Einfach nur: Zensur
Grenzen der Wissenschaftsfreiheit in Zeiten des Krieges
von Claudia Brunner1
Nicht nur rund um den Konflikt in Israel/Palästina herrschen öffentliche Sprechverbote und Denkgebote. Doch spätestens seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat das Diskreditieren, Intervenieren und Zensurieren unliebsamer Positionen eine neue Qualität und Quantität erreicht. In der im gleichen Atemzug beschworenen offenen Gesellschaft der liberalen Demokratie werden Intellektuelle und Akademiker*innen schnell zu deren Feind*innen erklärt, wenn sich ihre Worte nicht zur „Wissenschaft als Herrschaftsdienst“ (Pappé 2011) eignen.
Im August 2023 erreichte mich eine Anfrage von Deutschlandfunk Nova: Nach einer Hörer*innenbefragung des Wissenschaftspodcasts »Hörsaal« wünsche man sich einen Vortrag zum Thema »Epistemizid«, der organisierten und massenhaften Vernichtung von Wissen, die mit Genoziden und anderen gewaltförmigen Prozessen einhergeht. Selbst ein Fan von Podcasts, sagte ich gern zu und sprach, nach Vereinbarung eines Aufnahmetermins im Landesstudio Kärnten des ORF, Ende September über mein Forschungsthema »epistemische Gewalt«: zu einem nur imaginierten Publikum sowie einem realen Tontechniker, der sich angesichts des unverhofften Crashkurses in post- und dekolonialer feministischer Wissenschaftstheorie durchaus begeistert zeigte. Auf Wunsch einer Hörerin hatte ich die Problematik am Beispiel der sogenannten Hexenverbrennung illustriert, aber auch Bezüge zu anderen Genoziden und Epistemiziden im Verlauf des sogenannten »langen 16. Jahrhunderts« hergestellt und das Konzept der epistemischen Gewalt erklärt. Nach Ende des fast einstündigen Vortrags zeigte sich die akustisch anwesende Redakteurin sehr zufrieden. Ich selbst freute mich über ein – wie mir schien – gelungenes Experiment der Wissenschaftskommunikation und war neugierig auf das fertige Produkt sowie die Resonanz im virtuellen Hörsaal.
(Nicht) hören wollen und sollen
Mitte Oktober 2023 kontaktierte mich die Redakteurin in für mich überraschend reserviertem Ton betreffend die Veröffentlichung des Beitrags. Diese könne nämlich nur erfolgen, wenn ich der Streichung eines Satzes zustimmen würde.
Bei Vorträgen zu verwandten Themen entstehen stets interessante Diskussionen, und natürlich werden kritische Fragen zu Begriffen und Konzepten oder zur Forschungsperspektive und deren politischen Implikationen an mich gerichtet. Als Diskursforscherin ist mir auch durchaus bewusst, was Michel Foucaults »Räume des Sagbaren« bedeuteten, und als Feministin ist mir klar, welche Macht in Begriffen und Konzepten steckt. Bei der redaktionellen Bearbeitung von Publikationen wird bisweilen auch aus politischen Gründen um Formulierungen gerungen. Und selbst Erfahrungen mit Störaktionen bei Konferenzen und diffamierenden Rezensionen sind mir nicht fremd. Doch meine Worte faktisch zensuriert hatte in über 15 Jahren im universitär-akademischen Feld bislang noch niemand.
Da ich im Aufnahmestudio ohne schriftliches Manuskript frei gesprochen hatte, konnte ich mir keinen Reim darauf machen, welche konkrete Formulierung als der Öffentlichkeit dermaßen unzumutbar erachtet wurde, dass ich mich Wochen später von ihr nicht nur distanzieren, sondern ihrer Löschung zustimmen sollte. Also bat ich um die Zusendung der Transkription der als problematisch erachteten Passage.
Sprechverbote, Denkgebote
Es handelte sich um einen Satz, den ich so oder ähnlich schon unzählige Male verwendet und in dem meinen Vorträgen zugrunde liegenden Buch über epistemische Gewalt ausformuliert hatte (Brunner 2020, S. 39): Um den in der akademischen Fachdebatte gängigen Begriff der anhaltenden »Kolonialität« von jenem des historischen »Kolonialismus« abzugrenzen, verwies ich auch im Podcast auf den Historiker Robert Young. Er argumentiert, dass das politische System des Kolonialismus im Allgemeinen zwar als überwunden gelte, diese Lesart jedoch beispielsweise für Angehörige der First Nations in Nordamerika, für Sahrawis in der Westsahara oder für Palästinenser*innen in den von Israel besetzten Gebieten alles andere als plausibel sei (Young 2006, S. 3). Im Konjunktiv und als eines unter mehreren Beispielen hatte ich das vor allem im deutschsprachigen Raum scheinbar Unsagbare ausgesprochen: Israel und Kolonialismus.
Bereits vor dem 7. Oktober 2023 war es wenig opportun, faktisch Offensichtliches und analytisch Plausibles an- und auszusprechen, nämlich die völkerrechtswidrige Besatzung palästinensischer Gebiete. Bis dahin hätte ich mich als Autorin selbst für diese Feststellung rechtfertigen müssen – und können. Nunmehr meinte ausgerechnet die Redaktion eines multidisziplinären Wissenschaftspodcasts, die von ihnen selbst eingeladene – und gar nicht über Israel/Palästina sprechende – Vortragende aktiv zensurieren zu müssen, um nicht selbst die gefürchtetste aller Diskreditierungen auf sich zu ziehen: Antisemitismus.
Ich habe der Zensur nicht zugestimmt und mit offiziellen Dokumenten des Auswärtigen Amts und der Vereinten Nationen sowie mit einigen Verweisen auf die internationale akademische Fachdebatte geantwortet. Darin ist das vermeintliche Unwort »(Siedler-)Kolonialismus« ein analytischer Begriff, um den anhaltenden asymmetrischen Konflikt in Israel/Palästina angemessen zu verstehen.
Zwei Monate später wurde die Sendung schließlich doch noch – wie ich annehme, zähneknirschend – mit Verlinkung zu einem weiteren und diesbezüglich ambivalenzfreien Podcast veröffentlicht.
Unerwünschte Expertise
Massivere Auswirkungen hatte die zugespitzte »Begriffsverbotspolitik« in der Schweiz. Laurent Goetschel, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel und Direktor der Forschungseinrichtung »swisspeace«, hatte im vergangenen Herbst in einer Diskussionssendung des Schweizer Fernsehsenders SRF angemerkt, dass die seit Jahrzehnten im Raum stehende Zwei-Staaten-Lösung inzwischen wohl weder für Israel noch für die Palästinenser*innen eine realistische oder wünschenswerte Option sei. Daher wäre es doch angebracht, auch wieder über Modelle einer »Ein-Staaten-Lösung« nachzudenken, die in Forschung und Politik im Übrigen seit langem diskutiert wird. Alternativen zum Status quo zu debattieren halte ich für ein gutes Recht und auch eine sinnvolle Aufgabe der Wissenschaften, um systematisch Wege der Analyse und Transformation von territorialen Konflikten ausloten zu können.
Zu einem dieser Wege der Konfliktbearbeitung zählt die Beteiligung akademischer wie politischer Akteur*innen an Friedensprozessen vor allem auf nicht-öffentlichen diplomatischen Terrains. Um dies aus der Perspektive der neutralen Schweiz weiterhin gewährleisten zu können, ergänzte Goetschel, halte er auch nichts von der geforderten Einstufung der Hamas als terroristischer Organisation, mit deren Vertreter*innen dann nicht einmal gesprochen werden dürfe, und von deren Verbot in der Schweiz. Damit hatte der renommierte Friedensforscher offensichtlich gleich zwei rote Linien des nicht nur in Deutschland zur »Staatsräson« gewordenen, reflexartig pro-zionistischen öffentlichen Diskurses überschritten.
Es folgte eine mediale Schlammschlacht, und im Handumdrehen strich der Landrat des Kantons Basel-Landschaft die bereits vereinbarten Förderbeiträge an die von Goetschel geleitete schweizerische Friedensstiftung (Neue Zürcher Zeitung 2024).
(Un-)Freiheit der Lehre
Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt übt sich derweilen die Leitung der Universität Wien in der Einschränkung der Freiheit von Wissenschaft und Lehre in Bezug auf eine multiperspektivische Betrachtung Palästinas und seiner Geschichte, Kultur und Gegenwart. So wurde der Professorin Birgit Englert, die mit ihrer Habilitation über eine an der Universität Wien erlangte Lehrbefugnis – und damit über das dort auch inhaltlich frei auszuübende Recht auf Lehre – verfügt, zu Beginn des Sommersemesters 2024 untersagt, eine Ringvorlesung zum Thema „Palästina in globalen Zusammenhängen. Über Mobilitäten, Solidaritäten und Erinnerungskulturen“ in der von ihr, gemeinsam mit ihrer Kollegin Maya Rinderer, geplanten Form abzuhalten (Statement 2024a). Bereits eine Woche nach Ankündigung im Lehrveranstaltungsverzeichnis hatten sich über 50 Studierende für die Ringvorlesung angemeldet, bei der elf weitere Kolleg*innen zum Thema sprechen sollten.
Über Nacht verschwand das schon online einsehbare Vortragsprogramm von der Website der Universität Wien. Ohne öffentliche Rechtfertigung wurde von der langjährigen Mitarbeiterin der Universität Wien verlangt, zwei palästinensische Vortragende sowie ihre jüdische Co-Organisatorin aufgrund ihrer Beziehung zum antizionistischen jüdischen Kollektiv »Judeobolschewiener*innen« auszuladen. Weiters wurde gefordert, die Zahl der Teilnehmenden im Sinne eines geschlossenen Formats zu reduzieren sowie die sorgfältig geplante Ringvorlesung in kürzester Zeit auf ein Lektüre-Format umzubauen – und somit eine (universitäts-)öffentliche Debatte zu verhindern.
Da sich die Organisatorinnen ebenso wie beteiligte Vortragende gegen diesen unerhörten Eingriff in die Freiheit der Lehre und die Ausladung ihrer Kolleg*innen aussprachen, wurde die Lehrveranstaltung tatsächlich abgesagt. Ebenso beunruhigend wie das autoritäre Vorgehen des Rektorats, exekutiert durch die Vizerektorin für Lehre, scheint mir das weitgehende öffentliche Stillschweigen im Umfeld der beteiligten Institute an der Philosophisch-Kulturwissenschaftlichen sowie der Fakultät für Sozialwissenschaften. Vielen schien es, so mein Eindruck, nur um den »Sonderfall Israel/Palästina« zu gehen, zu dem man sich derzeit nicht unbedingt äußern möchte, und nicht um den deutlich sichtbar werdenden grundlegenden Eingriff in die Freiheit von Wissenschaft und Lehre.
Kurze Zeit später ergriffen auch Student*innen der Universität Wien das Wort und formulierten ein Protestschreiben (Statement 2024b), in dem nicht nur das jüngste Geschehen am Institut für Afrikawissenschaften öffentlich kritisiert wurde. Auch die durch das Rektorat verhinderte öffentliche Vortragsreihe „Against the Present: Past and Future Perspectives on Palestine“ (Statement 2023), die Kolleg*innen vom Institut für Kultur- und Sozialanthropologie gemeinsam mit der Central European University (CEU) im vergangenen Wintersemester veranstalten wollten, wurde von den Student*innen aufgegriffen. Dem Institut war die Co-Organisation der mit etablierten internationalen Akademiker*innen besetzten Vortragsreihe und die Nutzung von Räumen der Universität Wien untersagt worden, und die Ankündigung – zeitgleich mit einem allgemeinen Statement zur Lage in Israel/Palästina – ebenfalls über Nacht von der Website genommen.
Die an der Organisation beteiligten Kolleg*innen und nunmehr alleinigen Gastgeber*innen an der CEU staunten nicht schlecht, war ihrer politisch unliebsamen Universität doch erst vor wenigen Jahren von Viktor Orbáns Regierung die Verlängerung der Akkreditierung in Ungarn verweigert worden, weshalb sie heute am Standort Wien tätig sind. Vorgestern Gender Studies und Asylpolitik, gestern Ukraine, heute Palästina. An welchem Thema wird sich die inzwischen eingeübte Kultur des Diskreditierens, Intervenierens und Zensurierens als nächstes manifestieren?
Opportunismus und Repression
Wer sich mit Israel/Palästina beschäftigt, weiß schon lange Bescheid über die Grenzen der Wissenschaftsfreiheit in Zeiten des Krieges. Wenn selbst liberale und linke Stimmen sich als Sprachrohr des ultra-rechten israelischen Kriegskabinetts verstehen und Antisemitismusvorwürfe zur Waffe gegen dissidente Positionen gemacht werden – selbst gegen regierungskritische Israelis und anti-zionistische Juden und Jüdinnen in aller Welt –, wird (nicht nur) Friedensforschung und Friedenspolitik, die diesen Namen verdient, bewusst verunmöglicht. Aber auch wer in den letzten beiden Jahren beobachtet hat, wie selbst auf vermeintlich ergebnisoffenem und differenzierungskompetentem wissenschaftlichem Terrain über den Krieg in der Ukraine gesprochen werden kann, darf und soll, musste ähnliche Phänomene zur Kenntnis nehmen. Die Verengung der Diskursräume sowie die sich selbst an einzelnen Begriffen verdichtenden Sprechverbote und Denkgebote, die sich in immer drastischeren Formen auch im akademischen und universitären Feld in den liberalen Demokratien Deutschland, Österreich und der Schweiz breit machen, sind mehr als nur anlassbezogen beunruhigend.
Je weniger Widerspruch gegen autoritärer werdende (Diskurs-)Politiken wir artikulieren, und je vereinzelter wir uns dabei wähnen, umso wirksamer internalisieren wir die sich verschiebenden Grenzen des (Un-)Sagbaren in unseren Köpfen. Damit werden wir zu Gehilf*innen der vermeintlich alternativlosen Kriegslogik, der spätestens seit der Ausrufung der »Zeitenwende« selbst an Universitäten, Hochschulen und Akademien nicht nur unser Handeln, sondern auch unser Denken und Empfinden untergeordnet werden soll.
Das ebenso freche wie kluge Känguru von Marc-Uwe Kling würde angesichts dieser Entwicklungen wohl von „Opportunismus und Repression“ sprechen (Kling 2009, o. S.) – und sich mit seinen roten Boxhandschuhen an den Kopf greifen.
Anmerkung
1) Danke an Helmut Krieger und die genannten Kolleg*innen für den Austausch zu dieser Thematik.
Literatur
Brunner, C. (2023): Epistemische Gewalt. Die Vernichtung von Wissen. In: Hörsaal – der Wissenschaftspodcast, Deutschlandfunk Nova, 15.12.2023.
Brunner, C. (2020): Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne. Bielefeld: transcript.
Goetschel, L. (im Interview mit Häsler, G.) (2024): Das kommt einem politischen Maulkorb für die Wissenschaft gleich. Neue Zürcher Zeitung, 4.1.2024.
Kling, M.-U. (2009): Die Känguru-Chroniken. Berlin: Ullstein.
Pappé, I. (2011): Wissenschaft als Herrschaftsdienst. Der Kampf und die akademische Freiheit in Israel. Hamburg: Laika.
Statement (2023): Letter in Protest of University of Vienna‘s Cancellation of Events on Palestine and Further Censorship. Online abrufbar unter: is.gd/letter_in_protest_vienna_2023.
Statement (2024a): Statement in Protest of the Removal of the »Palestine in Global Contexts« Lecture Course at the University of Vienna. Online abrufbar unter: afrika.univie.ac.at/ueber-uns/rassismuskritische-ag/proteste.
Statement (2024b): Petition zur Beendigung von Zensuren an der Universität und Wiedereinstellung von Kursen über Palästina in unseren Lehrgängen. Online abrufbar unter: is.gd/petition_lectures_palestine.
Young, R. (2006): Postcolonialism. An Historical Introduction. Malden/Oxford/Carlton: Blackwell.
Claudia Brunner ist Professorin am Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung, Institut für Erziehungswissenschaften und Bildungsforschung, Universität Klagenfurt. Zu Person und Arbeitsschwerpunkten siehe www.epistemicviolence.info.