Eine Reise, von der ich noch nicht zurück bin
von Ralf-Uwe Beck
Vor fünf Jahren begann eine Reise, von der bin ich noch immer nicht zurückgekehrt. Sie dauert noch. Ich merke das, je mehr ich mich auf die Bitte der Redaktion einlasse, einen Reisebericht zu schreiben. Viel zu lange her, versuche ich den Anruf loszuwerden. Trotzdem, schreib, heißt es. Ich motiviere mich damit, den Text mit einer Kontonummer enden zu lassen, so wie immer seit fünf Jahren.
3. Oktober 1991. Das Land schläft seinem neuen Feiertag entgegen. Und wir treffen uns kurz nach Mitternacht in einem Kleinbus, randvoll mit Medikamenten, Gerhard Kuder, Professor im Ruhestand und Vorsitzender der Christlichen Aktion Mensch-Umwelt, Manfred Bäurle, Geschäftsführer dieses kleinen Vereins und ich. Wir verlassen dieses Deutschland in Richtung Osten – das vernünftigste, so meinen wir, was mit diesem neuen Feiertag anzufangen ist.
In Kiew sollten wir erwartet werden. Aber die Frage nach dem nächsten Telefon 100 km vor Kiew, um uns anzukündigen, hatte ein Tankwart mit der Bemerkung beantwortet „70 km von hier“; nur hatte er die Straße entlang gezeigt, die wir gerade gekommen waren. Also weiter und eben nicht angekündigt nach Kiew.
Nach 40 Stunden Fahrt non stop sind wir endlich da, keine Ahnung wo genau. Müde wie noch nie überfahre ich eine rote Ampel. Und die Miliz, die immer und überall ist, pfeift uns aus dem Verkehr. Zwei Worte nur stottern wir der Strenge entgegen: „Medikament – Tschernobyl“. Das genügt. Von da an hatten wir unsere Lotsen durch die 3 Millionen-Einwohner-Stadt. Sie bringen uns zur Klinik Nr. 14.
Ich, noch immer an DDR-Uniformierte gewöhnt, brauche wohl am längsten, bis ich begreife, daß wir zum Abschied nicht ein Strafmandat ausgestellt bekommen, sondern umarmt werden. Wir sind wirklich da. Mitten in Kiew. Und mittendrin in dem, was mit Tschernobyl seinen Namen hat.
Ausladen. Währenddessen kommen sie dann alle nacheinander. Sie hatten über der Einfallstraße in einem Polizeibeobachtungsturm gesessen, schon den ganzen Tag, und auf uns gewartet. Blumen und Umarmungen, Wodka und Kaffee. Nur die Reihenfolge ändert sich hin und wieder.
Die Tage danach sind randvoll. Wir besuchen zunächst die Kliniken und zuerst die Klinik Nr. 14, die hämatologische Abteilung. Dr. Lifschits geht mit uns von Bett zu Bett. Kinder. Kleine und größere. Und die Mütter. Ihre Gesichter sind zerbrechlich geworden, wie Glas, über den Krankheitsgeschichten ihrer Kinder. Leukämie und immer wieder Leukämie. Die meisten Kinderköpfe sind kahl. Die Chemotherapie hat ihnen die Haare genommen.
Die Therapieprogramme sind nicht gesichert. Wären sie's, hätten die Kinder Heilungschancen wie in einer Klinik in Deutschland, 65 von 100 würden geheilt werden können. Und wie viele werden geheilt, wenn die Medikamente nicht geliefert werden? Dr. Lifschits zuckt mit den Achseln, nicht sehr viele.
Neben all dem anderen Mangel auch der an Platz. Jeder Quadratmeter ist genutzt. Mehr noch. Was wir erst sehr viel später erfahren: die Mütter legen sich abends zu ihren Kindern ins Bett. Sie auch noch unterzubringen, ist unmöglich.
Das radiologische Zentrum in Kiew. Kinder, die Angst haben, allein in einem Raum zu sein, die zu Bettnässern geworden sind, die die Evakuierungen erlebt haben. Ich stelle mir vor, meiner Tochter am Tag nach Bekanntwerden der Katastrophe erklären zu müssen, daß die ihr so vertraute Sandkiste, das Klettergerüst, ihr Ball ihr jetzt gefährlich werden können. Wie sollte sie das verstehen können?
Schilddrüsenerkrankungen. Schilddrüsenkrebs. Und wieder Leukämie. Und dann ein neues Wort, eines das ich noch oft hören werde, oft in Verbindung mit anderen Krankheiten, dazugesetzt, ungewohnt, das aber einiges erklären soll: Tschernobyl-Aids. Eine extreme Immunschwäche, verursacht durch radioaktive Strahlung. Die Ärztinnen und Ärzte haben kaum Erfahrungen, wie mit all dem umzugehen ist, woher auch.
Wir fahren nach Irpen, eine Stadt ganz nah an Kiew. Sandwege zwischen Kiefern und bald auch ein Flachbau. Die Kinderklinik. Manfred Bäurle und Gerhard Kuder waren schon einmal hier, um Kontakte zu knüpfen. Der Empfang war nicht der freundlichste – damals. „Ihr aus dem Westen, immer besucht ihr uns, die ärmste Klinik in der Gegend. Und immer machen wir uns Hoffnungen und nie kommt einer wieder.“ Keine Blutdruckmeß-Manschetten für Kinderarme. Kaum Verbandsmaterial, kaum Medikamente, von den Neonröhren an der Zimmerdecke brennt nur noch eine, unter den Rohren in den Toiletten stehen Blechbüchsen. Wir laden aus.
Die Abende verbringen wir bei Freunden, den Sonntag mit ihnen auf dem Land. Ina hat Mühe, uns den schwarzen Humor zu übersetzen, sie will es wohl auch nicht. „Ich werde mit zwei Köpfen wiedergeboren“, sagt einer, während er in eine Traube Sanddornbeeren beißt – und keine Mine verzieht. „Soll dem Körper helfen, sagen die Leute, mit der Radioaktivität fertig zu werden – viel Vitamine.“ Liquidatorinnen und Liquidatoren alle. Ich lerne eine Maßeinheit kennen: Rem – beschreibt den Zusammenhang zwischen der Dosis Radioaktivität, die jemand abbekommen hat, und der Wahrscheinlichkeit, daß eine Strahlenkrankheit ausbricht. Zur Orientierung, 500 Rem bedeutet zu 50% den Tod und 1.000 Rem zu 100%. „Ich habe 120, ich 140, meine Kinder 44.“ Es sind 600.000 Frauen und Männer. Sie waren eingesetzt, die Zone freizuräumen, einzuzäunen, die Dörfer abzureißen, den Unfallsreaktor zu sichern und so weiter. Sie haben zumeist ohne Schutz vor der Strahlung gearbeitet. Damals waren es Helden. Heute sind sie unbequem und ein Makel in jeder Krankheitsstatistik.
Einige Zeit später kommt mir das Buch „Die Wahrheit über Tschernobyl“ in die Hände. Geschrieben von Tschernousenko, dem Chef der 600.000. Bilder von Männern, die in einem Tunnel unter dem Reaktor arbeiten. Die Schutzanzüge haben sie beengt in dem Schacht. Sie haben sie ausgezogen. Ein Foto mit Männern in Zelten, irgendwo in der Zone. Das Foto selbst ist weißgesprenkelt von der Strahlung.
Radioaktivität kann man nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken, nicht fühlen. Radioaktivität ist still wie der Tod.
Radioaktivität kann man nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken, nicht fühlen. Radioaktivität ist still wie der Tod. Wir wollen in die Zone, näher an die Ursache, dorthin, wo am 26. April 1986 begann, was gemeinhin nur noch Tschernobyl genannt wird. Das ist es, was wir zuerst verstanden haben, daß die Katastrophe von Tschernobyl nicht einfach am 26. April 1986 passiert ist, sondern daß sie an diesem Tag begann und daß sie immer dauern wird. Immer.
„Wir fahren übermorgen 7 Uhr.“ Die Passierscheine waren besorgt. Und von da an war ich es auch und hatte mit einem flauen Gefühl in der Magengegend zu tun. Vor uns die Karten, die über Farbnuancen ausweisen, wie verseucht das Gelände ist. Von hellgelb bis tiefrot. Was bedeutet es, sich der Gefahr einer Strahlendosis auszusetzen und sei sie noch so gering? Ich merke, was das heißt, Radioaktivität kann man nicht sehen, nicht…
100 km nördlich von Kiew tauchen die ersten Schilder auf, die auf eine »zapretnaja zona« hinweisen, eine verbotene Zone. Die Straße wird vor einem Schlagbaum zur Sackgasse. Nach links und rechts, soweit ich sehen kann, Stacheldraht. Natalie bedeutet uns, auf dem Asphalt zu bleiben und nicht in den Staub am Straßenrand zu fahren. Wir lassen den Bus zurück. Die Zone hat ihre eigenen Fahrzeuge, gestempelt mit »zona«.
Tschernobyl. Eine Stadt. 800 Jahre alt. 12.000 Menschen haben hier gelebt. Evakuiert Anfang Mai '86. Jetzt ist die Stadt nur noch Arbeiterwohnunterkunft.
Die 6.000 im Kraftwerk Beschäftigten wohnen hier, immer für zwei Wochen, dann fahren sie für zwei Wochen nach Hause. Die Straßen werden mehrmals täglich mit Wasser abgesprüht, um sie zu entaktivieren. Die Stadt zerfällt.
Noch 15 km bis zum Kraftwerk, dann stehen wir vor dem Sarkophag. Der Unfallreaktor ist eingegossen in eine Million Tonnen Beton. Das Dach besteht aus aneinandergelegten Rohren. Risse über Risse. Der Klotz ist marode, längst nicht sicher. Die Katastrophe von Tschernobyl begann am 26. April 1986, sie dauert an.
In Sichtweite des AKW: Pripjat – »Stadt der AKW-Arbeiter«. Der Baustil verrät sie als junge Stadt, entstanden mit dem Kraftwerk. Neubaublocks. Kaufhallen. Ein Hotel. Das Riesenrad für die Maifeiern. Überall hohes Gras. Menschenleer. Wie oft habe ich dieses Wort schon gesagt, angesichts eines Platzes, über den nur ich gehe oder eines Restaurants ohne Gäste. Hierher gehört das Wort wirklich. Es ist niemand da. Pripjat ist am 27. April '86 evakuiert worden, vollständig. Hier wohnt auch keine Arbeiterin, kein Arbeiter mehr. Stadt mit Verfallsdatum. Eine Stadt ohne Geräusche. So groß wie die Stadt, in der ich zu Hause bin, mit 40.000 Einwohnern. Jurij zählt mit uns bis in die fünfte Etage eines Hauses. Dort haben sie gewohnt, seine Frau, die beiden Kinder. Dann redet niemand mehr. Ein Schaufenster ist dekoriert für den 1. Mai 1986. Da steht „trud, mir, mai“ – Arbeit, Frieden, Mai. Am 1. Mai '86 war niemand mehr da. Ewiges Riesenrad.
Wir verlassen die Zone und einen Tag später das Land. Zum ersten Mal fällt mir auf, daß bei Ortsausgangsschildern die Namen rot durchgestrichen sind. „Tschernobyl“ steht da, rot durchgestrichen.
Ein Jahr danach sind wir wieder da. Diesmal mit einer Iljuschin 76 und 40 t Hilfsgütern an Bord. Oberst Kuschnin, Pilot und früher beteiligt bei der Sicherung des Unfallsreaktors, hatte die Maschine besorgt. Sie war auf der US-Air-Base Rhein-Main gelandet, dort beladen worden und wieder gestartet. Von einem Militärlager in Kiew aus verteilen wir. Wir brauchen eine Woche. Die Krankenhäuser haben Mühe, einen LKW zu schicken.
Frauen kommen zur Lagerhalle, betteln um Medikamente. Die Kinderärztin der Klinik in Irpen erzählt uns, sie habe in den letzten Jahren kein Kind in der Praxis gehabt, dessen Schilddrüsen nicht erweitert waren. Eine Krankenschwester zeigt uns, wie sie Multivitamintabletten, hergestellt für Erwachsene, mit einem Messer auf einem Holzbrett zerkleinert.
Für die CAMU, die Christliche Aktion Mensch-Umwelt, waren dies die ersten Hilfstransporte. Bis heute sind es 28. Die CAMU konzentriert sich mittlerweile ausschließlich auf die Klinik Nr. 14. Dort werden ein Viertel aller neuen Leukämiefälle in der Ukraine behandelt – mit Heilungschancen, als würden die Kinder in Deutschland behandelt werden. Die Therapieprogramme sind abhängig von dem, was die CAMU zu liefern vermag und dies wiederum ist abhängig von Spendengeldern. Geliefert wird nur, was Dr. Lifschits bestellt. Direkt, nicht pauschal. Jede Mark wird in Medikamente umgesetzt. Und die kommen dort an, wo sie gebraucht werden.
Ich hatte es angekündigt, mit einer Konto-Nummer zu enden, mit der der CAMU: 410 10 49, bei der Evangelischen Kreditgenossenschaft Frankfurt, BLZ 500 605 00.
Ralf-Uwe Beck ist Umweltbeauftragter der Evang.-Luth.Kirche in Thüringen un d stellv. Bundesvorsitzender des BUND