W&F 2012/3

Eine unbequeme Vagheit

UN-Studie zu Klimawandel und Migration

von Marie Mualem Sultan

Fragen nach den Sicherheitsimplikationen des anthropogenen Klimawandels bilden ein Querschnittthema der internationalen Umweltpolitik. Im Mittelpunkt stehen mögliche Zusammenhänge von Flucht, Migration und Gewaltkonflikten. Gerade weil diese Debatte ebenso brisant wie berechtigt ist, verbietet sich jede oberflächliche Zuspitzung in quantitativen Szenarien oder monokausalen Argumentationen, die lineare Ursache-Wirkungs-Muster nahe legen. Der nachstehende Beitrag zeigt, dass ausgerechnet das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) für einen solchen Umgang mit dem Problemkomplex kritisiert werden muss.

Die unter Federführung des UNEP durchgeführte und 2011 auf der internationalen Klimakonferenz in Durban präsentierte Studie » Livelihood Security. Climate Change, Migration and Conflict in the Sahel« über die Beziehung zwischen Klimawandel, bedrohten Lebensgrundlagen, Migration und Konflikten in der Sahelzone (UNEP 2011) ist methodisch völlig unzureichend. Als besonders schwerwiegend erweist sich die weitreichende Abstraktion von jeder sozioökonomischen, politischen und kulturellen Heterogenität im Untersuchungsgebiet. Unter dem Primat der Klimavariabilität lenken die politischen Handlungsempfehlungen dadurch von der Problematik globaler Macht-Asymmetrien und neokolonialer Ressourcenallokation ab. Mit anderen Worten: Die Sahel-Studie schüttet das Kind mit dem Bade aus.

Um diese Kritik zu fundieren, gliedert sich der Artikel wie folgt: Der erste Teil stellt Methode und Inhalt der Sahel-Studie vor. Der zweite Teil problematisiert argumentative Schwachstellen und die Rhetorik der Studie im Hinblick auf die darin enthaltenen Weltbilder. Ein Exkurs über den strategischen Einsatz von Mythen leitet über zu den abschließenden Diskussionsthesen hinsichtlich der Leerstellen der UN-Studie.

Inhalt und Methode der Sahel-Studie

Die Untersuchung versteht sich als Beitrag zur Grundlagenforschung über die durch den Klimawandel verursachten Gefährdungen und Bewältigungsstrategien von „auf natürliche Ressourcen angewiesenen“ (UNEP 2011, S.13) Subsistenzgemeinschaften und Kleinbauern in 17 westafrikanischen Subsahara-Staaten. Den regionalen Fokus begründet die Studie mit den Prognosen des Weltklimarats (IPCC). Demnach werden die Staaten der Sahelzone besonders von den negativen Umweltveränderungen durch den Klimawandel betroffen sein (ebd. S.4). Außerdem sei die Region seit Jahrzehnten mit kumulativen Herausforderungen konfrontiert, zuvorderst ein „beträchtliches Bevölkerungswachstum (im Durchschnitt drei Prozent jährlich)“ (ebd. S.5), wobei 80 Prozent der Bevölkerung „für ihre Existenzsicherung direkt auf natürliche Ressourcen angewiesen“ (ebd. S.5) seien. Auf der Grundlage des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf konstatiert die Sahel-Studie außerdem „strukturelle Armut“ (ebd. S.17). Hinzu kommen „Ernährungsunsicherheit und chronische Instabilität“ (ebd. S.7). Die Ergebnisse der Studie sollen probate Handlungsempfehlungen liefern für „gegenüber Konflikt und Migration sensibilisierte Anpassungsprogramme, Investitionen und politische Maßnahmen in der Region“ (ebd. S.13).

Zu diesem Zweck wurde eine historische Trendanalyse (1970-2006/2009) zur Klimavariabilität beim Zentrum für Geoinformatik der Universität Salzburg (Z_GIS) in Auftrag gegeben. In einer digitalen Kartographie wurden hierbei 19 regionale Brennpunkte (hotspots) erhöhter Klimavariabilität identifiziert. Die Z-GIS-Analyse berücksichtigte vier Indikatoren: Niederschlag und Temperatur sowie das Auftreten von Dürren und Überschwemmungen. Zusätzlich wurden Hochrechnungen über den Anstieg des Meeresspiegels berücksichtigt. Um die „Beziehung zwischen Klimawandel, Migration und Konflikt“ (ebd. S.13) zu untersuchen, wurde jede Karte mit zwei „zusätzlichen Ebenen“ (ebd.) versehen, die für denselben Zeitraum analoge Daten und Koordinaten zur Bevölkerungsentwicklung und zum Auftreten von Konflikten liefern sollen.

Die Brennpunkte befinden sich demnach in Mauretanien, Niger, Burkina Faso, Ghana, Togo, Benin, Nigeria und Tschad (ebd. S.52). Hinsichtlich der Daten zu Bevölkerungsentwicklung und Konfliktkonstellationen stellt die Studie fest: „In zahlreichen Gebieten, die als hotspots identifiziert wurden, ist die Bevölkerung gewachsen […]. Die Daten über Konflikte zeigen, dass Regionen mit umfangreichem Konfliktgeschehen, insbesondere Tschad und Niger, von klimatischen Veränderungen betroffen sind“ (ebd. S.53). Auf die quantitative Analyse folgt eine kurze Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand über klimabezogene Konflikte und Migrationsmuster in der Sahelzone, wobei die positiven und negativen Effekte von Migration vor dem Hintergrund ihrer mutmaßlichen Bedeutung für die politische Stabilität und die wirtschaftliche Entwicklung abgewogen werden (ebd. S.54-64).

Die Sahel-Studie betont auf dieser Basis einerseits den weiteren Forschungsbedarf und andererseits die Validität ihrer Ausgangshypothesen. In der »Executive Summary« übernimmt die Studie das Bild von der Sahelzone als „ground zero“ (ebd. S.7) des Klimawandels. Es wird nachdrücklich für Investitionen in die Modernisierung und wirtschaftliche Entwicklung der Region geworben. Es gelte Arbeitsplätze zu schaffen und die Umgestaltung nach dem Vorbild einer „green economy“ (ebd. S.74) voranzutreiben. Unabhängig vom Inhalt stellt sich hier aber die Frage: Genügt der Schlüsselindikator Klimavariabilität überhaupt zur Beurteilung der Handlungserfordernisse in einer geographisch wie kulturell und sozioökonomisch extrem heterogenen Region aus 17 souveränen Staaten mit einer Gesamtfläche von 7,4 Millionen Quadratkilometern? Zum Vergleich: Die Gesamtfläche der 27 Staaten in der Europäischen Union beträgt 4,3 Millionen Quadratkilometer.

Jedenfalls bleibt die Auszeichnung als wissenschaftliche Studie in den Reaktionen auf die Veröffentlichung der Sahel-Studie bis dato unwidersprochen. Erstaunlich sind dabei Beurteilungen wie in dieser Titelzeile einer Meldung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN): „UN-Studie belegt den Zusammenhang von Klimawandel, bedrohten Lebensgrundlagen und Migration“ (Kürschner-Pelkmann 2011). Diese Einschätzung übersteigt selbst die in der Sahel-Studie angegebene Zielsetzung. Solche Diskrepanzen sind unter anderem deshalb möglich, weil die normativen Grundlagen, auf denen die Studie aufbaut, eine große Wirkungsmacht und Eigendynamik zu entfalten vermögen. Sobald diese Denkmaßstäbe umgekehrt kritisch analysiert werden, verschwindet der Neuigkeitswert der Sahel-Studie in einem wahrheitsfunktionalen Zirkelschluss. Prämissen und Konklusion stehen dann nicht in einem Verhältnis zueinander, sondern sind identisch. Anders ausgedrückt: Wer das Weltbild der Studie schlüssig findet, beurteilt auch die Argumentation als schlüssig. Wer aber Nachfragen zur Auswahl der Prämissen hat, findet erst gar keine Argumentation. Eine wichtige Variable zum Verständnis dieses Weltbildes ist eine Auffassung, nach der naturwissenschaftliche Messmethoden objektive Wahrheitsinstanzen darstellen.

Denksysteme und Mythen

Offenbar wird noch immer unterschätzt, wie subjektiv Zahlen sein können. Oder konkret in Bezug auf die Sahel-Studie: Die Erfolgsbedingung einer Manipulation durch Karten ist die Vernachlässigung der Tatsache, dass geographische Repräsentationen immer auch Machtverhältnisse und Deutungshoheiten widerspiegeln. Die »pars pro toto«-Idee von der Verlässlichkeit und Objektivität allgemeiner Gesetzmäßigkeiten unterminiert auch die als Ergänzung zum quantitativen Messverfahren gedachte Auseinandersetzung der Sahel-Studie mit dem Forschungsstand. Nach einer induktiven Wahrscheinlichkeitslogik werden hier Überlegungen zur »push/pull«-Dynamik angestellt. Die Kernfrage lautet: Wie lässt sich der Einfluss physisch-materieller Umweltfaktoren auf das menschliche Verhalten gegenüber soziokulturellen Aspekten vergleichend gewichten? Der Gedankengang ist nachvollziehbar. Dennoch beruht die Untersuchung unverändert auf dem Alleinstellungsmerkmal Klimavariabilität. Soziokulturelle Kontexte bilden entgegen dem Anschein keinen Bestandteil der Argumentation.

Dass die acht sowohl thematisch als auch im Hinblick auf ihren Informationsgehalt heterogenen lokalen „Fallbeispiele“ in kurzen Textboxen stehen, unterstreicht unfreiwillig die Schwierigkeit, sie in einen sinnvollen Bezug zum Fließtext oder zu den GIS-Karten zu stellen. Letztlich bleibt die deterministische Rhetorik das einzige konsequente Motiv der Sahel-Studie. Dessen sind sich die Urheber bewusst. Aus diesem Grund wird der Duktus der Studie hin und wieder wie folgt relativiert: „Es soll in keiner Weise behauptet werden, der Klimawandel wirke als einziger oder isolierter Faktor auf Migration und Konflikt. Ebenso wenig besteht die Absicht darin, einen direkten Kausalzusammenhang zwischen diesen drei Problemen aufzuzeigen. Klimawandel, Migration und Konflikt sind vielmehr über komplexe Einflussfaktoren miteinander verkettet, zum Beispiel ökonomische, soziale und politische Aspekte“ (ebd. S.8). Leider legen solche Versicherungen indirekt nahe, die reduktionistische Herangehensweise sei irgendwo doch legitim. Die Botschaft lautet schließlich überspitzt formuliert: Das Untersuchungsdesign ist nicht so gemeint, wie es wirkt und daher auch nicht so unverhältnismäßig, wie es scheint.

Diese Irritation lenkt die Aufmerksamkeit auf den strategischen Einsatz von Mythen. Wichtig ist die Vorbemerkung, dass der Begriff Mythos in der hier intendierten wissenschaftstheoretischen Verwendung keine Aussage zum Wahrheitswert beinhaltet. Im Mittelpunkt steht die Funktion von Mythen, die zunächst allgemein Sinn stiftende Integrationselemente von Gesellschaften darstellen. Das entscheidende Merkmal des Mythos ist aber in der Tat eine axiomatische Anziehungskraft, die ihn anfällig für ideologischen Missbrauch macht und gleichzeitig zuverlässig gegen rationale Argumente imprägniert. Mythen können Diskurse vollständig und dabei unbemerkt einnehmen – sie werden zu unhinterfragten und wirkungsmächtigen Autoritäten. In diesem Sinne erscheint auch das in der Sahel-Studie transportierte bipolare Weltbild beinahe mythisch: Auf der einen Seite die »modernen Industrienationen« und im krassen Gegensatz dazu ein ebenso einheitlich gedachter Block »vormoderner Entwicklungsländer«. Diese Fiktion trägt erheblich dazu bei, dass der Studie ein Erkenntniswert zugebilligt wird, obwohl die multidimensionalen soziokulturellen, politischen und ökonomischen Kontexte im Untersuchungsgebiet nicht berücksichtigt wurden.

Dieser binäre Unterton, nach dem die westliche Sahelzone weitgehend als geographische Entität erscheint, kann unter den Bedingungen einer staatszentrierten internationalen Politik überdies als Provokation gewertet werden. Das dürfte der Grund sein, warum sich Herausgeber und Trägerorganisationen im Impressum von jeder Lesart distanzieren, die die territoriale Integrität der Einzelstaaten im Untersuchungsgebiet untergräbt – obwohl sie es de facto tut.

Abschließend soll jedoch ein im »klassischen« Sinne anerkannter Mythos aus der Sahel-Studie beleuchtet werden, und zwar die in neo-malthusianischer Manier als apokalyptische Bedrohung für jede staatliche Ordnung modellierte Sorge vor »Überbevölkerung«.

Was ist »Überbevölkerung«?

Es wurde gezeigt, dass die Sahel-Studie schon zur Begründung ihres konzeptionellen Rahmens auf ein problematisches Bevölkerungswachstum verweist. Der „demographische Druck“ (ebd. S.12) gilt als wichtiger nicht klimatischer Stressfaktor neben sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren. Aber was ist demographischer Druck jenseits dieser Kenngrößen? Besitzt der Begriff als absolute Größe überhaupt eine Substanz, die der Analyse zugänglich wäre? Wie viele Menschen sind zuviel? Wer ist in der Lage das zu entscheiden? Und was wären valide Bezugsgrößen eines relativen demographischen Drucks? Geht es um die Gesamtfläche des fruchtbaren Ackerlands, um die Auslastung des Arbeitsmarktes oder vielleicht um eine bestimmte Bevölkerungsstruktur (z.B. »youth bulge« oder Überalterung)? Die Begründungen in der Sahel-Studie sind unzureichend und bleiben es auch unter Zuhilfenahme der zitierten Quellen. Der Wirtschaftswissenschaftler Kiros Abeselom untersuchte 1995 in einem anderen Kontext die strategische Funktion vom »Mythos der Überbevölkerung« in der internationalen Entwicklungspolitik und kommt zu dem Schluss, dass es sich um ein „Mittel zur Wahrung der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen“ handelt (Abeselom 1995). Leider legen die Leerstellen in der Sahel-Studie eine ähnliche Funktion nahe.

Ist der Klimawandel das einzige Problem?

Die Sahel-Studie zeigt, wie wichtig eine Neugewichtung der Debatte ist, die die Gefahr geopolitischer und imperialer Machtstrategien mitdenkt. Nicht nur in der Sahel-Studie bildet der Klimawandel die einzige öffentlichkeitswirksam präsentierte globale Variable. Macht-Asymmetrien in der neoliberalen Globalisierung finden in der hegemonialen Debatte zu wenig Beachtung, obwohl entwicklungspolitische Fragestellungen jenseits von diesem Kontext nicht sinnvoll bearbeitet werden können (Delgado Wise et al. 2010). Simon Dalby verweist zu Recht auf die Pflicht, die selbstverständlichen Kategorien, Prämissen und Kosmologien in Diskursen zu hinterfragen (Dalby 2007). In der hegemonialen Debatte über Klimawandel, Migration und Konflikt besteht diesbezüglich ein immenser Nachholbedarf in Wissenschaft und Politik.

Besonders dringend erscheint die Auseinandersetzung mit neokolonialen Enteignungsprozessen, um hier abschließend lediglich ein Beispiel für die problematische Wirkung imperialer Strategien zu benennen. Dass dieser Punkt in der Sahel-Studie fehlt, ist völlig unverständlich, da offenbar jedes Land im Untersuchungsgebiet von ambivalenten Investitionen in seine Landwirtschaft betroffen ist und zahlreiche Widerstandsbewegungen und Organisationen auf die Problematik von »land grabbing« (Agrar-Kolonialismus) durch transnationale Unternehmen wie auch Staaten aufmerksam machen. „Unsichere Besitzverhältnisse“ (UNEP 2011, S.72) werden in der Sahel-Studie nur angedeutet und dabei als lokale Konflikte zwischen Viehhirten und Kleinbauern konzipiert. Dass ökologische Knappheit auch im Zusammenhang mit Addax Zuckerrohr-Biosprit, Michelins Kautschukplantagen oder für den Export produzierenden Reisplantagen im Niger-Delta entstehen könnte, bleibt ausgeblendet (Hoering 2007; GRAIN 2012). Dabei gehören Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität ebenso zusammen, wie das Recht auf Migration und das Recht auf Heimat.

Literatur

Abeselom, Kiros (1995): Der Mythos der Überbevölkerung als Mittel zur Wahrung der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen. Die theoretischen Grundlagen der UNO-Bevölkerungspolitik: malthusianische und neo-malthusianische Wurzeln. Bonn: Pahl-Rugenstein.

Dalby, Simon (2007): Anthropocene Geopolitics: Globalisation, Empire, Environment and Critique. In: Geography Compass, 1. Jg., Heft 1, S.103-118.

Delgado Wise, Raúl et al. (2010): Reframing the debate on migration, development and human rights: fundamental elements. Red International de Migración y Desarrollo/ International Network on Migration and Development .

GRAIN (Hrsg.) (2012): The Great Food Robbery: How Corporations Control Food, Grab Land and Destroy the Climate. Cape Town: Pambazuka Press.

Hoering, Uwe (2007): Agrar-Kolonialismus in Afrika. Eine andere Landwirtschaft ist möglich. Hamburg: VSA-Verlag.

Kürschner-Pelkmann, Frank: Sahel-Zone: Flucht vor den Folgen des Klimawandels. UN-Studie belegt den Zusammenhang von Klimawandel, bedrohten Lebensgrundlagen und Migration. 2011. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN).

United Nations Environmental Programme (UNEP) (Hrsg.): Livelihood Security. Climate Change, Migration and Conflict in the Sahel. 2011.

Marie Mualem Sultan ist Politikwissenschaftlerin am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen (KWI) im Forschungsbereich Klimakultur. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der Philipps-Universität Marburg untersucht sie Dispositive der Umweltmigrationsforschung aus sozial-ökologischer und wissenschaftstheoretischer Perspektive.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2012/3 Klimawandel und Sicherheit, Seite 23–25