren; Einsatz der Mittel zur Deckelung von Strom- und Gaspreisen und ein Sondervermögen für ein radikales, rasch wirkendes Klimapaket!
Anmerkung
1) Exterminismus – eine Wortschöpfung des Historikers E. P. Thompson aus der Zeit des Kalten Krieges, eskalierender Blockkonfrontation und wechselseitiger Aufrüstung mit atomaren Mittelstreckenraketen –bezeichnet diejenigen Mechanismen von Volkswirtschaften, politischen Ordnungen und Ideologien, die als Schubkraft in eine Richtung wirken, deren Resultat die Auslöschung großer Menschenmassen sein muss (Albrecht 1997, Spalten 1188-1192).
Literatur
Albrecht, U. (1997): Exterminismus. In: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 3, Spalten 1188-1192.
Arruzza, C.; Bhattacharya, T.; Fraser, N. (2019): Feminismus für die 99 %. Ein Manifest. Berlin: Matthes & Seitz.
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Boltanski, L.; Thévenot, L. (1991 [2007]): Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft. Hamburg: Hamburger Edition.
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DGB (2021): DGB Verteilungsbericht. Ungleichheit in Zeiten von Corona. Berlin.
Dixson-Decléve, S. et al. (2022): Earth for All. Ein Survivalguide für unseren Planeten. München: oekom.
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Frankenberg, G.; Heitmeyer, W. (Hrsg.) (2022): Treiber des Autoritären. Pfade von Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.: Campus.
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Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der FSU Jena und forscht u.a. zu Kapitalismus und Nachhaltigkeit.