W&F 2017/1

Eine kleine Chronik des Pazifismus

von Corinna Hauswedell und Jürgen Nieth

Gedanken des Pazifismus finden wir in fast allen Religionen und in den philosophischen Denktraditionen seit der Antike. Zahlreiche Werke belegen eine kritische Auseinandersetzung mit dem Krieg und das Streben nach Alternativen zum militärischen Umgang mit Konflikten. Cicero (106-43 vor unserer Zeitrechnung) beispielsweise wird das Zitat zugeschrieben: „Der ungerechteste Friede ist immer noch besser als der gerechteste Krieg.“

Die ersten organisatorischen Zusammenschlüsse, die einen Dienst mit der Waffe ablehnten, hatten eine religiöse Basis. Sie bildeten sich innerhalb der Orden der Franziskaner und Waldenser im 12. Jhd., der Hussiten (15. Jhd.), der Hutterer und Mennoniten (16. Jhd.). Um 1650 entstanden in England die Quäker, die als Religionsgemeinschaft geschlossen den Kriegsdienst ablehnen und bis heute in den Friedensbewegungen vieler Länder aktiv sind.

Die folgende Chronologie pazifistischer Akteure, Bewegungen und Diskurse ist notwendig selektiv und unvollständig und legt einen Schwerpunkt auf den deutschen Kontext.

1795 Immanuel Kant verfasst die Abhandlung »Zum ewigen Frieden«, in der er u.a. die Entwicklung eines vertraglich abgesicherten universellen Völkerrechts vorschlägt.

1815 Nach der Niederlage Napoleons bilden sich die ersten Friedensgesellschaften: 1815 die »Massachusetts Peace Society«, 1816 die europäische Friedensgesellschaft »London Peace Society«, 1821 die »Sociéte de la Morale Chrétienne« in Frankreich, 1828 die »American Peace Society«, 1830 die »Société de la Paix« in Genf, 1841 das »Comité de la Paix« in Frankreich.

1843 Erster Internationaler Friedenskongress in London. Es folgen internationale Kongresse in Brüssel 1848, Paris 1849, Frankfurt 1850, Manchester 1852 und Edinburgh 1853.

1845 Der Franzose J.B. Richard de Radonvillers setzt sich für die Etablierung des Wortes »Pazifismus« ein, für ein „System der Befriedung, des Friedens; alles, was den Frieden zu stiften und zu bewahren bestrebt ist“. Vorherrschend bleibt zunächst jedoch die Verwendung von Begriffen wie »Friedensfreunde« oder »Friedensbewegung«.

1850 Gründung der »Königsberger Friedensgesellschaft«, die aber bereits 1851 verboten wird.

1886 Gründung eines Friedensvereins in Frankfurt/Main. Es folgen schnell weitere in anderen deutschen Städten.

1889 Mit einem Weltfriedenskongress in Paris wird die 1853 unterbrochene Tradition internationaler Friedenskongresse wieder aufgenommen.

1892 Gründung der »Deutschen Friedensgesellschaft« (DFG).

1897 Bertha von Suttner begründet mit ihrem Antikriegsroman »Die Waffen nieder« den deutschen bürgerlichen Pazifismus.
Im gleichen Jahr Weltfriedenskongress in Hamburg.

1899 und 1907 Haager Friedenskonferenzen mit dem Ziel internationaler Abrüstung und nichtmilitärischer Regelung internationaler Konflikte.

1901 Henri Dunant (Gründer des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes) und Frédéric Passy (Gründer der »Société française pour l'arbitrage entre nations«) erhalten den ersten Friedensnobelpreis.

1901 Der französische Präsident der »Ligue internationale de la Paix et de la Liberté«, Emile Arnaud, setzt sich für den Begriff »Pazifist« ein, da er aussagestärker als »Friedensfreund« sei: „Wir sind nicht nur friedlich, wir sind nicht nur friedfertig, wir sind nicht nur friedensstiftend. Wir sind alles zusammen und noch mehr: Wir sind, in einem Wort, Pazifisten.“
Im gleichen Jahr plädiert auch der Vorsitzende der »Deutschen Friedensgesellschaft«, Alfred Hermann Fried, in Abstimmung mit Bertha von Suttner dafür, den Begriff »Friedensfreund« durch »Pazifist« zu ersetzen, um sich von „anderen platonischen Freunden des Friedens“ zu unterscheiden.

1905 Bertha von Suttner erhält als erste Frau den Friedensnobelpreis.

1907 Der Kongress der II. Internationale (mit Delegierten aus 23 Ländern) beschließt in Stuttgart eine Resolution, die die Arbeiter aller Länder aufruft, mit allen Mitteln gegen Militarismus und Kriegsgefahr zu kämpfen. Pazifistische Konzepte erreichen die Arbeiter- und sozialistische Bewegung.

1908 A.H. Fried propagiert einen »wissenschaftlichen Pazifismus« (vielfach auch »revolutionärer Pazifismus« genannt), um stärker die Ursachen der Gewalt (Kriege) ins Visier zu nehmen. Er kritisiert damit auch die Position Bertha von Suttners, die zu stark auf Gefühl und Moral setze.

1910 Der Kongress der II. Internationale in Kopenhagen bekräftigt die Beschlüsse des Stuttgarter Kongresses von 1907 gegen Militarismus und Kriegsgefahr und ruft alle sozialdemokratischen Parteien auf, sich für eine allgemeine Abrüstung und obligatorische Schiedsgerichte zur Lösung internationaler Konflikte einzusetzen.

1910 Mahatma Gandhi wird zum politischen Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Der von ihm propagierte gewaltfreie Widerstand, verbunden mit Aktionen des zivilen Ungehorsams und Hungerstreiks, führt 1947 zur Unabhängigkeit Indiens.

1913 Ein Außerordentlicher Kongress der II. Internationale bestätigt in Basel die Antikriegspositionen der beiden vorhergegangen Kongresse und ruft die Sozialisten aller Länder auf, „der kapitalistischen Welt der Ausbeutung und des Massenmordes die proletarische Welt des Friedens und der Verbrüderung der Völker“ entgegenzustellen.

1914 Auf dem Deutschen Friedenskongress setzt sich Ludwig Quidde für eine Verbindung der Positionen des »wissenschaftlichen Pazifismus« mit denen des »moralischen Pazifismus« ein.
Nach der Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich verlässt die deutsche Sozialdemokratie die Antkriegsposition der früheren internationalen Kongresse und stimmt am 4. August den Kriegskrediten zu. Bei einer zweiten Abstimmung im November beugt sich Karl Liebknecht nicht mehr der Parteidisziplin und stimmt als einziger Abgeordneter dagegen.

1918 Rechtsextreme Kräfte werfen den Pazifisten nach dem Ersten Weltkrieg Landesverrat vor. Kurt Eisner (1919), Hans Paasche (1920), Alexander Futran (1920) u.a. werden ermordet, einige entgehen nur knapp Attentaten.

1920 Kurt Hiller gründet die Gruppe »Revolutionärer Pazifisten«, der auch Kurt Tucholsky beitritt.

1922 Zusammenschluss von 13 deutschen Friedensorganisationen zum »Deutschen Friedenskartell«, das 1928 rund 100.000 Mitglieder repräsentiert.

1927 Ludwig Quidde erhält zusammen mit Ferdinand Buisson, Mitbegründer der Französischen Liga für Menschenrechte, den Friedensnobelpreis.

1933 Die DFG wird bereits im Februar verboten und die Pazifisten gehören im Dritten Reich neben Kommunisten und Sozialdemokraten zur Gruppe der politisch Verfolgten. Viele von ihnen – wie Carl von Ossietzky, Kurt Hiller, Paul von Schoenaich und Gerhard Seger – werden inhaftiert. Andere, wie Albert Einstein, Kurt Tucholsky, Ludwig Quidde, Helene Stöcker, können sich der Verfolgung nur durch Exil entziehen.

1935 Kurt Tucholsky fordert aus dem schwedischen Exil eine entschlossenere Haltung der Westmächte gegenüber dem deutschen Faschismus: „Boykott. Blockade. Innere Einmischung in diese Barbarei, ohne Krieg zu führen.?
Der Friedensnobelpreis wird an Carl von Ossietzky verliehen.

1939-45 Der Zweite Weltkrieg zerstört alle Hoffnungen auf friedliche Konfliktbeilegung; die Niederlage Nazi-­Deutschlands und der Achsenmächte ­öffnet den Weg zur Gründung der Vereinten Nationen. Die Charta der Vereinten Nationen setzt erstmals die Sicherung des Weltfriedens als ein anerkanntes Völkerrechtssubjekt auf die Agenda.

1945 Der Atombombeneinsatz der US-Führung auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki wird zum Fanal für den Beginn der Anti-Atombewegung (Atompazifismus) und eröffnet zugleich eine neue Front: den Ost-West-Konflikt in Gestalt des Kalten Krieges.

1947 Gründung der »Internationale der Kriegsdienstgegner« (IdK) als deutschen Zweig der »War Resisters' International« (1921). Die antimilitaristische Organisation fusionierte 1968 mit der »Deutschen Friedensgesellschaft« zur DFG-IdK und diese 1974 mit dem »Verband der Kriegsdienstverweigerer« (VK) zur DFG-VK.

1952 Willi Agatz, Manfred von Brauchitsch, Wilhelm Elfes, Edith Menge u.a. gründen einen Ausschuss für die Durchführung einer Volksbefragung gegen die Remilitarisierung und für den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland. Die Initiative wird von der Bundesregierung verboten.

1956 Parallel zur Bildung der Bundeswehr und zur Einführung der Wehrpflicht entsteht die »Ohne-mich«-Bewegung, getragen vor allem von den Kriegsdienstverweigern. Im gleichen Jahr setzt Zukunftsforscher Robert Jungk mit seinem Werk »Heller als Tausend Sonnen – Das Schicksal der Atomforscher« ein Signal für die Friedensverantwortung der Wissenschaftler.

1957 Die »Göttinger 18«, eine Gruppe Atomforscher aus der BRD – unter ihnen Carl Friedrich von Weizsäcker und die Nobelpreisträger Max Born, Otto Hahn und Werner Heisenberg –, wenden sich in einem Appell gegen die beabsichtigte Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen (Kontroverse um zivile vs. militärische Nutzung). Es folgen erste größere Aktionen im Rahmen der Bewegung »Kampf dem Atomtod«.

1955 Russell-Einstein-Manifest gegen die Folgen der Nuklearrüstung; Grundstein für die Pugwash-Konferenzen.

1958 Erster Ostermarsch der britischen »Campaign for Nuclear Disarmament« (CND) von London zum Atomforschungszentrum Aldermaston.

1960 Angelehnt an das britische Vorbild findet in der BRD der erste Ostermarsch gegen die atomare Bedrohung statt. In den Folgejahren kommen als Themen der Kampf gegen den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze dazu. Die Tradition der deutschen Ostermärsche wird 1969 unterbrochen; im Zuge der Entspannungspolitik unter Willy Brandt kommt es Ende der 1970er Jahre zu einer Wiederbelebung mit vielfältigen weiteren Aktionen, die sich gegen ein erneutes Wettrüsten im Kalten Krieg wenden (u.a. gegen die Neutronenbombe und den »NATO-Doppelbeschluss« von 1979).

1980 Verabschiedung des »Krefelder Appell« gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Europa. Zu den Initiatoren zählen Martin Niemöller, Helmut Ridder, Gösta von Uexküll, Petra Kelly und Gert Bastian (bis 1983 über sechs Millionen Unterschriften).1980-1983 – Die Atomrüstung und die Abschreckungslogik des Kalten Krieges dominieren die außen- und innenpolitische Debatte; Westeuropa und USA erleben die breiteste Friedensbewegung mit Großdemonstrationen in Bonn, Amsterdam, New York u.a. (Teilnehmerzahlen zwischen 300.000 und eine Million). Es entstehen neue Protestformen des Zivilen Ungehorsams (Menschenketten, Blockaden, Sitzstreiks); pazifistische Positionen auch in Gestalt eines (internationalen) friedenswissenschaftlichen »Gegenexpertentums« (Pugwash, Naturwissenschaftler-, Mediziner-, Juristen-, Pädagogen- und andere Initiativen) werden gesellschaftlich relevant und politisch zeitweise mehrheitsfähig.
Die sozialliberale Bundesregierung scheitert an der Raketenfrage, die Grünen ziehen in den Bundestag ein, die neue Kohl-Genscher-Regierung setzt im Herbst 1983 die Raketenstationierung gegen die öffentliche Meinung durch.

1985 Die »Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges« (IPPNW) erhalten den Friedensnobelpreis.

1987-90 Mit der Unterzeichnung des Mittelstreckenvertrages (INF) im Dezember 1987 wird, durch weitreichende Zugeständnisse des sowjetischen Generalsekretärs Michael Gorbatschow vorbereitet, eine wichtige Forderung der Friedensbewegung späte Realität und ein Ende der Blockkonfrontation eingeleitet; die Charta von Paris (1990) besiegelt eine Ära der Hochrüstung und zugleich eines rational neu begründeten Pazifismus.

Seit den 1990er Jahren mit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien, besonders seit dem Kosovokrieg 1999 und dem Völkermord in Ruanda 1994, sind Fragen des Menschenrechtsschutzes und der Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt zu einer neuen Herausforderung internationaler Politik geworden.

Mit dem Erstarken des transnationalen Terrorismus und dem »war on ­terror«, wie er seit 2001 unter US-Führung etabliert wurde, erleben wir sowohl eine Erosion des Völkerrechts als auch Versuche einer neuen Normensetzung (u.a. durch die »Responsibility to Protect/Schutzverantwortung«). Im Gefolge so genannter »neuer Kriege« nach dem Kalten Krieg wurden aber auch neue Erfahrungen mit Friedensschlüssen gemacht.

Pazifistinnen und Pazifisten sind gefragt, in diese Kontexte kreative Impulse einer zivilen Streit(beilegungs)­kultur einzubringen.

Zusammengestellt von Corinna Hauswedell und Jürgen Nieth

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/1 Facetten des Pazifismus, Seite 22–24